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werden die steine schreien ...

Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst ...

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S!NED1|art: 1-horn (vorlage aus einem einschlägigen katalog)

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ich saß da heute morgen auf dem klo - und wenn das fenster auf ist, höre ich dabei das rauschen und pumpern auf der "a2", die vielleicht in 2 km entfernung an meiner wohnung vorbeiführt. und das war dann im nachdenk eine treffende metapher für mich - da ist eine parallele - ein "im-nachhinein"-gefühl: 

da hinten - da hinten irgendwo tobt auch das leben: das ist eine parallelwelt - mit benzingestank, tempo, tempoblitzer am abhang des bielefelder berges, der für millionen hier im stadtsäckel sorgt - diese gefährliche "a2", die hier auch gern mal "warschauer allee" genannt wird, wegen der vielen osteuropäischen lkw's, die dort verkehren - und vom zoll auf dem rastplatz überprüft werden auf geschmuggelte zigaretten oder schweinehälften - und die raubvögel die auf den pfählen hocken und auf plattgefahrene kaninchen warten - und die verheerenden auffahrunfälle beim übersehen des stau-endes - mit anschließenden kilometerlangen staus ("da müssen sie mindestens 45 minuten einplanen" - sagt wdr 2) ... 

alles das passiert in sekundenschnelle gleichzeitig - nur ein paar hundert meter von meinem sinnierenden platz auf dem klo entfernt - aber hier steht stabil ein vorrat vom gleich benötigten toilettenpapier bereit, hier kann ich in ruhe den tag planen und versuchen, den gestrigen zu überblicken - und hier weiß ich, dass ich gleich an meinem heißgeliebten pc-schreibtisch platz nehmen werde, um dann diese mehr oder weniger wichtigen zeilen zu schreiben - 

und da hinten auf der (daten-)autobahn tobt auch nur das eine gemeinsame leben - und es quietschen die reifen ... - und trotzdem liegt in all dem auch ein kleiner fetzen gefühl für "heimat" und "zuhause" ... - und kohl hat ja hier auf dem klo besonders recht: es kommt darauf an - was hinten dabei herauskommt --- aber alles zu seiner zeit - ganz in echt ... - S!

die sache mit mutter natur ...

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Menschen sind kein Geschmeiß
Von Hannes Stein | welt.de

Die Erde wäre ohne uns besser dran – so kann man das Weltbild radikaler Ökologen zusammenfassen. Aber diese Ideologie des Antihumanismus ist nicht nur falsch, sondern gefährlich.

Zu den vielen Filmen dieses Jahres, die Sie sich nicht ansehen müssen, gehört „mother!“ von Darren Aronofsky. Javier Bardem und Jennifer Lawrence spielen dort ein Paar, das ein Haus repariert. Beide sind glücklich. Dann tauchen Leute auf, ein Mann und eine Frau, die sich merkwürdig benehmen (Ed Harris und Michelle Pfeiffer); dann erscheinen ihre Söhne, von denen einer den anderen umbringt, und Jennifer Lawrence muss wieder aufräumen.

Die Schönheit der Natur verdient es, genauso gepflegt und erhalten zu werden wie Kunstwerke. Ihr Nutznießer ist der Mensch.
Foto: S!|photography



Sie gebiert ein Kind, Javier Bardem schreibt ein Gedicht. Plötzlich überflutet ein Mob das Haus, reißt das Baby in Stücke und zertrümmert die Möbel. Das Ganze ist eine Allegorie, versteht sich. Bardem ist Gott, Jennifer Lawrence ist Mutter Natur, das Haus ist die Erde, der Mob ist die Menschheit.

Als Kunstwerk ist „mother!“ nicht weiter bemerkenswert, aber der Film steht beispielhaft für eine Geisteshaltung, die sich in Hollywood (erinnern Sie sich noch an „Avatar“?) und nicht nur dort breitgemacht hat. Es ist die Geisteshaltung des Antihumanismus – einer fundamentalen Misanthropie, deren ideologische Wurzel der Ökologismus ist. Ungefähr: Die Menschen sind ein Geschmeiß, die Welt wäre ohne uns besser dran.

Diese Geisteshaltung ist philosophisch widersinnig. Denn: Von welchem Standpunkt aus wird denn da die Menschheit verurteilt? Von einem menschlichen Standpunkt aus kann der Urteilsspruch offenbar nicht erfolgen – Punkt eins der Anklage war ja, dass die Menschheit durch und durch verrottet ist.

Es gibt keine „Mutter Natur“

Also kann sie logischerweise auch keine moralischen Maßstäbe setzen, anhand derer sie zum Tode verdammt werden muss. Wird die Menschheit dann vom göttlichen Standpunkt aus verurteilt? Aber wer weiß eigentlich so genau, was Gott im Einzelnen über die Menschheit denkt? (In der Bibel und im Koran ist eher von einem barmherzigen Gott die Rede, der den Menschen ihre Sünden wieder und wieder vergibt.)

Wird die Menschheit vom Standpunkt der Natur aus gerichtet? Aber „die Natur“ gibt es nicht. „Die Natur“ ist einfach die Summe aller natürlichen Prozesse, sie ist kein Subjekt. Damit „die Natur“ über die Menschheit richten kann, müssen wir sie erst einmal mythologisieren – wir müssen sie zu einer Gottheit machen, zu „Mutter Natur“.

Und Mutter Natur ist grausam. Mutter Natur kennt eigentlich nur ein Recht, das Recht des Stärkeren. (Lesen Sie mal ein Lehrbuch über Evolutionsbiologie!) Jede andere Spezies hätte, wenn sie über die Machtmittel des Menschen verfügen würde, den Planeten längst verwüstet. Was den Menschen vor anderen Tieren auszeichnet: Er kann innehalten, nachdenken, sich korrigieren.

Selbstverständlich ist der Gedanke des Naturschutzes keineswegs abwegig. Er ergibt aber nur dann Sinn, wenn er konsequent vom Standpunkt des Menschen aus gedacht wird; wenn er als Funktion des Menschenschutzes aufgefasst wird – einmal auf direkte, dann aber auch auf indirekte Weise.

Direkt: Es liegt im Interesse des Menschen, dass er keine verpestete Luft einatmet, kein Gift im Wasser oder in der Nahrung zu sich nimmt, nicht radioaktiv verstrahlt wird. Die menschliche Zivilisation braucht eine bestimmte Betriebstemperatur, um zu überleben.

Die menschliche Gattung überlebt allerhand, auch eine Eiszeit – eine hoch entwickelte technologische Zivilisation wie die unsere überlebt eine solche Katastrophe nicht. Also müssen wir Emissionen drosseln, Abgase filtern, nach neuen Methoden suchen, Strom zu erzeugen und zu speichern.

Aber in keinem Fall liegt die Lösung in einem „Zurück zur Natur“. Die Lösungen liegen vielmehr auf dem Gebiet der Technik. Es sind Leistungen von Wissenschaftlern und Ingenieuren gefragt: effizientere Formen der Solarenergie, leistungsfähigere Batterien, Fusionsreaktoren. An alldem wird übrigens längst fleißig gearbeitet.

Die indirekte Form des Naturschutzes hat nicht mit dem Überleben der Menschheit, sondern mit Ästhetik zu tun. So wie wir die „Mona Lisa“ nicht in das vollgequalmte Hinterzimmer einer Kneipe hängen würden, sollten wir die Hänge des Grand Canyon nicht mit Fünf-Sterne-Bettenburgen aus Beton zupflastern.

Nur ein Riss im Felsen

Schönheiten der Natur verdienen es, genauso gepflegt und erhalten zu werden wie Kunstwerke. Darum sind die amerikanischen Nationalparks solch eine wunderbare Idee – und Plänen der Regierung Trump, in Alaska, ausgerechnet dort, nach Öl zu bohren, wo Eisbär und Rentier einander guten Tag sagen, sollte unbedingt widerstanden werden.

Aber auch hier ist der Nutznießer letzten Endes wieder der Mensch. Für sich selber genommen ist der Grand Canyon weder schön noch erhaben, er ist einfach nur ein Riss im Felsen. Erhaben wird er erst durch den Blick des Menschen, der ihn betrachtet.

Die modische Ideologie des Antihumanismus ist nicht nur philosophisch falsch, sie ist auch gefährlich. Denn der Antihumanismus pflegt sich erst einmal gegen Leute zu richten, die anders aussehen oder einer anderen Gesellschaftsklasse angehören als derjenige, der die Natur so schrecklich gern vor der Menschheit schützen möchte. Plötzlich wird das Leben von Elefanten dann wichtiger als das Leben von afrikanischen Babys.

Mörderische Szenarien

Die meisten Antihumanisten glauben an die fünfzehnfach widerlegte malthusianische Ideologie von der Überbevölkerung. Dann wird es ganz schnell mörderisch: Hungerkatastrophen gelten als grausame, aber notwendige Rache der Natur, und der Ebola-Virus verrichtet das Werk des Herrn. Es liegt in der Logik des Antihumanismus, Menschen ihrem Elend zu überlassen und im Übrigen darauf zu hoffen, dass die westliche Zivilisation möglichst bald kollabiert.

Diese Haltung wird mittlerweile in populären Kunstwerken ganz offen gefeiert: Der Held von Dan Browns vorletztem Roman („Inferno“) ist ein Mann, der die Menschheit mit einem künstlich geschaffenen Virus ansteckt, der bei fünfzig Prozent aller Infizierten zu Unfruchtbarkeit führt. Gott (oder wer immer die Hand über uns hält) beschütze uns – wenn die DNA-Forschung weiter Fortschritte macht – vor Öko-Terroristen, die solche Wahnsinnspläne in die Tat umsetzen.

Es gibt keine Überbevölkerung. Die Menschheit wird vielleicht auf zehn Milliarden anwachsen und sich auf diesem Stand einpendeln. Gleichzeitig wird sie immer reicher. Mit zunehmendem Reichtum entwickeln sich auch die Möglichkeiten, pfleglich mit der Natur umzugehen. Nein, Menschen sind kein Geschmeiß. Menschen sind – mit einer schönen Metapher aus der hebräischen Bibel zu sprechen – Gärtner. Bisher waren wir häufig schlechte Gärtner, aber wir haben alle Chancen, gute Gärtner zu werden.

© WeltN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

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tja - ich habe das mal hier im blog eingestellt - um darüber auch philosophisch zu meditieren ... der autor hat ja irgendwie auch recht - und gegen einen inhumanen ökologismus bin ich ja auch - aber irgendwie geht der autor für meine begriffe immer noch zu sehr davon aus, dass der mensch die "krone der schöpfung" sei ...
wenn wir uns alle unserer tierischen ahnen bewusst würden, dass wir menschen auch "nur" eine besondere affen-spezies sind - abhängig vom gesunden individuell funktionierenden mikrobiom, bestehend aus milliarden kleinstlebewesen - und uns einzureihen haben in die "natürliche kette" - und auch nur ein rädchen in der nie endenden evolution sind, die von unserem schöpfer einstmal in gang gesetzt wurde: "niemandes herrn - und niemandes knecht" - keine überflieger und keine unterpflügler ... - aber - sich damit "zu genügen" - das ist so schwer - da sei leider unser "natürlicher" egoismus vor - der auch gern mal über die stränge schlägt ... - S!

Propaganda & Kunst

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aus: wams





PARAPOLITIK

Viele Sowjets hassten Picassos Stalin-Porträt

Die alten Kulturkämpfe sind die neuen: Um freiheitliches Denken zu fördern, hat die CIA lange westlich gesinnte Künstler finanziert. Solche Verhältnisse könnten uns bald wieder bevorstehen.

Text: Felix Stephan | edition.welt.de

Für einen Moment sah es so aus, als würde der Kalte Krieg im Kopf von Pablo Picasso entschieden. Picasso lebte als spanischer Emigrant in Paris und schwankte zwischen den Systemen: An der Sowjetunion gefielen ihm das Zeitgeistige und die Neuerfindung des Menschen. Am Westen gefiel ihm die Freiheit.

Aber weil sich mit Louis Aragon, Camus, Sartre und Joliot-Curie die Pariser Intelligenzija damals eher in den Zirkeln der Kommunistischen Partei Frankreichs versammelte, trat 1944 auch Picasso in die Partei ein, und die USA hatten ein Problem. Die bekanntesten Köpfe der europäischen Kulturwelt neigten in der Nachkriegszeit eher Stalin zu als Truman. Die Sowjetunion war im Begriff, moralisch und intellektuell die Oberhand zu gewinnen.

Drei Jahre später richtete die CIA deshalb in West-Berlin den „Kongress für Kulturelle Freiheit“ aus, den CCF, auf dem freiheitlich gesinnte Intellektuelle über das Denken im Individualismus berieten. Die Sowjetunion hatte die Gerechtigkeit und den Humanismus monopolisiert, den kapitalistischen USA fehlte die Inspirationskraft.

