Familiengeheimnisse
"Wir haben Schätze auf dem Dachboden und Skelette im Keller"
Aus einem Interview mit der Familientherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin.
BRIGITTE: Sie beschäftigen sich als Therapeutin seit über zwanzig Jahren mit Geheimnissen in der Familie. Könnte man auch, weniger schön ausgedrückt, sagen, Sie helfen Familien, ihre Lügen aufzudecken?
Rosemarie Welter-Enderlin: Ja. Familiengeheimnisse sind Lügen. Ich habe zwar Klienten, die sagen: Es stimmt nicht, ich habe nicht gelogen, ich habe nur nichts gesagt - aber natürlich ist auch das Verschweigen eine Lüge.
BRIGITTE: Hat denn jede Familie eine Leiche im Keller?
Rosemarie Welter-Enderlin: Zu jeder Familie gehören Geheimnisse, aber sie sind nicht alle böse. Es gibt Skelette im Keller und Schätze auf dem Dachboden. In Familien muss sich jeder seinen eigenen Raum schaffen, in dem er seine liebsten und intimsten Dinge sicher aufbewahren kann, seine Schätze. Tagebücher, Liebesbriefe, alles, was ihm allein gehören soll.
BRIGITTE: Und die Skelette im Keller?
Rosemarie Welter-Enderlin: Bösartige Geheimnisse schließen einen Dritten aus, der davon wissen müsste, weil ihm die Lüge, das Verborgene, schadet.
BRIGITTE: Wie stoßen Sie als Familientherapeutin auf ein Geheimnis in einer Familie?
Rosemarie Welter-Enderlin: Es ist ja nicht so, dass mir meine Klienten sagen: Übrigens, wir haben da ein Geheimnis. Manchmal geben sie mir sofort Signale, manchmal erst, wenn sie Vertrauen gewonnen haben.
...................
BRIGITTE: Kinder, die von ihren Eltern von einem Geheimnis ausgeschlossen werden, merken dennoch, dass etwas in der Familie nicht stimmt. Lässt sich das erklären?
Rosemarie Welter-Enderlin: Es gibt immer tausend kleine Hinweise auf etwas Verstecktes. Beispielsweise eine Familie mit einem 15-jährigen Sohn. Der Junge spinnt, sagt die Familie, immer im Herbst, nach den großen Ferien, ist er durcheinander, klaut, ist nicht ansprechbar. Bei unseren Gesprächen mit einer Kollegin kommt heraus, dass dann auch die Mutter immer depressiv ist. Und beim Verfolgen dieses Fadens fragt sie: Ja, was ist denn um die Jahreszeit? Da erzählt die Mutter: Vor 14 Jahren, Anfang Oktober, ist mein erster Mann, der Vater des Jungen, tödlich mit einem Sportwagen verunglückt, den er geklaut hatte. Er war betrunken, und dieser Tod war so beschämend, dass ich den Rat meiner Mutter befolgt und es niemandem erzählt habe, auch nicht meinem zweiten Mann.
BRIGITTE: Er hat also eine junge Witwe mit einem Säugling geheiratet und sich nie nach dem Tod des ersten Mannes erkundigt?
Rosemarie Welter-Enderlin: Nie getraut. Es blieb ein Tabu zwischen den beiden. Die wahre Geschichte erzählte sie nicht, sondern nur, dass ihr erster Mann tödlich verunglückt war.
BRIGITTE: Wieso spinnt der Junge im Herbst, wenn er doch von nichts etwas weiß?
Rosemarie Welter-Enderlin: Mit der Zeit organisiert das Geheimnis das ganze alltägliche Verhalten. Und wenn man mal begonnen hat, Geschichten zu erzählen, die nicht ganz stimmen, dann muss man scharf darauf achten, dass man diese Geschichten immer wieder kompatibel mit den Fortsetzungen macht - und das ist unheimlich anstrengend. Der Junge hat gespürt, dass mit seiner Mutter etwas nicht in Ordnung war, und hat auf seine Weise reagiert. Die Wahrheit zu erfahren war dann für alle eine große Erleichterung.
BRIGITTE: Da hütet ein Mitglied der Familie ein Geheimnis, und die anderen reagieren darauf, ohne zu wissen, warum sie sich so merkwürdig verhalten?
Rosemarie Welter-Enderlin: Für mich ist das, was in Familien mit solchen Geheimnissen geschieht, wie eine Hintergrund-Musik, zu der sie ihren schmerzhaften Tanz tanzen. Eine Musik voller Geheimnisse und Lügen, wobei die Tänzer die Melodie oft gar nicht kennen, nach der sie sich bewegen.