Avantgarde und Freiheit

Die Aufgabe des CCF bestand nun darin, die intellektuelle Öffentlichkeit auf Vorteile die individuellen Freiheit aufmerksam zu machen. Auf der Gästeliste unter anderem: Tennessee Williams, Sebastian Haffner, Dolf Sternberger, Adolf Grimme. Von Paris aus finanzierte der CCF zwei Jahrzehnte lang Zeitschriften, Künstler und Ausstellungen, die Intellekt und Avantgarde mit persönlicher Freiheit verknüpften.

Der CCF veröffentlichte Zeitschriften wie „Der Monat“ oder „The Paris Review“, richtete große Ausstellungen avantgardistischer Malerei in Berlin, Paris, Tokio aus und unterstützte Heinrich Böll und Siegfried Lenz. In den zwei Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wanderte der ästhetische Vorsprung langsam von Ost nach West.

Die Kanonisierung von Jackson Pollock, die Auratisierung der Konsumkultur, die Pop-Art: All das war Ende der Sechziger weitgehend etabliert. Als öffentlich wurde, dass sich hinter dem CCF die CIA verbarg, stand zwar nahezu eine ganze Kunstepoche blamiert da. Eine Generation, die sich selbst als ideologiekritisch verstanden hat, ist selbst für eine der konkurrierenden Weltanschauungen in den Dienst genommen worden. Andererseits konnten zwei Jahrzehnte Kunstgeschichte auch nicht einfach zurückgenommen werden.

Verdeckte Operationen

In Berlin fächert jetzt die umfangreiche Ausstellung „Parapolitik“ diese Geschichte noch einmal auf. Die Ausstellung findet im Haus der Kulturen der Welt statt, eine Konferenzhalle, die die USA 1956 in West-Berlin errichtet haben, so nah vor die Tore Moskaus wie eben möglich, und in der es von Anfang an vor allem um freies Denken und freies Sprechen ging.

Das Haus war damals selbst Teil der amerikanischen Kulturoffensive und unterscheidet sich von den verdeckten Operationen der CIA nur insofern, als es für jedermann sichtbar direkt an die Spree gebaut wurde. Was man gern als Kommentar lesen darf.

Einerseits geht es hier also um die Frage, wie groß der Einfluss der CIA auf die Kunstgeschichte tatsächlich gewesen ist. Schließlich heißt das, was die CIA in den Fünfzigern und Sechzigern heimlich gemacht hat, heute einfach Kulturpolitik und ist nicht nur vollkommen unkontrovers, sondern auch unglaublich langweilig.

Pinochet und Khomenei

Jede Stiftung, jeder Berufsverband vergibt heute Preise und Stipendien an Künstler, ohne deshalb gleich in Verdacht zu geraten, sich der kunsthistorischen Manipulation schuldig zu machen. Und andererseits geht es um die Frage, ob das Geld der CIA in den Taschen von Heinrich Böll und Jackson Pollock nicht vielleicht ohnehin besser aufgehoben ist als in den Sicherheitsapparaten von Pinochet oder Khomenei.

Und drittens wirft die Ausstellung die Frage auf, ob Malerei und Literatur nicht vielleicht ganz probate Instrumente sind, um Kulturkämpfe auszufechten. Eine Frage, die in Deutschland längst wieder hohe Dringlichkeit hat. Schließlich wird der Kulturkampf, der lange als gewonnen abgeheftet war, gerade wieder eröffnet.

Bis vor Kurzem hätte sich in Deutschland noch kaum jemand gefunden, der hätte bestreiten wollen, dass Bücher, Bilder und Gedanken am besten unter den Bedingungen der individuellen Selbstbefragung und Zweckfreiheit entstehen. Seit mit der AfD allerdings wieder eine Partei in die Kulturausschüsse einzieht, die von der Kultur Erbauung und nationale Identifikation erwartet, stehen sich auf deutschem Boden wieder zwei konkurrierende Kulturbegriffe gegenüber.

Genosse Stalin

In gewissem Sinne flammt eine Diskussion wieder auf, die ebenfalls schon einmal am Beispiel Pablo Picassos ausgetragen wurde: Als Stalin 1953 starb, bestellte Louis Aragon, damals Chefredakteur der sozialistischen Zeitung „L’Humanité“, bei Picasso ein Stalin-Porträt. Picasso zeichnete eine rundliches, freundliches Gesicht mit Schnurrbart, das ein wenig aussah wie Super Mario, und Aragon druckte das Porträt auf die Titelseite von „L’Humanité“.

Eine ernste Krise brach am 5. März 1953 aus, als Picasso für Les Lettres françaises  - einer Beilage von L'Humanité - das Porträt von Stalin zeichnete, der gerade gestorben war. Das Ergebnis wurde vom kommunistischen Parteiapparat als respektlos betrachtet ...

... wenn man dieses Foto von
Moses Solomonowitsch 
Nappelbaum aus 1924 betrachtet,
war Picassos Zeichnung "ohne 
Modell" so schlecht nicht ...
Hier betrachtet Picasso 1949 ein Plakat von Stalin - AFP
Es war das erste Porträt, das Picasso von Stalin je gezeichnet hatte, eigentlich ein großer Coup, mit dem „L’Humanité“ alle anderen Zeitungen übertrumpfen wollte. Unter den kommunistischen Lesern löste das Bild allerdings Bestürzung aus. Picassos Porträt, hieß es in den Leserbriefen, erniedrige den Genossen Stalin, der Künstler habe seine Rolle in der sozialistischen Gesellschaft nicht verstanden, und wie man mit diesem Gekrakel die arbeitenden Massen inspirieren solle, solle er, Picasso, bitte auch erst mal erklären.

Auch der russophile Nationalismus der Gegenwart verlangt von der Kunst weniger Form- und Bewusstseinskritik als vielmehr Erbauung und historisierende Identitätspflege. Die AfD fordert in ihrer Kulturpolitik einen stärkeren Fokus auf „das Deutsche“ und meint damit nicht Fatih Akin. Trump hängt in seine Arbeitsräume am liebsten idealisierte Porträts von sich selbst. Wladimir Putin profiliert sich als Gegner der Punkband Pussy Riot. Die polnische Regierung verbietet Theaterstücke von Elfriede Jelinek.


Prozesse und Sanktionen

Einerseits scheint die Ausgangslage also ganz ähnlich zu sein wie in den Vierzigern: Es scheint nach wie vor Kunst zu geben, die wegen ihrer Lautstärke, ihrer Vulgarität, ihrer Unzugänglichkeit in der Lage ist, traditionalistische Politiker zu erschrecken. Andererseits liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei diesen ästhetischen Grenzziehungen eher um rechte Folklore handelt.

Wenn einem Autokraten heute an der Widerspenstigen Zähmung gelegen ist, muss er die Kunst heute nicht mehr unbedingt aufwendig zensieren, was immer auch öffentliche Kritik, Prozesse, Sanktionierungen mit sich bringt. Am Ende kommt es ihn vielleicht billiger, wenn er sie einfach kauft.

In den USA zum Beispiel verfügen die Regierungsberater Jared Kushner und Ivanka Trump über eine 25-Millionen-Dollar schwere Kunstsammlung, die überwiegend aus rebellischer amerikanischer Malerei im Geiste genau jenes Abstrakten Expressionismus besteht, den die CIA in der Nachkriegszeit gegen die Sowjetunion gerichtet hat: Dan Colen, Alex Israel, Nate Lowman. Die Trumps zeigen sich gern in Gegenwart dieser Kunstwerke, als läge darin eine Art Absolution.

Nur der Handelswert

Als Ivanka Trump allerdings einmal auf ihrem Instagram-Kanal ein Bild veröffentlichte, auf dem sie neben einem Gemälde von Alex da Corte posierte, antwortete der Künstler in den Kommentaren und forderte Ivanka Trump auf, seine Bilder abzuhängen. Es sei ihm peinlich, mit ihr gesehen zu werden. Der Künstler Richard Prince hat kurz darauf abgestritten, dass die Richard-Prince-Werke in der Sammlung Trump von ihm stammten, um sie auf diese Weise zu entwerten.

Worin sich für jene, die Kunst gern für ein autarkes Bezugssystem halten möchten, das die profane Wirklichkeit mit alternativen Wertvorstellungen herausfordert, vermutlich die bitterste Lektion verbirgt: Das subversive Potenzial amerikanischer Gegenwartskunst beschränkt sich auf ihren Handelswert. Kulturkämpfe, in denen es um die Herzen zwischen den Systemen schwankender Europäer geht, gewinnt man damit eher nicht.

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künstler müssen ja auch zu lebzeiten geld verdienen - und da bleibt oft nur die annahme von simplen nicht immer unverdächtigen auftragsarbeiten - oder auch das einschicken von skizzen und bildmaterialien an die redaktionen und (kunst)verlage in der hoffnung, ein honorar zu erhalten, wenn das werk "genommen" und veröffentlicht wird ...
aus einem gespräch des alten martin walser mit seinem sohn jakob augstein las ich heute, dass martin walser seine leibliche mutter keineswegs als "nationalsozialistin" wahrgenommen sehen möchte: sie sei in die nsdap eingetreten, weil sie die gaststätte zu führen gehabt hätte - es sei ihr in erster linie "ums geschäft" gegangen ...
so ähnlich muss man wohl das stalin-porträt auch sehen: picasso brauchte geld - und da war es ihm wahrscheinlich mit der ideologie nicht so weit her ...
ähnliches meint man ja auch von emil nolde zu wissen: der schickte an goebbels einen bittbrief, doch seinen beruf wieder frei und ungezwungen ausüben zu können - denn er bekam wegen seines expressionistischen malstils berufsverbot - versicherte aber der ns-partei "eigentlich" durchaus loyalität ... 
und auch bei vater gurlitt muss man ja die "krämerseele" als kunsthändler wahrnehmen bei allen "geschäften" mit dem regime ...
und den slogan "friss oder stirb" machten sich die propagandaabteilungen der geheimdienste durchaus zu eigen ... -S!

De skat fan ús taal

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DIALEKTE

De skat fan ús taal - Der Schatz unserer Sprache

Unsere Standardsprache ist ein blasser Nachkomme der uralten Dialekte. Schriftsteller haben deshalb immer Dialektwörter in die Literatur gehoben. Diese Vielfalt ist ein Schatz. Sie geht verloren.

Von Matthias Heine | edition.welt

st das Verschwinden der deutschen Dialekte ein letzter heimlicher Triumph des Sozialismus? Auf diese Verschwörungstheorie könnte kommen, wer die „Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache“ liest, die 1983 in der DDR veröffentlicht wurde. In dem von den hochrangigen ostdeutschen Linguisten Joachim Schild und Wolfgang Fleischer herausgegebenen Standardwerk wird die Überwindung der alten Mundarten quasi als Plansoll verkündet, das im Arbeiter- und Bauernstaat schon fast erfüllt sei: „Allerdings scheint der Dialektgebrauch in der BRD langsamer zurückzugehen als in der DDR; das hat seine Ursache vermutlich in der Beibehaltung der für kapitalistische Verhältnisse typischen sozioökonomischen Struktur sowie im Fehlen eines einheitlichen und von Beschränkungen freien Bildungssystems.“

Die LPGs und der Dialekt

Was mit der „sozioökonomischen Struktur“ gemeint war, die im Westen für ein Fortdauern der Dialekte sorgte, ahnt man, wenn man zu Beginn des Kapitels in der „Kleinen Enzyklopädie“ liest: „Dialekte entsprachen den Kommunikationsbedürfnissen der an Grund und Boden gebundenen bäuerlichen Bevölkerung unter feudalen Bedingungen“. Der Rückgang der Mundart in der DDR wird also mit dem Verschwinden kleinräumiger Produktionsverhältnisse nach der Bodenreform erklärt. Der selbstständige Hofbauer und der kleine private Handwerker befriedigten demnach ihr „Kommunikationsbedürfnis“ mit dem Dialekt, der LPG-Genosse, PGH-Handwerker und der Kombinatsproletarier nicht mehr.

Für diese Theorie spricht, dass der echte Dialekt ausgerechnet in jenen Gebieten Ostdeutschlands heute nahezu komplett verschwunden ist, wo die größten landwirtschaftlichen Betriebe existierten und existieren: Im Norden, in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Eine Untersuchung im Auftrag der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften ergab, dass von zehn repräsentativen deutschen Mittelstädten im mecklenburgischen Parchim die wenigsten Menschen noch aktiv den traditionellen Dialekt beherrschen. Und schon 1983 konstatierten die DDR-Linguisten: „In der DDR wird in bestimmten Gebieten Thüringens oder des Erzgebirges viel stärker an dialektnahen Sprachformen festgehalten als im Norden, im Brandenburgisch-Märkischen oder ehemaligen Anhaltinischen.“

Gegen die Hypothese vom Zusammenhang zwischen industrieller Landwirtschaft und dem Rückgang der Mundart spricht wiederum, dass im Westen ausgerechnet Ostfriesland hartnäckig dem Dialektsterben trotzt. Hier beherrschen auch viele jüngere Menschen die Mundart noch so zahlreich wie sonst nur in Bayern und im alemannischen Raum. Aber das Gebiet an der holländischen Grenze ist gerade die Gegend in der alten Bundesrepublik mit der höchsten Dichte landwirtschaftlicher Großbetriebe.

Es muss also doch verschiedene Ursachen für das Dialektsterben geben, das die Wissenschaftler unter Leitung des Marburger Professors Erich Schmidt bei ihrer Zehn-Städte-Untersuchung festgestellt haben und über das sie im zweiten „Bericht zur Lage der deutschen Sprache“ (Stauffenburg-Verlag, 29,95 Euro) berichten. Die lange Abwertung des Dialekts als Sprache der Ungebildeten, die noch in der zitierten DDR-Enzyklopädie anklingt, gehört sicher dazu. Ein weiterer Grund ist, dass seit der Einführung von Radio und Fernsehen erstmals in der Geschichte unserer Muttersprache schon Kinder in der Lage sind, genormtes Hochdeutsch sprechende Menschen zu hören und sich nach ihnen zu richten. Bis vor 100 Jahren hatten sie diese Möglichkeit nicht, weil einfach jeder Deutsche seinen Dialekt oder zumindest eine dialektnahe regionale Umgangsprache sprach.

Was auch immer die Hintergründe des Dialektsterbens sind – es kann uns eigentlich nicht egal sein. Als die WELT zum ersten Mal über den dramatischen Schwund der uralten Mundarten berichtete, taten manche Leser das mit einem desinteressierten oder gar höhnischen Schulterzucken ab. Bei ihnen gelten Dialekte nach einer endlosen Zeit antimundartlicher Bildungspropaganda nur noch als schlechtes Deutsch, also falsch ausgesprochene Varianten des Hochdeutschen im Munde von retardierten Hinterwäldlern.


Das ist aber grundfalsch. In Wirklichkeit sind die Dialekte eigene Sprachen mit eigenen lautlichen und grammatischen Gesetzmäßigkeiten und eigenem Wortschatz. Sie sind viel älter als unser Hochdeutsch, das erst etwa 500 Jahre lang existiert. Auch wenn man schon seit 800 n. Chr. von Althochdeutsch spricht und die Epoche von 1050 bis 1350 als Mittelhochdeutsch bezeichnet, gab es damals keine überregionale Standardsprache, sondern nur Dialekte. Ein in der ganzen Nation halbwegs verbindliches Deutsch ist erst nach der Erfindung des Buchdrucks entstanden. Luthers Bibel war dafür ein wichtiger Beschleuniger.

die folgende karte stammt von hier: http://klangschreiber.de/files/2010/07/mundart-regionen.jpg

Jo moatte op drukke


Wie Mundartwörter das Standarddeutsch bereichern

Das Neuhochdeutsch ist aus einem Dialekt entstanden. Luther legte seiner Bibelübersetzung das Ostmitteldeutsche zugrunde, nicht nur weil es die Sprache seines Sachsens war, sondern weil er dieser Mundart, die genau an der Grenze zwischen dem südlichen oberdeutschen und dem nördlich niederdeutschen Raum entstanden war, am ehesten zutraute, überall verstanden zu werden.

Jedes deutsche Wort war also ursprünglich ein Dialektwort. Und unser Hochdeutsch ist ein Dialektgemisch. Denn sein ostmittelhochdeutscher Kern ist immer wieder um Wörter aus anderen Mundarten bereichert worden. Das fängt schon bei Luther an, der sich entschied, in seiner Bibelsprache niederdeutschen Wörtern wie Lippe, Träne oder Ziege den Vorzug vor den oberdeutschen Formen Lefze, Zähre oder Geiß zu geben.

Und es geht immer weiter. Heute ganz hochsprachliche Wörter wie Grenze (aus altpolnisch granica) oder Horde (aus tatarisch ordo) waren ursprünglich Mundartwörter in ostdeutschen Dialekten. Die Schriftsteller haben immer wieder Mundartwörter literaturfähig gemacht: Das Schweizerische hat uns den Putsch beschert, mit tatkräftiger Hilfe Gottfried Kellers. Fontane und Tucholsky hievten das berlinische blümerant in den überregionalen Standard.

Und erst im 20. Jahrhundert sind Schlawiner aus der Münchner Stadtsprache und hinterfotzig aus dem Bayerischen in die allgemeine Hochsprache eingewandert. Wie schnell ein Wort dann seinen mundartlichen Beiklang verlieren kann, zeigt sich deutlich am heute gesamtdeutsch verbreiteten Abschiedsgruß tschüs, der noch bis 1950 weitgehend auf den niederdeutschen Sprachraum beschränkt war und dort ursprünglich mundartlich atschüs lautete.

Die Horde kam aus dem Osten

All diese Wörter haben den Synonymreichtum des Hochdeutschen gemehrt oder sie haben Benennungslücken geschlossen. Sie haben der Tendenz der Schriftsprache zum Verblassen entgegengewirkt. Und sie sind Erinnerungsspeicher, aus denen der Verständige Geschichte zu lesen versteht. Horde ist dafür ein schönes Beispiel. Es erzählt von den Zeiten, in denen Tatarenüberfälle in manchen Gebieten Deutschlands noch eine ganz reale Bedrohung waren. Noch im 17. Jahrhundert wurden durch die mordenden und Sklaven jagenden Reiter ganze Landstriche Ostpreußens entvölkert.

Der Dialekt Ostpreußens hat das damals überlebt. Den Garaus gemacht hat ihm erst die Vertreibung im 20. Jahrhundert. Er gehört wie das Sudetendeutsch zu den Dialekten, die schon jetzt verschwunden sind. Nur wenige alte Menschen verstehen sie noch, und keiner spricht mehr so. Wenn diese letzten Sprachzeugen verstummt sind, wird beispielsweise kein Mensch mehr wissen, dass bei den Deutschen Böhmens und Mährens „geil“ auch „übertrieben süß“ bedeuten konnte.

Vielfalt

Längst ist die linguistische Erkenntnis, dass mit jeder Sprache ein Stück kulturelles Gedächtnis der Menschheit stirbt, Allgemeingut geworden. Merkwürdigerweise rührt es uns aber mehr, wenn wir lesen, dass der letzte Sprecher einer indigenen Sprache im Amazonasgebiet dahingegangen ist, als wenn wir hören, dass das Saterfriesische bedroht ist. Das Nahe erscheint uns weniger teuer als das Ferne, weil wir es eben nur für falsch halten und seinen Eigenwert nicht erkennen.

Menschen, die den Wert von Biodiversität in der Natur und der Landwirtschaft begriffen haben, sollten aber leicht einsehen, wie kostbar der linguistische Schatz der Dialekte ist. „Vielfalt“ ist doch ein Leitwort des liberalen Bürgertums. In der Sprache ist Vielfalt tatsächlich mal reine Bereicherung, ohne Bedrohung. Gerade, weil so viele nur noch die Standardsprache sprechen, gilt es das uralte nicht Genormte zu hegen. Wenn alle nur noch das gereinigte Deutsch der Nachrichtensprecher nachreden, nützt es nichts mehr, dem Volk aufs Maul zu schauen.

© WeltN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten

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"so reden - wie einem der schnabel gewachsen ist" ... - das ist hier in der gegend so ein "sprich-wort": wer es ehrlich meint - oder neudeutsch: "authentisch" - der spricht nicht in "political-correctness-druckreif-sprech - der legt das wort nicht erst auf die goldwaage - sondern der sagt "frei schnauze", was ihm "unter den nägeln brennt" ... - meist ist es die sprache - der dialekt - seines heimatortes, seiner eltern - meist klar und deutlich - mit ansage ! ... das meinte luther mit "dem volk auf's maul schauen" ...

oft haben sich menschen aus dem pütt mühsam das andauernde oft fragende bekräftigungs-"woll" versucht abzugewöhnen - um endlich ganz vornehm "hoch"-deutsch zu sprechen - und um eine andere gesellschaft-klassenzugehörigkeit vorzugaukeln ... - oder bei mir z.b. erkennt man sicherlich am "jau" statt "ja", das meine sippe mütterlicherseits westfälisch-platt "köierte" ...

leider habe ich das heimat-platt meiner mutter hier aus der senne nicht mehr fließend "drauf" ... - ich kann es aber noch verstehen ... - allerdings gehen hier die sprachgrenzen oft nur bis zum nächsten bach: z.b. südlich des von hannes wader besungenen "johannisbaches" in bielefeld mähte man den "roggen" - und nördlich davon "meihte" man "robben" - oder war es umgekehrt ... ??? 

hatte aber wohl mit dem holländischen bayern-fußballspieler weniger zu tun - aber vielleicht gibt es eine verwandtschaft des getreide-namens mit der etymologie des aus dem niederländisch-friesischen platt entstandenen familiennnamens ...

ja - und leider beansprucht ja auch die afd die "einfache-klare-deutsche" sprache für sich und krakeelt auch gegen "political correctness" - so ganz im trump-schen twitter-sinn ... und gegen die "lügenpresse", deren hochsprache sie nicht gewachsen ist - eben weil die welt viel komplizierter ist als die afd sich das ausmalt ...

aber das muss von dem hier gemeinten allgemeinen kulturellen anliegen, lokale und regionale dialekte sorgsam zu erhalten, ganz deutlich unterschieden werden ...

und meine tante frieda sagte immer: "ich spreche drei sprachen: hochdeutsch - plattdeutsch - und über 'annere lüüd'" ... - S!

graffiti fly in flagranti

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S!NEDi|art: graffiti fly in flagranti

welcome

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© 2017 Neue Westfälische, Mittwoch 29. November 2017 

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Dazu passend eine Pressemitteilung von  heute:

Ökolandwirtschaft in NRW

  • In NRW erzeugen, verarbeiten und handeln 3.867 Unternehmen Ökolebensmittel. Davon sind 1.978 Landwirtschafts- und Gartenbaubetriebe. 
  • Das entspricht im Vergleich zum Vorjahr einem Zuwachs von 8,5 Prozent bei den Ökobetrieben und einem Zuwachs von 12,5 Prozent bei der Ökofläche. 
  • Der Anteil der Ökolandwirtschaft an der gesamten Landwirtschaft beträgt rund 6,2 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe. 
  • Der Umsatz mit Ökolebensmitteln betrug 2016 in NRW schätzungsweise 1,8 Milliarden Euro.


© 2017 Neue Westfälische

Reale Graphic-Novel

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Der Horror in Schwarz-Weiß


Graphic Novel: Beruflich zeichnet Fred Dewilde medizinische Illustrationen. Nachdem er das Massaker im Bataclan-Theater überlebt hatte, zeichnete er über dieses Erlebnis ein berührendes Werk

Von Benedikt Schülter | nw





Keine Gnade: Die Terroristen stellt der Autor als Skelette dar. Sie haben nichts mehr Menschliches an sich. Die Opfer des Anschlages sind dagegen als Menschen erkennbar. Illustraton: Panini Comics

"Mitten im Blut eines Toten habe ich gelegen. Mitten unter den zerfetzten Körpern war ich geschützt. Mitten unter den zerstörten Leben habe ich gedacht, dass ich mitten im Entsetzen und im Wahnsinn noch einmal die Chance bekommen habe, euch zu lieben."


Es sind die Worte von Fred Dewilde. Er überlebte den Anschlag in der Konzerthalle des Bataclan-Theaters in Paris. Der Autor der Graphic Novel "Bataclan - Wie ich überlebte", war mitten drin, als am 13. November 2015 IS-Terroristen ein Konzert der Band Eagles of Death Metal stürmten, Handgranaten warfen, mit Kalaschnikows in die Zuschauermenge feuerten und sich anschließend mit Geiseln verbarrikadierten. 90 Menschen verloren ihr Leben. Es gab viele Verletzte. Über zwei Stunden dauerte der Horror.

Für die Leser seiner Graphic Novel schuf Fred Dewilde einen gezeichneten Augenzeugenbericht, der, durchweg in Schwarz-Weiß gehalten, den gesamten Schrecken eindringlich wiedergibt, ohne dabei zu explizit zu werden. Details werden ausgespart.

Die Terroristen sind entmenschlichte Gestalten mit Totenschädeln

Auf übertriebene Gewaltdarstellungen wird verzichtet. Gerade dieser schlichte Zeichenstil - der Autor ist Grafiker und spezialisiert auf medizinische Illustrationen - unterstreicht umso mehr den Horror. Die Beklemmung. Die Angst.