BRIGITTE: Wann sollte man Geheimnisse für sich behalten und wann auf gar keinen Fall?
Rosemarie Welter-Enderlin: Wenn es gefährliche Geheimnisse sind wie eine erbliche Krankheit, wenn jemand HIV-positiv ist und davon seinen Partnern nichts verrät, wenn Gewalt und Missbrauch in der Familie vorkamen - das sind ganz böse und gefährliche Geheimnisse, die zu Sprengsätzen werden können, wenn sie nicht gelüftet werden.
...................
BRIGITTE: Geheimnisse haben doch immer auch damit zu tun, was eine Gesellschaft akzeptiert, verbietet oder verdammt. Wir brauchen doch gar keine Geheimnisse mehr - wir sind doch so liberal, so tolerant, so offen.
Rosemarie Welter-Enderlin: Nein... (lacht) Wir sind überhaupt nicht offen! Wir predigen einerseits Offenheit, aber wenn es dann wirklich an die eigene Haut geht, ist selten jemand offen. Außenbeziehungen? Kein Problem! Aber wenn es gestanden werden soll, steht dann einfach viel zu viel auf dem Spiel.
BRIGITTE: Plädieren Sie dafür, immer sofort und gleich die Wahrheit zu sagen?
Rosemarie Welter-Enderlin: Nein. Ich erlebe manchmal bei Paaren, dass derjenige, der eine Außenbeziehung hat, wie ein 15-jähriger nach Hause kommt und beichtet, dass er etwas Schlimmes getan hat. Aber nicht, damit das Problem gelöst werden soll, sondern um sich reinzuwaschen. Er erhofft also Absolution. Diese Art der Wahrheit ist ein Schmarren und bewährt sich nicht. Ich habe keine Idee, wie das allgemein richtig gemacht werden kann. Ich meine einfach, in Situationen, wo man dem anderen wirklich schadet, da muss etwas eröffnet werden. Aber es gibt eine richtige und eine falsche Zeit, ein Geheimnis zu lüften. Die schlimmste Zeit ist bei einem Familientreffen, also vor vielen Menschen. Man sollte ein Geheimnis zuallererst mit dem Menschen in Ruhe besprechen, den es betrifft. Und es auch ertragen und auffangen, dass er wütend wird oder weinen muss.
BRIGITTE: Können wir nicht einfach das, was passiert ist, aus dem Gedächtnis streichen und vergessen?
Rosemarie Welter-Enderlin: Nein. Das Ereignis taucht erst einmal ab wie unter eine Eisdecke, aber es verschwindet nicht. Und sobald dieses Eis brüchig wird, kommt alles wieder hoch. Ich habe häufig Frauen erlebt, die eine Depression bekommen, wenn die Kinder aus dem Haus gehen, und denen genau zu diesem Zeitpunkt die Erinnerung an eine alte Abtreibung wieder hochkommt, die sie nicht bewältigt haben. Kritische Ereignisse sind ja nicht an und für sich kritisch - es ist unsere Bewertung, ob etwas tragisch ist oder nicht. Und wenn man in einer Umgebung lebt, in der eine Abtreibung als große Sünde bezeichnet wird, dann kann man darüber nicht so leicht hinweggehen.
...................
BRIGITTE: Wenn man als Kind jahrelang von einem Geheimnis ausgeschlossen wird - was macht das mit einem Kind?
Rosemarie Welter-Enderlin: Wenn zum Beispiel ein Kind, das adoptiert worden ist, spürt, dass es irgendwie anders ist, und es fragt, und man sagt ihm nicht die Wahrheit, dann kann es passieren, dass das Kind dieses Gefühl generalisiert. Es fühlt sich dann schnell ausgeschlossen und ausgestoßen. Es lässt beim geringsten Anlass Freunde oder Freundinnen fallen. Wird also ein bisschen paranoid, weil es davon ausgeht, das sind auch Lügner und Verräter. Das ist eine ganz schlimme Situation.
BRIGITTE: Spätestens dann, wenn gefragt wird, muss die Wahrheit gesagt werden?
Rosemarie Welter-Enderlin: Unbedingt. ... Wenn solche Geschichten erzählt werden, dann sind sie auch einfühlbar. Man versteht das ganze Gewebe und ist als Kind vielleicht enttäuscht, dass man so eine Geschichte eröffnet bekommt - kann sie aber doch begreifen. Die Geschichten, die verdrängt werden, sind die schlimmen Geschichten. Aber Geschichten, die einen Namen haben, die kann man in sein Leben integrieren.
Das ganze Interview finden sie hier