Die Terroristen stellt Dewilde als entmenschlichte Gestalten mit Totenschädeln dar - Skelette. Die Toten als formlose Masse. Zwischen all den Leichen, so beschreibt er es im Buch, habe er mit einer weiteren Überlebenden, der schwer verletzten Élisa, einen "Kokon der Menschlichkeit" geschaffen, um sich von dem Wahnsinn um ihn herum abzuspalten. Diesem Stück Menschlichkeit inmitten der Unmenschlichkeit verdanke er sein Überleben, sagt er.

Letztlich war es aber reiner Zufall, dass er nicht auch erschossen wurde. Die Frage nach dem Wieso und warum ausgerechnet er überlebt hat, macht ihm bis heute zu schaffen.

Dewildes Buch ist keine typische Graphic Novel. Noch nicht einmal die Hälfte der 48 Seiten besteht aus Zeichnungen. Im restlichen Teil beschreibt der Autor sehr detailliert seine Gefühls- und Gedankenwelt, wie er nach dem Attentat mit dem Erlebten umgeht und versucht, zurück ins Leben zu finden. Das ist eindrucksvoll und berührend zugleich.

Es rückt die Terror-Opfer in den Fokus: Menschen die brutal aus dem Leben gerissen wurden. Die Terroristen-Skelette sind bereits vor ihrem Sterben tot.

Auch wenn das Buch sicherlich keine einfache Kost ist, gelingt es dem Autor auf packende Weise, eine Beschreibung seiner Gedanken zu präsentieren.

Die dunklen, aber auch die hellen Momente beschreibt er und schließt mit einem hoffnungsvollen Appell: "Am 13. November 2015 habe ich genug Tote gesehen. Genug Blut, genug zerrissene, verstümmelte, explodierte Körper. Genug Tränen, genug Angst - genug für mehrere Leben. Ich habe gesehen, was der Hass anrichtet. Deshalb bitte ich euch: Lass uns einmal wenigstens schlauer sein . . . lasst uns dieses Leben wählen."

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Fred Dewilde:
"Bataclan - Wie ich überlebte", 
48 Seiten, Panini Comics, 17,50 Euro.







© 2017 Neue Westfälische
03 - Bielefeld Süd, Mittwoch 29. November 2017


und click here


ich kann die schwerkraft meines alters nicht entdecken

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Karriere mit 100

Trend: Auf dem Kunstmarkt und Großausstellungen feiern hochbetagte Künstler derzeit international Erfolge.

Carmen Herrera zeigt 70 Werke aus 70 Arbeitsjahren in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf

Von Dorothea Hülsmeier | nw


Carmen Herrera ist 102 - und die kubanisch-amerikanische Künstlerin startet jetzt richtig durch. Das Whitney Museum in New York widmete der hochbetagten Herrera, die zu den Pionieren des abstrakten Expressionismus in den USA zählte, unlängst eine Ausstellung. Ab Samstag ist die Schau auch in Düsseldorf in der Kunstsammlung NRW zu sehen - erweitert unter anderem durch eine abstrakte Grün-Blau-Komposition, die Herrera gerade erst fertiggestellt hat. 

Herrera dürfte eine der ältesten noch aktiven renommierten Künstler sein. Sie ist aber längst nicht die einzige Künstler-Seniorin auf Erfolgskurs. Auf der Documenta und der Biennale Venedig wurde die Rumänin Geta Bratescu gefeiert - sie ist 91.

Der deutsche Konzeptkünstler Franz Erhard Walther ist dagegen mit 78 Jahren noch geradezu jung. Auf der Biennale wurde er mit dem Goldenen Löwen als bester Künstler ausgezeichnet - für seine "radikalen" Arbeiten.

Und in Siegen ist derzeit die erste Retrospektive der Fluxus- und Performance-Künstlerin Takako Saito zu sehen. Sie ist 88 und hat im Museum für Gegenwartskunst zwölf Räume mit mehr als 200 Arbeiten selber eingerichtet.

Geta Brătescu: Self-portrait with Bird, 1988, drawing, 29.5 x 42 cm




Hinter dem Erfolg der Kunstsenioren stecken auch Marktinteressen 

Senioren prägen den aktuellen künstlerischen Diskurs entscheidend mit. Bei Herrera und Bratescu kommt hinzu, dass sie als Frauen Jahrzehnte von Kunstgeschichte und Markt ignoriert wurden. Herrera verkaufte ihr erstes Bild mit 89 Jahren. Dabei war sie mit ihren abstrakt-geometrischen Kompositionen in knalligen Farben nicht weniger avantgardistisch als ihre Kollegen Josef Albers oder Piet Mondrian, mit denen sie schon nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen ausstellte.

"Museen und Institutionen versuchen, einen neuen Blick auf die Kunstgeschichte zu werfen", sagt Katia Baudin, Direktorin der Krefelder Kunstmuseen, die sich mit Herrera und Walther beschäftigt hat. In den letzten Jahren rückten vor allem Künstlerinnen stärker in den Fokus. "Man will zeigen, dass sie die gleiche Qualität hatten und in denselben Netzwerken wie Männer waren."

Warum aber haben gerade alte Künstler derzeit so großen Erfolg? "Die alten Künstler stellen auch aus heutiger Sicht Fragen, die wieder aktuell sind", sagt Baudin. "Ein Künstler zu sein, ist ja auch kein Nine-to-five-Job, bei dem man mit 65 in Rente geht. Das ist ja ein Leben."

Carmen Herrera: Red & Blue, 1993.



Wenig beachtet wurde auch Franz Walther, der immer seiner Heimat Fulda treu geblieben ist. Dieses Jahr wurde er zum ersten Mal zur Biennale nach Venedig eingeladen - und räumte gleich den Löwen ab. "Er ist ein ,Künstler-Künstler?, dessen Werk unbestritten ist", sagt die Düsseldorfer Professorin für Kunstgeschichte, Ulli Seegers. Viele jüngere Künstler sähen in Walther ein Vorbild. Jonathan Meese und Martin Kippenberger waren seine Schüler. Die Qualität und das ausgereifte Werk älterer Künstler seien ja jetzt sogar beim berühmten britischen Turner-Prize angekommen: Auch Künstler über 50 dürfen neuerdings nominiert werden.

Der Berliner Galerist Juerg Judin sieht hinter dem Erfolg der Kunstsenioren allerdings auch schnöde Marktinteressen. "Die Anschubkraft hinter der Wiederentdeckung eines Künstlers ist der Kunstmarkt, nicht ein Museum", sagt er. So sei auch Carmen Herrera vor einigen Jahren "gezielt neu aufgestellt" worden.

Die meisten spektakulären Wiederentdeckungen auf dem Kunstmarkt der vergangenen Jahre seien auf den Kunstmarkt zurückzuführen, meint Judin. Die Galeristen hätten erkannt, dass die Neuauflage eines Künstlers einfacher und weniger risikoreich sei als einen jungen Künstler neu zu lancieren. Die wiederentdeckten Künstler hätten bereits "einen Wert und ihren Platz in der Kunstgeschichte". Es gehe nur noch darum, "sie zum Glänzen zu bringen". Dass sich Wiederentdeckungen so häuften, liege auch daran, "dass wir einen sehr großen Kunstmarkt und wachsenden Absatzmarkt haben".

Geta Bratescu musste 90 werden, bis sie international wahrgenommen wurde. Ihre Wohnung in Bukarest verlässt sie kaum noch. Seit mehr als einem halben Jahrhundert produziert sie dort unaufhörlich Kunst. Ideen gehen ihr nie aus. "Ich kann die Schwerkraft meines Alters nicht entdecken", sagte sie einmal.

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Die Schau "Carmen Herrera - Lines of Sight" ist von Samstag bis 8. April in der Kunstsammlung NRW, Grabbeplatz 5, in Düsseldorf zu sehen. Geöffnet mi. 13-13.30 Uhr, do. 16.30-17.30 Uhr; so./feiertags 15-16 Uhr. 

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Das Geheimnis der Alterskreativität 
Warum Menschen auch im hohen Alter noch kreativ sind, erklärt der Heidelberger Gerontologe Andreas Kruse, der auch ein Buch über Johann Sebastian Bach geschrieben hat:
  • Die Künstler haben im Laufe ihres Lebens hochdifferenzierte und leicht abrufbare Wissens- und Handlungssysteme entwickelt. Sie wissen unglaublich viel. 
  • Fleiß: Sie arbeiten immer wieder an den Themen und versuchen auch immer wieder, in ein neues Thema einzudringen.
  • Kreativitätsgeschichte: Sie müssen schon früh in ihrer Biografie begonnen haben, sich mit bestimmten künstlerischen Bereichen auseinanderzusetzen, darin auch quer zu denken und etwas Neues zu entwickeln. 
  • Motivation: Sie wollen ihre Kreativitätsgeschichte in gewisser Weise abrunden. Und an dieser arbeiten sie wie an einer Skulptur. 
  • Persönliches Altersempfinden: Sie fühlen ihr hohes Alter als eine Phase künstlerischer Vollendung.
  • Nachwelt: Die Künstler wollen im hohen Lebensalter etwas an die Nachwelt weitergeben und symbolisch in den nachfolgenden Generationen weiterleben. 


© 2017 Neue Westfälische | Donnerstag 30. November 2017

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beuys soll einmal ausgerufen haben: "jeder mensch ist ein künstler" - und wollte damit seinen "erweiterten kunstbegriff" einführen: nämlich sich zu lösen von alten maßstäben, was "schön" sei - den persönlichen "schönheitsbegriff" zu erweitern und zu ergänzen - auch mit "unschönen" sachen: das berühmte monumentalwerk von picasso "guernica" ist ja nun mal nicht im gängigen sinne "schön" - und soll es ja auch gar nicht sein: als ein mahnmal gegen krieg & gewalt ...

nach beuys sollte kunst das alltägliche leben des menschen bereichern und verändern - und den menschen auch "ein-stück-weit" erziehen ... - so wie es vielleicht bei der kleinen schwester der kunst, dem "design" schon längst passiert ...

"kunst" ist also eine sehr eigen-"art"ige sache: es kommt auf die persönliche gestimmtheit im hier & jetzt an, auf den zeitgeist, den marktwert, auf lichtverhältnisse, auf sehnsüchte, auf musisches und mystisches verstehen, auf archetyp-deutungen - und auf "was hat das jetzt im moment mit mir zu tun ??? " - das gilt für das kunstschaffen sowie für die kunstbetrachtung und -einordnung ...

auch der "junge" gurlitt beteuerte bis zu seinem ende, dass er sich von seinen "schätzen" nicht trennen wolle - und er verkaufte nur einzelstücke, um zu überleben ... und die herkunft und provenienz seiner vielen hundert werke, geerbt vom vater, interessierte ihn kaum ...

das alles zeigt, dass kunst im altwerden der einzelnen menschen und im altwerden der erde zeitlos gleichmäßig strahlend bleibt, sich erhält und sich befeuert: die höhlenkunst von altamira sowie das letzte etwas hingeschmierte bild von jonathan meese etwa zeigen diese zeitlosigkeit und alterslosigkeit - und auch die 450 millionen für den pseudo-leonardo "salvator mundi" sind dafür beweis ... es ist deshalb egal ob ein künstler 5 jahre alt ist oder 105 - die kunst steht erhaben triumphierend darüber ... S!


gold & silber lieb ich sehr ...

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nach: Thüringer Allgemeine

Onkel Dagobert hat Geburtstag

Entenhausen: Der Fantastilliardär mit Zylinder, Schnabel und Geldspeicher ist weltweites Symbol für Geld, Gier und Geiz - und bleibt es selbst in Zeiten von Bitcoin und Co.

Von Christina Peters | nw


Berlin. Den Hechtsprung in die goldenen Wogen beherrscht der Rentner wie eh und je. "Leute, die Geld ausgeben, verstehen nichts von den wahren Freuden eines Kapitalisten", strahlt Dagobert Duck und krault - "schnorch! schnurch!" - im Comic durch sein Meer aus Münzen.


Dass er die reichste Ente der Welt ist, weiß nicht nur jedes Kind. Der knausrige Fantastilliardär aus Entenhausen muss oft als Symbol herhalten, wenn es um Geld, Gier und Geiz geht - und das nun schon seit 70 Jahren.

Dabei hat sich die Welt gehörig verändert, seit Donalds reicher Onkel das Licht der Welt erblickte. Weihnachten 1947 tauchte Scrooge McDuck, wie er in den USA heißt, erstmals in einer Entenhausen-Geschichte von Zeichnerlegende Carl Barks auf. Benannt nach dem Geizhals Scrooge aus der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens saß er da noch einsam im Ohrensessel seiner Fabrikantenvilla und schimpfte: "Grauenhaftes Fest!"

80 Jahre alt sei der greise Schotte schon damals gewesen, errechnete Barks-Nachfolger Don Rosa in der Biografie "Onkel Dagobert - Sein Leben, seine Milliarden" - Geburtsjahr: 1867, vor 150 Jahren. Seine erste Million im Goldrausch Nordamerikas: 1899. Seit den frühen Comics wurde Dagobert zwar immer jünger und fitter. Die Falten auf dem Schnabel verschwanden, der Backenbart war weniger zerzaust.

Doch auch modisch, mit Zylinder, Gehrock, Spazierstock, Zwicker und Gamaschen, blieb Dagobert eine Ente seiner Zeit. Die Milliardäre von heute tragen dagegen schon lange keine Zylinder mehr. Wer heute Geld hortet, lässt es sich in Briefkastenfirmen auf karibischen Inseln vermehren oder investiert in digitale Kryptowährungen wie Bitcoin.

"Natürlich wirkt ein Dagobert Duck bisweilen ein bisschen wie "aus der Zeit geraten"", sagt Peter Höpfner, Chefredakteur beim Verlag Egmont Ehapa. Schon allein beim Arbeitsethos etwa: Dagobert ist stolz darauf, wie hart er sich sein Vermögen (eine Schätzung: 5 Fantastilliarden, 9 Trillionen Taler und 16 Kreuzer) erarbeitet hat.
Vom ersten Glückstaler, verdient als Schuhputzer, stieg er zum Großbankier, Großindustriellen und Großhändler auf. Auch die ein oder andere Schatzsuche trug Früchte.

Trotzdem ist der Knauser auch im 21. Jahrhundert immer wieder Sinnbild, wenn es um Reichtum geht - in der Bankenkrise etwa oder Steuerpolitik. Auch für politische Parabeln wird der Erpel gerne mal bemüht. "Der Punkt ist: Man kann nicht zu gierig sein!", ließ US-Polit-Satiriker Stephen Colbert jüngst Dagoberts Synchronsprecher vorlesen. "Teil meiner Schönheit ist, dass ich sehr reich bin." Die Zitate in Entenstimme stammten von US-Präsident Donald Trump.

Aber der Erpel wird auch geliebt: "Dagobert ist quasi jemand, mit dem wir uns ein bisschen identifizieren können, weil er so viel Erfolg hat, weil er aber auch für die echten Tugenden steht", meint Höpfner.

Die fantastisch reiche Ente habe Vorbildfunktion: "Es ist seiner harten Hände Arbeit, mit denen er das geschaffen hat." Außerdem sorge sich der Erpel um seine Familie und habe unter seinem Gehrock das Herz am rechten Fleck. Ente gut, alles gut.

Mit seinem Riecher für Geld könnte sich Dagobert Duck denn auch in der digitalen Wirtschaft behaupten - trotz Zylinder. "Als Großunternehmer mit untrüglichem Geschäftssinn investiert er natürlich in moderne Technik und System - und würde sich so auch in Bitcoins seinen Speicher füllen", meint Höpfner. "Auch, wenn man darin leider nicht baden kann."

Neuerscheinungen

  • Anlässlich des 70. Geburtstags gibt Ehapa heute eine "Micky Maus Spezial"-Sonderausgabe zu Dagobert Duck sowie die "Micky Maus Edition 5 - Abenteuer von Dagobert Duck" im Großformat mit Geschichten rund um den Glückstaler heraus.
  • Am 5. Dezember erscheint das "Lustige Taschenbuch 501 - Gold und Silber lieb ich sehr"



nach: Tagesspiegel

Text: © 2017 Neue Westfälische, Freitag 01. Dezember 2017

der große schwund

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Diese Entwicklung stellt die EU-Agrarpolitik und die konventionelle Landwirtschaft infrage

Von Markus Dobstadt | Publik-Forum

Die Studentin Antonia Leonie Müller-Ruff ist noch immer entsetzt. Die angehende Umweltingenieurin hat mit einem weiteren Studenten der Technischen Hochschule Bingen im Frühjahr in einem 400 Hektar großen Gebiet bei Sprendlingen in Rheinland-Pfalz die Vogelwelt untersucht. Die Ergebnisse waren »unterirdisch«, wie sie sagt. Die Studenten haben in acht Tagen und zwei Nächten lediglich 36 Brutvogelarten gefunden. Schon noch Amsel, Drossel, Star, aber nur eine Dorngrasmücke, einen Sperber und keine Eulen: »Es sind noch Vögel da, aber nicht so viele, wie man denkt«, berichtet sie. Auf eine Anfrage der Bündnisgrünen zum Vogelbestand in Deutschland hatte die Bundesregierung im Sommer geantwortet, dass 13 Vogelarten inzwischen ausgestorben, 29 Arten stark bedroht, 19 stark gefährdet und 27 Arten gefährdet sind. Ein schleichender Schwund. Folgt auf diesen Herbst und Winter ein Frühling ohne Vogelgezwitscher und Bienengesumme?

Darauf will Lars Lachmann, Leiter Ornithologie beim Naturschutzbund (Nabu), der wie Müller-Ruff zu einer Tagung der Evangelischen Akademie nach Loccum gekommen ist, »nicht mit Ja oder Nein« antworten. Aber deutlich macht er: »Gerade die häufigen Vogelarten gehen stark zurück.« Beim Star, Vogel des Jahres 2018, ist der Bestand in Deutschland zwischen 1998 und 2009 um 2,6 Millionen oder 42 Prozent zurückgegangen, auch Buchfink, Feldlerche oder Grünfink sind bedeutend seltener geworden, Rebhühner und Kiebitze, früher Allerweltsvögel, sind vom Aussterben bedroht, und das Braunkehlchen ist stark gefährdet. Lachmann meint: »Es gibt tatsächlich einen Vogelschwund. Nicht unbedingt, was die Zahl der Arten, aber was die Gesamtzahl der Vögel angeht.« Rund 12,7 Millionen und damit 15 Prozent des Gesamtbestandes gingen laut Nabu in nur zwölf Jahren in Deutschland verloren. Andererseits nehmen dank spezieller Programme manche seltenen Arten zu, Schwarzstorch oder Seeadler etwa.

Betroffen vom Rückgang sind vor allem die kleinen Vögel, die Menschen durch ihren Gesang erfreuen und insbesondere in landwirtschaftlich geprägten Gebieten leben. Am gefährdetsten sind die Vögel, die Insekten fressen. Sie finden nicht mehr genügend Nahrung, um ihren Nachwuchs großzuziehen. Denn viele Fliegen, Tagfalter oder Schmetterlinge sind verschwunden.

Insektenforscher vom Entomologischen Verein in Krefeld haben in diesem Jahr nicht nur die Fachwelt aufgeschreckt. Sie fingen zwischen 1989 und 2016 an 63 Standorten in deutschen Naturschutzgebieten Insekten mit sogenannten »Malaise-Fallen«. Diese sehen aus wie Zelte aus Fliegenschutznetzen, die nach oben hin immer enger werden. Die Insekten fliegen hinein und landen in einer Flasche mit einer Alkohollösung, die sie tötet und konserviert. Der Fang wird gewogen und mit der Menge aus früherer Zeit verglichen. Die Forscher fanden 76 Prozent weniger Tiere als 27 Jahre zuvor. Und sie stellten einen Rückgang bei allen Insekten fest, nicht nur bei einigen Arten. Hummeln, Libellen, Schmetterlinge, Falter oder Mücken sind demnach drastisch weniger geworden. »Einen Datensatz dieser Qualität gibt es nirgendwo sonst in der Welt«, sagt Wolfgang Wägele, Direktor des Forschungsmuseums Alexander Koenig in Bonn. Was sind die Gründe für diese Entwicklung? »Wir müssen Ursachenanalyse betreiben«, sagt Wägele, aber die »Wahrscheinlichkeit«, dass es die »Gifte aus der Landwirtschaft« sind, die den Schwund verursachen, meint er, ist »sehr groß«.

Laut Nabu-Experte Lars Lachmann kamen Mitte der 1990er-Jahre Insektenvernichtungsmittel auf den Markt, die neue Wirkstoffe, sogenannte Neonikotinoide, enthielten. Diese Pestizide töten Schädlinge viel effektiver als alles, was zuvor auf dem Markt war. Zugleich nehmen sie jedoch Vögeln damit eine wichtige Nahrungsgrundlage. Ungefähr zur gleichen Zeit nahm der Einsatz von Unkrautvernichtungsmitteln mit dem Wirkstoff Glyphosat »massiv« zu, berichtet Wolfgang Wägele. Weltweit ist es das am häufigsten verkaufte Herbizid und zugleich sehr umstritten.

Bürgerinitiative gegen Glyphosat

Rund 6000 Tonnen des Wirkstoffes Glyphosat werden nach Angaben des Umweltinstituts München jährlich in Deutschland auf Felder, aber auch in Privat- und Kleingärten gespritzt. Es bleibt jedoch nicht in den Böden, es verteilt sich großflächig. Rückstände des Stoffes wurden im Bier, im Urin von Menschen, in der Muttermilch gefunden. Derzeit tobt ein Kampf um das Herbizid in der EU. Denn die Zulassung läuft Mitte Dezember aus. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft das Mittel als »wahrscheinlich krebserregend« ein, europäische Behörden sehen in ihm hingegen kein Risiko, wenn es sachgemäß angewendet wird. Naturschutzverbände sind gegen die weitere Zulassung.

1,3 Millionen Menschen haben eine entsprechende Petition einer Europäischen Bürgerinitiative für ein Glyphosat-Verbot unterschrieben. Die EU-Kommission schlägt eine Verlängerung der Zulassung um fünf Jahre vor, findet dafür bislang unter den EU-Mitgliedern aber keine Mehrheit. »Die Kommission hat bis heute keinerlei Vorkehrungen gegen die katastrophalen Auswirkungen auf die Artenvielfalt vorgesehen«, begründet Noch-Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) ihr Nein zu Glyphosat. Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) will das Mittel jedoch zulassen, Deutschland enthält sich daher bei der Abstimmung.

Für den Agrarkonzern Monsanto, den der deutsche Bayer-Konzern übernehmen will, geht es um viel Geld. Dieser und weitere Glyphosat-Hersteller drohen der EU-Kommission nach Medienberichten mit Schadensersatzklagen in Milliardenhöhe, sollte die Zulassung nicht verlängert werden.

Bei dem Streit geht es aber nicht nur um den umstrittenen Wirkstoff Glyphosat. Dahinter verbirgt sich die Frage: Wie soll Landwirtschaft künftig betrieben werden? Wer bekommt wie viel Geld? Jedes Jahr fließen etwa vierzig Prozent des EU-Haushaltes, rund sechzig Milliarden Euro, in die Agrarförderung. Erste Weichen für die neue EU-Förderperiode von 2021 bis 2027 sollen im kommenden Jahr gestellt werden.

Bislang erhalten die Betriebe Mittel je nach Größe ihrer Fläche. Der Naturschutzbund etwa fordert, sie stattdessen für tatsächliche Naturschutzleistungen zu zahlen. Das würde das bisherige System weitgehend auf den Kopf stellen. Die Bauern fürchten um ihr Einkommen.





Eine andere Agrarpolitik ist nötig

»Die Fronten zwischen Naturschutz und Landwirten sind unglaublich verhärtet«, sagt der Professor für Ornithologie an der TH Bingen, Michael Rademacher. »Man spricht eigentlich nicht miteinander.« Es brauche einen Dritten, um zu vermitteln. Das könnten die Hochschulen sein. Doch dort fehlt es wie auch in den Behörden inzwischen an Fachleuten. Für Genetik und Mikrobiologie sei Geld da, dorthin fließen Drittmittel, »wir Wald- und Wiesenbiologen nehmen im akademischen Olymp den Platz unterm Tisch ein«, sagt Rademacher.

Deutlich wird: Es braucht eine Neuausrichtung der Agrarpolitik, die den Pestizid- und Herbizideinsatz stark eindämmt, ohne den Bauern Einkommen wegzunehmen. Doch wie kann sie gelingen? Sie müsste eine jahrzehntelange Entwicklung umdrehen, bei der kleine Höfe verschwanden und durch landwirtschaftliche Großbetriebe ersetzt wurden. Mit gravierenden Folgen für die Natur. Bis 2007 waren in der EU sieben Prozent der Felder Brachflächen, seither nahmen der Raps- und Maisanbau stark zu, die brachliegenden, ökologisch wertvolleren Flächen fielen weg. Auch das artenreichere Grünland wurde von Mais verdrängt, der oft in Monokultur angebaut wird. Die dicht geschlossenen, hohen Bestände bieten keinen Platz mehr für andere, insektenfreundliche Pflanzen. Der Boden wird überdüngt mit stickstoffreicher Gülle.

Die Entwicklung veränderte auch die ländlichen Gegenden. Der Frankfurter Landwirt Matthias Mehl sagt: »Das ist nicht mehr die Landschaft von vor dreißig, vierzig Jahren.« Der konventionell wirtschaftende Bauer sieht im Wegfall der früheren Lebensräume den eigentlichen Grund für den Artenschwund, nicht in der Chemie. Straßen durchschnitten die Gemarkung, Neubaugebiete seien entstanden. Die Höfe würden heute blank gekehrt, große Hallen hätten die Scheunen ersetzt, in denen früher Schwalben rein- und rausflogen. Die Fenster seien heute wegen der Vogelgrippe geschlossen. Offene Misthaufen, über denen die Fliegen schwirrten, gebe es nicht mehr. Auch unbewirtschaftete Ecken wie Feldraine, Gräben, Hecken oder Vogelgehölze, Rückzugsgebiete und Nahrungslieferanten für zahlreiche Tiere, sind vielerorts verschwunden. All das ging zulasten der Artenvielfalt. Manche Landwirte wie Matthias Mehl versuchen gegenzusteuern. An vier Stellen hat der Frankfurter Landwirt Blühstreifen gesät, um Insekten und Vögeln Nahrung zu bieten. Solche Streifen, eine blühende Untersaat unter dem Getreide oder Pufferflächen zu Gewässern oder Waldrändern sowie Grünland, das nicht chemisch gedüngt und nur selten gemäht wird, das alles seien einfache Maßnahmen, die EU-weit zum Einsatz kommen könnten, um die Biodiversität wieder zu beleben, meint Rainer Oppermann, Leiter des Instituts für Agrarökologie und Biodiversität in Mannheim.

»Unseretwegen können bereits Tausende Arten nicht mehr ihre Botschaft vermitteln. Dazu haben wir  kein Recht.  
Papst Franziskus, Enzyklika »Laudato Si’«

Es sind Rezepte, die Biobauern kennen. Tim Keller, der im Osten Hessens einen großen Bioland-Hof betreibt, schwärmt vom biologischen Wirtschaften. In seinem Maisfeld summe und brumme es im Sommer. Bei ihm wachsen dort am Boden Wildkräuter. Eigens angelegte Blühstreifen braucht er nicht. Während konventionelle Bauern die Distel auf dem Acker stört, ärgert er sich, »wenn die Distel fehlt, weil sie Schmetterlinge anzieht«. Insekten und Vögel sind für ihn »wichtige Bausteine« in der Natur, denn sie bestäuben, halten Schädlinge in Grenzen, sorgen für Vielfalt. »Wenn wir uns als Mensch herausnehmen, dort einzugreifen, hat das gravierende Folgen«, meint er. Sein Ertrag sei um die Hälfte niedriger als bei konventionellen Bauern. Doch er bekomme vieles, was mit Geld nicht aufzuwiegen sei.

Was wäre, wenn die Insekten komplett verschwinden würden? Das hätte gravierende Folgen auch für die Menschen. Immerhin sind sie wichtige Bestäuber. Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle sagt, die Tiere erbrächten weltweit kostenlose Dienstleistungen im Wert von 153 Milliarden Euro. Müssten Menschen diese Arbeit erledigen, würden Kosten von mehreren Hundert Milliarden Euro entstehen.

Papst Franziskus sagt in der Uwelt-Enzyklika »Laudato Si’«, der Mensch habe »kein Recht« die Natur so zu verändern: »Unseretwegen können bereits Tausende Arten nicht mehr mit ihrer Existenz Gott verherrlichen, noch uns ihre Botschaft vermitteln«. Es ist Zeit zu handeln. Und nicht allein EU, Politik und Landwirte können etwas tun. Verbraucher können insektenfreundliche Saatgutmischungen im Garten aussäen, Bioprodukte kaufen, den ökologischen Fußabdruck verringern. Es ist noch nicht zu spät.






Publik-Forum, Nr. 22 | 2017, S. 12-15



die gesunde krume

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Was machen Biolandwirte anders?

Fragen an den Biolandwirt Tim Keller

von Markus Dobstadt | Publik-Forum

Bei Vögeln und Insekten gibt es einen dramatischen Schwund, für den Forscher den Einsatz von Herbiziden und Pestiziden in der konventionellen Landwirtschaft verantwortlich machen. Wie wirtschaftet die ökologische Landwirtschaft? Und wie kann der Rückgang der Artenvielfalt gestoppt werden? 

Publik-Forum: Herr Keller, in diesem Jahr wurde deutlich, dass es einen dramatischen Rückgang bei der Zahl der Vögel und Insekten gibt. Wahrscheinlich ist dies eine Folge des Insektizid- und Herbizideinsatzes. Sie wirtschaften biologisch. Was bedeuten für Sie die Insekten? 

Tim Keller: Wir Biolandwirte sehen die Natur als ein System von Bausteinen. Insekten und Vögel sind wichtige Teile davon, weil sie diejenigen sind, die Schädlinge in Grenzen halten und die Pflanzen bestäuben. Vögel sorgen außerdem für Vielfalt, indem sie Samen verbreiten. Wenn wir es uns als Mensch herausnehmen, dort einzugreifen, dann glaube ich, dass das gravierende Folgen hat. Und zwar für die nächsten Generationen, die ja noch hier leben wollen. Aber wir sollten nicht nur von Insekten und Vögeln reden. Wir vergessen die Tiere im Boden. In einer Handvoll Erde gibt es Millionen Lebewesen. Alle diese Tiere leiden auch unter den Spritzmitteln und dem Einsatz schwerer Maschinen. Wir Landwirte sollten den Boden wie ein rohes Ei behandeln und ihm viel mehr Aufmerksamkeit schenken, damit dieses kostbare Gut erhalten bleibt.

Wie sehen Sie die konventionelle Landwirtschaft? 

Keller: Das große Problem ist, dass heute eine Person sehr viel ausrichten kann, positiv wie negativ. Ein konventioneller Landwirt kann mit seiner Spritze, die mittlerweile über 30 Meter breit ist, an einem Nachmittag eine ganze Region behandeln und dabei einen enormen Schaden anrichten. Vor 50 Jahren konnte das ein Mensch noch gar nicht. Das hat sich sehr geändert. Jetzt fällt es uns auf, weil etwas fehlt, nämlich die Insekten und Vögel.

Wie wirtschaften Sie? 

Keller: Bei uns ist die Lösung, dass wir probieren, eine große Vielfalt auf unseren Äckern zu erzeugen. Dass wir möglichst viele Nützlinge haben, die auch Schädlinge eindämmen können. Wir greifen damit auf ein Ur-Rezept der Natur zurück. Jedes Tier, das hier heimisch ist, hat auch einen Gegner. Wenn wir Probleme mit Blattläusen haben, gibt es Marienkäfer, die sie liebend gerne fressen. Man muss ihnen dann nur einen Lebensraum schaffen. Wir probieren ein Gleichgewicht herzustellen. Wir stehen als Mensch nicht über der Natur, sondern sind ein Teil von ihr.

Sie ernten aber weniger als konventionelle Landwirte? 

Keller: Man kann sagen, dass wir im Durchschnitt die Hälfte von dem ernten, was ein konventioneller Betrieb an Ertrag bringt. Es gibt auch Jahre, da sind wir gleichauf. In diesem Jahr etwa hatten wir bei der feuchten und warmen Witterung Maiserträge wie die konventionellen Landwirte. Der Regen kam zum richtigen Zeitpunkt. Und wir hatten zur richtigen Zeit gesät.

Wie düngen Sie? 

Keller: In erster Linie mit Mist. Wir achten außerdem darauf, dass – wenn wir in einem Jahr etwas anbauen, das dem Boden Nährstoffe nimmt – im nächsten Jahr eine Pflanze folgt, die ihm wieder etwas zurückgibt. Die Ackerbohne sammelt zum Beispiel Stickstoff aus der Luft, ohne dass ich etwas machen muss. Ich schaue auch sehr auf die Tiere, die im Boden leben, Regenwürmer zum Beispiel.





Den Unterschied zwischen konventioneller und biologischer Landwirtschaft gibt es noch gar nicht so lange. Wann begann diese Entwicklung? 

Keller: Vor ungefähr fünfzig Jahren hat es mit dem intensiven Pflanzenschutz angefangen. Mein Opa, der in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg groß geworden ist, hat immer gesagt, damals habe er noch nichts anderes gemacht als wir heute in der Biolandwirtschaft. Das änderte sich in den 1960er Jahren. Heute höre ich immer öfter von Kollegen, dass sich Resistenzen gegen Spritzmittel bilden. Irgendwann wirken sie nicht mehr.

Sie nutzen stattdessen die Fruchtfolge, um Unkräuter einzudämmen? 

Keller: Ja, die kann man mit einer gezielten Fruchtfolge ganz gut in den Griff bekommen. Wir bauen im Wechsel sieben Früchte an: Mais, Dinkel, Roggen, Gerste, Weizen, Triticale – eine Roggen-Weizen-Kreuzung – und Leguminosen wie Kleegras, die dem Boden wieder Nährstoffe zurückgeben. Kleegras lassen wir zwei Jahre lang stehen. In der Zeit hat der Boden Urlaub. Er kann sich erholen. Die starke Durchwurzelung ist wie eine Kopfmassage für die Erde. Gleichzeitig verhindert sie, dass andere, unerwünschte Pflanzen hochkommen. Die Regenwürmer sind in dieser Zeit ungestört. Da fährt kein Pflug durch. Es können sich Bakterien und Pilze bilden.

Fruchtfolge gibt es bei konventionellen Landwirten aber auch. 

Keller: Es gibt Landwirte, die machen das gut. Bei vielen bedeutet Fruchtfolge aber leider Mais, Weizen und Raps. Das sind alles Pflanzen, die viele Nährstoffe aus dem Boden nehmen und Pflanzenschutz brauchen. Und weil die Landwirte hohe Erträge haben möchten, düngen und spritzen sie entsprechend viel.


Was können Sie akut machen, wenn sich ein Schädling ausbreitet? 

Keller: Im Zweifel können wir gar nichts machen. Wenn sich der Schädling ausgebreitet hat, ist es sowieso schon zu spät. Man darf es erst gar nicht dazu kommen lassen. Man kann vorher Nützlinge einsetzen. Ich muss sie nur mit Pflanzen anlocken. Sie sind ja da.

Mit Blühstreifen? 

Keller: Die brauche ich nicht. Dadurch, dass ich die Unkräuter nicht flächendeckend kaputtspritze, habe ich immer welche. Das Ziel bei mir ist eigentlich nur, zum Beispiel den Mais größer werden zu lassen als das Unkraut. Dann funktioniert das System von alleine. Der Mais wächst oben, unten entwickelt sich ein sehr breites Spektrum an Wildkräutern. Die stören den Mais nicht mehr, bedecken den Boden, halten ihn mit den Wurzeln fest, das ist toll für Insekten. Da summt es richtig drin. Es ist schattig und feucht.

Ein Problem in der konventionellen Landwirtschaft ist, dass die Betriebe wachsen, damit sie nicht weichen müssen. Sollten die Betriebe wieder kleiner werden? 

Keller: Ja, denn das fördert die Vielfalt. Wenn du nicht einen Bauer in der Region hast, sondern fünf, werden automatisch mehr Feldfrüchte angebaut. Dann haben wir einen bunt bestückten Teller, von dem viele essen können. Wenn die Felder nur einem gehören, baut er in einer Gemarkung nur Raps an. Er spart dadurch Maschinenkosten. So bekommen wir das Desaster, das wir jetzt haben.

Kann es gelingen, die Entwicklung umzudrehen? 

Keller: Davon bin ich überzeugt. Aber es gelingt nur dann, wenn der Verbraucher mitzieht. Wenn er bereit ist, diese Arbeit zu schätzen und einen Preis bezahlt, der gerechtfertigt ist. Damit der Landwirt nicht mehr diese Massen produzieren muss. Die Politik muss auch mitziehen, indem sie es fördert, dass Landwirte verschiedene Früchte anbauen und sie auch kleine Betriebe unterstützt. Momentan ist die Förderung an die Fläche gebunden. Wenn das Produkt auf dem Feld einen anderen Wert hat, dann werden sich auch die Landwirte ganz anders engagieren. Weil sie nicht mehr den Druck haben, Masse erzeugen zu müssen. Dann brauchen wir überhaupt keine Förderung mehr.

Können Konventionelle denn von der Biolandwirtschaft lernen? 

Keller: Ja, ich denke schon. Ich kenne einen Kollegen, der sich ärgert, wenn bei ihm eine Distel auf dem Acker wächst. Ich ärgere mich, wenn die Distel fehlt, weil sie Schmetterlinge anzieht. Die Politik muss es schmackhaft machen, Pflanzen wie die Ackerbohne anzubauen, die Stickstoff aus der Luft sammelt. In der Industrie wird Stickstoff mit viel Energieaufwand in Kügelchen gepresst, die der Landwirt als Dünger ausbringt. Aber die Pflanze macht das ganz von alleine, ohne dass einer einen Finger rührt.

Biologisch zu wirtschaften ist anstrengender als konventionell. Was schätzen Sie, wie viele Wochenstunden Sie arbeiten? 

Keller: Ich zähle sie nicht. Mein Stundenlohn ist sicher weit unter zehn Euro. Aber mein Beruf ist ein Stück Lebensqualität. Ich kann Lebensmittel produzieren, die gesund sind. Ich weiß, wo mein Fleisch herkommt. Ich bin nie krank, ich habe kein Problem mit Burnout. Das hat auch alles einen Wert, den man nicht in Zahlen ausdrücken kann. Ich bin zufrieden, dass ich in dieser Branche arbeiten darf und davon leben kann.

Tim Keller, geboren 1987, bewirtschaftet zusammen mit seinem Vater den Biolandhof Domäne Konradsdorf im hessischen Ortenberg mit 320 Hektar Ackerland, 170 Kühen und Hofladen. 



Beide Abbildungen nach Fotos von M. Dworschak / Geologischer Dienst NRW

Dieser Text stammt von der Webseite https://www.publik-forum.de/politik-gesellschaft/was-machen-biolandwirte-anders des Internetauftritts von Publik-Forum

das abrahamische forum

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Religionen für die Schöpfung

Das Abrahamische Forum diskutierte über Naturschutz und stellte Projekte von Kirchen, Moscheen und Synagogen vor

Der Frankfurter Zoodirektor Manfred Niekisch stimmte beim Dialogforum »Religionen und Naturschutz« die siebzig Teilnehmer auf das Thema ein. Die Erde erlebe gerade die »sechste Aussterbewelle«, sagte er im Hinblick auf den dramatischen Rückgang der Artenvielfalt, diesmal »eine vom Menschen gemachte«. Es gebe eine »Krise der Biodiversität, wie wir sie noch nie hatten«. Das Abrahamische Forum, das zu dem Treffen eingeladen hatte, wurde 2001 von Angehörigen verschiedener Religionen gegründet, um sich für ein »friedliches Zusammenleben« einzusetzen. Angesichts der dramatischen Umweltprobleme befassen sie sich seit einiger Zeit auch mit dem Naturschutz. Für den Rückgang der Artenvielfalt machen die Religionsvertreter die die »Ressourcen überbeanspruchenden Formen des Wirtschaftens, Produzierens und Konsumierens, soziale Ungerechtigkeit« und den »Unfrieden in der Welt« verantwortlich, so schrieben die Gläubigen aus neun Religionen nach dem ersten Dialogforum in Bonn vor zwei Jahren. Auch der Klimawandel sei gravierend. »Menschen verlieren ihre Lebensgrundlagen und sind zur Flucht gezwungen.«

Doch was kann ein kleiner Kreis wie das Abrahamische Forum dagegen ausrichten? Es gründet ein bundesweites Netzwerk, schickt Teams in Schulen, um mit Jugendlichen über Religion und Naturschutz zu reden, und es initiiert »Religiöse Naturschutzwochen« wie kürzlich in Darmstadt – mit Debatten über die Umweltenzyklika »Laudato Si’« von Papst Franziskus oder das Naturverständnis der Religionen, mit Meditation im Freien und Baumpflanzaktionen. Die nächste Naturschutzwoche wird 2018 in Osnabrück sein.

Alle zwei Jahre laden die Religionsvertreter außerdem zum Dialogforum ein. Diesmal wurden unter anderem »Best-Practice«-Beispiele präsentiert, die zeigen, wie rund um Moscheen, Kirchen und Synagogen »Orte der biologischen Vielfalt« entstehen können. Die evangelische Gemeinde Steeden im Dekanat Runkel bei Limburg etwa hat Wiesenblumen an der Kirche ausgesät, wo vorher Rasen war. Mitglieder der jüdischen Gemeinde Augsburg pflanzten Kräuter und Gemüse, und zwar in Weinkisten, weil unter dem Rasen Rohre verlaufen. Die Gläubigen können sich im Sommer nach dem Gottesdienst im Garten versammeln und frischen Minztee genießen. Beim Dialogforum stellten sich auch Initiativen vor. Die Umweltschutzorganisation NourEnergy berät ehrenamtlich muslimische Gemeinden bei der Nutzung der Solarenergie. Sie engagiert sich auch für ein Projekt in Afghanistan, wo ein Waisenhaus in Kabul einen Brunnen und eine Fotovoltaikanlage bekommen soll. Zahlreiche Kirchengemeinden beteiligen sich außerdem am Umweltzertifizierungsprogramm Grüner Hahn. Das alles verändert nicht die Welt, aber es schafft Gemeinschaftserlebnisse und lässt das Umweltbewusstsein wachsen. Das ist, wie bei der Tagung gesagt wurde, auch bei Pfarrern und Imamen nicht immer vorhanden.

Naturschutz ist jedoch noch mehr, als in der Erde zu wühlen, Nistkästen aufzuhängen und Fotovoltaikanlagen zu installieren. Er bringt Menschen aller Kulturen und Religionen zusammen, denn »Natur ist das Größte, was uns verbindet«, sagte ein Vertreter der Jesiden. Insofern ist Naturschutz auch ein Friedensprojekt, wie bei der Tagung betont wurde. Manfred Niekisch sieht darin zugleich »eine Überlebensaufgabe der Menschheit«. Der biblische Satz »Macht euch die Erde untertan« brauche eine »moderne Interpretation«, sagte der Zoodirektor. Die Tagung zeigte, wie die aussehen kann. Markus Dobstadt

www.abrahamisches-forum.de

Text: Publik-Forum 22 | 2017 - S. 14/15 unten

wir sind so frei ...

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Bilder wie Jackson Pollocks »Number 34« sollten Kommunisten einschüchtern

Cowboys mit Pinsel

Von Larissa Kikol | DIE ZEIT

Einst waren ihre Werke politische Waffen, heute sind sie Trophäen für vermögende Sammler. Wie konnten die amerikanischen Expressionisten solche Bilder schaffen?

Lange klang es bloß wie eine Verschwörungstheorie, zu absurd, um wahr zu sein: Der amerikanische Geheimdienst CIA förderte im Kalten Krieg abstrakte Kunst, um den Kommunismus zu besiegen. Inzwischen aber ist belegt: Über Mittelsmänner finanzierte der Dienst etwa Wanderausstellungen und vielversprechende Künstler. Das Berliner Haus der Kulturen der Welt widmet den ungewöhnlichen Mäzenen gerade eine umfangreiche Ausstellung.

Doch nicht nur die CIA versuchte, der Welt mit Werken des abstrakten Expressionismus die Überlegenheit des amerikanischen Systems zu zeigen. Die Flächen aus reiner Farbe waren für Händler, Kritiker, Geschichtsschreiber, Ausstellungsmacher und Geschäftsleute wahre Alleskönner: Sie wirkten avantgardistisch und ließen diverse Interpretationen zu. Wie ein Blankoscheck konnten sie in Zeiten des Kalten Krieges für beliebige kulturpolitische Ziele ausgestellt werden.

Die Idee der Kultur als Waffe war keine amerikanische. Im Sturm und Drang beispielsweise griffen Johann Gottfried Herder oder Johann Wolfgang Goethe die französische Kultur radikal an. Und in Zeiten des Kalten Krieges betrieb auch die Sowjetunion national motivierte Kulturpolitik. Mit den amerikanischen Expressionisten aber gelang es besonders erfolgreich.

Jackson Pollock: Number 34 1949 (detail) Munson Williams Proctor Arts Institute/Art Resource, NY/Scala, Florence © The Pollock-Krasner Foundation ARS, NY and DACS, London 2015.


Entstanden war die Kunstbewegung in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Radikal, mutig, frisch und dennoch tiefgründig kamen die Bilder der amerikanischen Maler daher, und das genau zur richtigen Zeit: Der US-amerikanische Kunstkritiker Clement Greenberg verkündete 1948, dass nicht nur die Schwerpunkte der politischen Macht und der industriellen Produktion, sondern auch das Zentrum der westlichen Kunst endlich von Europa in die USA verlagert würden.

So kam es gelegen, dass etwa Jackson Pollock die Indianerkunst als Inspirationsquelle nannte und für kulturelle Wurzeln sorgte, die unabhängig von Europa waren. Die abstrakten Farbflächen sollten plötzlich das spirituelle Erbe der ermordeten Indianer verkörpern. Darüber hinaus gaben viele Künstler an, sich von der Last der europäischen Geschichte befreien zu wollen. Die USA standen für Demokratie und Freiheit, nur hier seien die abstrakten Gemälde möglich: In ihren Bildern könne sich das Unterbewusstsein ungehemmt ausdrücken, anders als im faschistischen Europa oder in der kommunistischen Sowjetunion. Auch der europäischen Philosophiegeschichte und ihren Theorien über das Erhabene setzten sie etwas entgegen: Ihre getropften, gemalten oder monochrom gestrichenen Farbbilder in Übergröße waren ihre zeitgenössische Antwort auf das altakademisch Erhabene.

Die Künstler wurden als Abenteurer gefeiert, die sich wie Cowboys ihren Weg an die Spitze der Kunstwelt freischossen. Der abstrakte Expressionismus repräsentierte den amerikanischen Traum: Heldentum, Freiheit und Abenteuer.

Vermarktet wurde die kulturelle Überlegenheit durch Interviews, Homestorys in Lifestylemagazinen, überschwängliche, dramatisierende Artikel der Kunstkritiker und klug beworbene Wanderausstellungen. Auch große Banken mischten sich ein: Nelson Rockefeller war ein bekannter Förderer und Sammler dieser Kunst, die er als »Malerei des freien Unternehmertums« verstand. Rockefeller stand als Präsident auch dem Museum of Modern Art in New York vor. Aktuell wird erneut dazu geforscht, wie sehr sich die Ziele des Museums mit denen der CIA deckten.

Die amerikanischen Expressionisten selbst malten allerdings nicht aus politischer Motivation heraus. Wohl auch deshalb funktioniert der Blankoscheck heute noch: Inzwischen werden die Werke von den Auktionshäusern vor allem wegen ihres emotionalen Gehalts und ihrer sinnlichen, einzigartigen Farbwahrnehmung versteigert.

Die globale Ausstellungsgeschichte ging nach dem Kalten Krieg weiter. Einige Kritiker merken an, dass die steigenden Preise das eigentlich Erhabene darstellen: Werke der abstrakten Hauptakteure wie Jackson Pollock, Mark Rothko oder Willem de Kooning etwa erzielten zuletzt Preise von zum Teil über 50 Millionen Euro. Auf den diesjährigen Herbstauktionen von Christie’s und Sotheby’s, die Mitte November stattfanden, wurden zwar überwiegend günstigere Papierarbeiten der Künstler angeboten. Doch auch sie richteten sich an Gewinner des Kapitalismus: Sie brachten Erlöse von jeweils mehreren Millionen Euro ein.


Jackson Pollock: Number 34 1949 (detail) Munson Williams Proctor Arts Institute/Art Resource, NY/Scala, Florence © The Pollock-Krasner Foundation ARS, NY and DACS, London 2015.

aus: DIE ZEIT | No.49 | S.32

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siehe dazu auch hier

gefalterte glaskugel

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gefalterte glaskugel | S!NEDi|art

fette beute 2017 - eine lese meiner werke

wenn hier nicht sofort ruhe ist | 2017

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S!NEDi|art: wenn hier nicht sofort ruhe ist | 2017 - nach einem szenenbild aus "fack ju göthe"

vertrauensbruch - gesegneter advent

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Diese Mail bekam ich heute morgen von SPIEGEL-ONLINE - DIE LAGE - : und so kurz vorm Advent erscheint es also so ein wenig trostlos - ja - "sie werden uns weiter damit quälen" - wie der Autor dieser mail - der stellvertretende Chefredakteur namens Dirk Kurbjuweit das so recht und trostlos auszudrücken wusste ... -

Aber zunächst noch ganz losgelöst vom Inhalt dieser mail stieß ich über die Seite "Evangelium Tag für Tag" auf diese Warnungen Jesu an seine Jünger
- jetzt zu Beginn des Advents zu Tages-Evangelien gekürt in Lukas 21, 25-38 - da heißt es u.a.:
25 Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, 26 und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. 27 Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. 28 Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. 
29 Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle Bäume an: 30 wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass der Sommer schon nahe ist. 31 So auch ihr: Wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, so wisst, dass das Reich Gottes nahe ist. 32 Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis es alles geschieht. 33 Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen. 
34 Hütet euch aber, dass eure Herzen nicht beschwert werden durch Rausch und Saufen und mit täglichen Sorgen und dieser Tag nicht plötzlich über euch komme 35 wie ein Fallstrick. Denn er wird über alle kommen, die auf der ganzen Erde wohnen. 36 Wachet aber allezeit und betet, dass ihr stark werdet, zu entfliehen diesem allen, was geschehen soll, und zu stehen vor dem Menschensohn. 37 Er lehrte des Tags im Tempel; des Nachts aber ging er hinaus und blieb an dem Berg, den man den Ölberg nennt. 38 Und alles Volk machte sich früh auf zu ihm, ihn im Tempel zu hören. (LUT)

Naja - vielleicht sind diese "zu-fälligen" Evangelien-Worte für die politische Situation etwas zu krass ... - aber doch - ich frage mich ja seit der Wahl vor 70 Tagen: Was macht "die Politik" eigentlich so den ganzen Tag ..??? - Da berichten die Medien jeden Tag von den Purzelbäumen des Mr. Trump da im Weißen Haus - und in Berlin taktiert man herum, damit alle Klienten auch recht bedient werden können - warum muss der Bundespräsident zu Gesprächen bitten, die eigentlich die Parteien untereinander ohne ihn gut führen könnten - und schon längst zu Potte gekommen sein müssten: Wer führt da eigentlich Wen vor ... ???

Was sind das alles für "Zeichen & Wunder": da im Weißen Haus - die Ohnmächtigkeit da in Berlin - die vielen Tausend Toten im Mittelmeer - die KZ-ähnlichen Lager da in Libyen, die Menschen, die da in ihrer Not zu einer Verschiebemasse und zum finanziellen Faustpfand degradiert werden: und in Anbetracht dieser Weltlage taktiert man sich in Berlin in die Starre - und weiß nicht weiter ...

Und in dieser allgemeinen zeitbedingten Trostlosigkeit stieß ich auf eine Adventspredigt zu just diesen Tages-Evangelien und vielleicht auch zu dieser für mich unerklärlichen Angststarre da in Berlin - der Autor dieser Predigt wird auf der Seite der Katholischen Theologie-Fakultät  der Universität Münster nicht genannt - aber lesen Sie selbst:



OUVERTÜRE

1. Advent: Lk 21,25-28. 34-36

I. 
Ein islamischer Weiser fragte einmal einen Bekannten: Wie alt bist du, Mulla? – Der antwortete: Vierzig. – Darauf der Weise: Aber Mulla, dasselbe hast du auch gesagt, als ich dich vor zwei Jahren nach deinem Alter fragte. – Jawohl, sagte Mulla, denn ich stehe zu dem, was ich gesagt habe. 

II.
So ähnlich kommt manchen heute das vor, was in der Bibel steht und was die Kirchen verkünden: Immer das Gleiche und hoffungslos von vorgestern. Genau wie das, was heute beginnt z.B.: Geht das Jahr allmählich zu Ende, spielen sie wieder Advent. Als ob es im Ernst etwas zu erwarten gäbe. Und lesen Stücke aus der Bibel vor, die die meisten sowieso nicht verstehen; und die, die sich informiert glauben, gehen mit bedauerndem Achselzucken darüber hinweg: Zeichen an Sonne, Mond und Sternen, die Kräfte des Kosmos erschüttert, einer, der auf einer Wolke kommt und so. Sonst noch was? 

III.
Vielleicht aber denkt, wer so denkt, deswegen so, weil er oder sie nur gelten lässt, was er immer schon gesagt und gedacht hat – wie Mulla vorhin. Für ihn und sie bleibt alles für immer, wie es ist. Es ändert sich nichts mehr. Und sie, er erwartet nichts mehr. Was in der Bibel steht und was die Kirchen verkünden, ist dagegen von geradezu umstürzender Fortschrittlichkeit. Denn durch die ganze Schrift zieht sich von Abraham an ein Glutstrom der Erwartung und der Hoffnung: der Erwartung, dass Gott selbst all das Zweideutige in der Welt und im Leben eindeutig machen wird; und ein Glutstrom der Hoffnung, dass er des Menschen Leben, das oft so verwickelte und verwirrende, auf eine Bahn bringt, die nicht im Abgrund endet. 

Unser Evangelium von heute gehört zu den Stellen der Bibel, wo dieser Glutstrom gleichsam zu lodern beginnt. Das geschah immer dann, wenn das Volk Israel mit seiner physischen Vernichtung Auge in Auge stand. Wenn Gott wirklich Gott ist, so glaubte Israel, lässt er das nicht geschehen. Er wird das Verhängnis aufbrechen und eine Zukunft schenken. Wir dürfen etwas erwarten. 

In Jesu Worten an seine Jünger wird diese Erfahrung aus der Geschichte seines Volkes zu etwas, was für das Leben überhaupt gilt. Er will sagen: Das, was ist, ist nicht alles und ist nicht das Ganze. Das tritt genau immer dann hervor, wenn es für einen ums Ganze geht. Auch bei Jesus selbst war das so: Unser Evangelium sind die letzten Worte an seine Freunde, bevor die Leidensgeschichte beginnt.

Wenn es ums Ganze geht, also darum, was eigentlich trägt und wo ich stehe – und wenn man vor dieser Frage nicht die Augen schließt –, da wird spürbar, dass nichts, was es gibt rings um uns, wirklich trägt und verlässlich ist. Die Zeichen an Sonne, Mond und Sternen und das Toben und Donnern des Meeres, die deuten an, dass die ganze Welt keinen sicheren Boden und kein festes Dach über dem Kopf gewährt. 


Wie immer in der Bibel steht das, was in der Form äußerlich sichtbaren Geschehens erzählt wird, als Sinnbild für die inneren Dinge, um die es geht. 

Und das ist hier, in diesem Evangelium – so steht es ja da – die Angst. Wenn es ums Ganze geht, da spürt man, wie gefährlich nah wir in Wahrheit dem Chaos, dem Tohuwabohu sind, das uns wie ein Untier Angst macht bis zur atemlosen Beklemmung. Manchmal erzählte mir einer in meiner früheren Seelsorgearbeit im Gefängnis, wie es sich anfühlt in der Nacht vor dem ersten Prozesstag, wenn sich alles innen drin zusammenzieht zu einem Eisklumpen und einem trotzdem der Schweiß in Bächen hinabrinnt. 

Gar nicht so wenige von uns werden wohl auch aus anderen Situationen wissen, wie das ist, wenn man wirklich Angst hat vor etwas, Angst um jemanden, auch um sich selbst vielleicht: Da fällt einem die Decke auf den Kopf; der Himmel mit den Sternen, das ganze Gewölbe unserer Ideale und Orientierungen bricht ein. Die Erde unter den Füßen scheint nicht mehr zu tragen, buchstäblich untergehen fühlen wir uns in der Angst wie in einem uferlosen, tosenden Meer, dem nichts Einhalt gebieten kann. Wenn wir Schuld auf uns geladen haben, wenn wir schwere Fehler begangen, einen lieben Menschen verloren oder schlimm versagt haben, einem Schicksalsschlag ohnmächtig ausgeliefert sind, da wird uns, als ob wir vergehen müssten. Da trägt nichts mehr in der Welt, kein gutes Zureden, keine Selbsttäuschung und nicht einmal der liebste Mensch. Und nicht nur einmal im Leben stürzt Vielen die Welt ein, manchen gar so oft, dass er oder sie gar nicht mehr leben mag. 

Das ist die Wahrheit über das Leben. Sie ist – für sich genommen – entsetzlich. Ihr stellen kann sich nur, wer den biblischen Glutstrom der Hoffnung gleichsam auch durch sich selbst hindurchgehen lässt. Wer mit den Vätern und Müttern unseres Glaubens von Abraham an auf Gott hofft, wie sie alle auf Gott gehofft haben. Wer von Gott erwartet, was sie ihm zugetraut haben, dem geht hinter dem Zusammenbruch seiner Welt und ihrer vermeintlich ehernen Gesetze etwas ganz und gar Neues auf: Das Bild und Gleichnis eines Gottes mit menschlichen Zügen – das meint der Menschensohn, der auf einer Wolke kommt –, das Bild und Gleichnis also eines Gottes, der uns auf Du und Du nahe ist. Wenn dir, Mensch, alles aus der Hand gleitet, wenn du nichts mehr hast, um dich selbst zu sichern und dir etwas vorzumachen; wenn du dich nicht betäubst durch irgendeine Form von Rausch und stattdessen wahr nimmst, wie es wirklich steht; und wenn du auch nicht mit der Geschäftigkeit des Alltags die Angst überspielst, sondern sie dir eingestehst, dann wird dir wie von selbst aufgehen, was allein dir Halt gibt und Boden unter den Füßen: der Menschensohn. Menschensohn steht für Menschlichkeit. Wo nichts mehr in meiner Macht steht, bleibt mir, Mensch zu sein, wie Gott es gedacht hat. 

Was Menschlichkeit meint, das wissen die Christinnen und Christen von dem Menschen aus Fleisch und Blut, den das Evangelium Menschensohn nennt, weil er so ist, wie er ist: den Nazarener. Das Gottvertrauen und die Güte, die ihn beseelten – sie haben gemacht, dass seine Menschlichkeit Menschen durch und durch ging, manchmal so sehr, dass einer durch seine bloße Gegenwart gesund geworden ist, wenn er zuvor von der Angst zerrissen gar nicht mehr er selber hat sein können. Jesu Gottvertrauen und Güte haben Menschen ermutigt, neu anzufangen mit Gott und mit sich selbst. Sie haben ihnen die Kraft gegeben, die Not des Lebens menschlich zu bestehen – und manchmal auch sogar die des Sterbens noch, dasjenige eines lieben Menschen, der von ihrer Seite gerissen wurde, und das eigene dann, ohne in der Angst unterzugehen. Gott zu trauen wie Jesus es getan hat, und ein wenig auch nur von der Güte zu riskieren, für die er steht, das macht stark gegen das Chaos, das die Angst anrichtet in unseren Seelen. Und das lässt einen am Ende auch vor dem bestehen, an dem wir alle gemessen werden von Gott: am Menschensohn, an dem also, der Mensch war, wie Gott will, dass Menschen sind. 

Eben darum kann der Jesus des heutigen Evangeliums sagen: Gerade dann, wenn alles rundherum zusammenfällt und uns schier erdrücken will –, gerade dann haben wir Grund uns erleichtert aufzurichten. Wenn alles weg ist, was nur zum Schein Halt gab, dann tritt hervor, was wirklich Halt gibt: Gott selbst, weil er durch und durch ein Gott der Menschen ist. 

IV.
Von daher aber wird nun auch von selbst verständlich, warum gerade diese Worte Jesu am Beginn des Advent stehen. Diese Zeit eröffnet das Kirchenjahr, weil mit all dem, was verkündet und gefeiert werden wird, nur die etwas anfangen können, die etwas erwarten von Gott. Advent halten heißt darum zuerst: den Blick einüben dafür, wie vorläufig, wie zerbrechlich alles ist, worauf wir zu setzen pflegen. Und: hoffen lernen. Hoffen, dass hinter allem, was so brüchig ist, einer steht, der bleibt, und der solches Dasein für uns zusagt auf eine Weise, die wir verstehen und die uns überzeugt. 

Wäre aber nicht das Überzeugendste, wenn dieser Gott selber einer von uns würde und durch sein eigenes Menschenleben bezeugte, dass die Hoffnung auf Gott nicht vergeblich ist? Und wenn er’s schon längst geworden wäre? Dann hülfe uns das Hoffnung-Einüben, dies zu erkennen. Bald werden wir es wieder erzählt bekommen in den Geschichten von der Geburt des Menschenkindes, in dem der Menschensohn einer von uns geworden ist, um uns auf Augenhöhe nahe zu bringen, was es bedeutet, Mensch zu sein. Darum steht das Evangelium, das sein Kommen verheißt, am Beginn der Zeit, in der wir uns auf das Geheimnis des Menschwerdens vorbereiten. 

Und das sinnenfällige Zeichen dieser Tage – der Adventskranz – macht vielfältig sichtbar, welche Hoffnung der Glaube wagen darf: Der Kreis, der nicht Anfang und Ende kennt – so treu ist Gott, immer und ohne Ende. Der Kranz ist aus grünen Zweigen gewunden, Lebendiges inmitten der toten Winterzeit – auch da, wo alles vorbei scheint, gibt es einen neuen Aufbruch. Je länger wir dem Kommen des Herrn entgegen warten, desto mehr Kerzen entzünden wir – desto heller wird es um uns, Sinnbild für das, was innen geschehen will. Und die farbigen Bänder am Kranz lassen ahnen, dass dem Christen trotz der Not, die sein Leben treffen mag, Freude kein Fremdwort ist. Denn in der Hoffnung lebt er. Und Zukunft hat er. Gott selber ist sie. 

Gesegneten Advent!




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