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Fortschreitende Verirrung | Sich per pedes verlaufen ...

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Ziellosigkeit als Reisetrend
nach einem Foto von: german.people.com.cn
Verirren für Fortgeschrittene

Von Anne Haeming | SPIEGEL.de

Erstens: Gehe zur nächsten Bushaltestelle. Zweitens: Nimm den nächsten Bus, der gen Innenstadt fährt. Drittens: Steige nach zwölf Haltestellen aus. Mit solchen Anleitungen erkunden Reisende spielerisch die Stadt - und entdecken per Zufall Orte, die kein Tourist kennt.

Man sieht sie nur noch sehr selten, diese Touristen mit zerknittertem Stadtplan in der Hand, der sich im Wind wölbt, während sie an Straßenecken mit irritiertem Blick Norden und Süden suchen. Und dann garantiert in die falsche Richtung marschieren.

Das nämlich ist so im 20. Jahrhundert! Denn heute lassen wir uns auf Reisen von Satelliten und ihrem Global Positioning System steuern. Und die Kunst, sich mal richtig gediegen zu verirren, ist eine Art aussterbendes Handwerk.

Doch seit einiger Zeit gibt es eine Gegenbewegung: Menschen, die sich verlaufen wollen. Wie Ellen Keith aus San Francisco. Die Grafikdesignerin hat die "Flaneur Society"  gegründet, eher eine Idee als ein Verein. "Wir gehen doch nur noch an Orte, die uns eine Community empfohlen hat", sagt sie mit Verweis auf Seiten wie "Yelp". Sie, die im Mekka der Silicon-Valley-Typen lebt, sagt: "Es hat mich irritiert, wie anders sich auf einmal alle durch die Stadt bewegen. Mit dem Smartphone nehmen wir den Raum um uns herum nur noch indirekt wahr."



Sich treiben lassen will gelernt sein

Also schrieb sie ein kleines Handbuch: "The Guide to Getting Lost"  - eine Anleitung, um sich besser zu verlaufen. Eine Hilfe für Leute, denen es schwer fällt, sich treiben zu lassen. Und so liest sich ihr Rezept wie eine Spieleanleitung: 

  1. Gehe zur nächsten Bushaltestelle. 
  2. Nimm den nächsten Bus, der gen Innenstadt fährt. 
  3. Steige nach zwölf Haltestellen aus. 
  4. Gehe nach dem Aussteigen nach links. 
  5. Wenn Du einem Mann mit Brille begegnest, dreh Dich sofort um und biege in die nächste Straße links ab.  -  Der Orientierungssinn: außer Gefecht.
Zeit solle man sich lassen, rät Keith, sich auch mal hinsetzen und nur schauen - sechs leere Seiten für Notizen sind angehängt. "In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung", steht vorne in ihrem Handbuch. Das Zitat stammt von dem Philosophen Walter Benjamin, der als eine Art Ober-Flaneur das um die Jahrhundertwende entstehende Großstadt-Schlendern wohl am pointiertesten beschrieb.

Eine App hat Ellen Keith übrigens bewusst nicht aus ihrer Idee gemacht: "Ich habe darüber nachgedacht, ja. Aber es war mir wichtig, dass es eine komplett analoge Erfahrung ist."


Walken auf ausgetretenen Pfaden | S!-Photoarbeit



Spielanleitungen aus der App

Der andere Teil der Gegenbewegung setzt genau darauf: Apps fürs Mobilgerät, um die Selbst-Navigation per GPS zu überlisten. Was wie ein Widerspruch klingt, funktioniert zumindest bei jenen Ideen ganz prima, die dem gleichen spielerischen Prinzip wie Ellen Keiths Flaneur-Projekt folgen. Da ist etwa das etwas sehr minimalistische "Dérivé": Dort findet man Dutzende vergleichbare Anleitungen ("Finde etwas Altes und etwas Neues."), die Zufallsrouten entstehen lassen, für Städte von Abu Dhabi über New York bis Kampala. Jeder kann sich darüber hinaus selbst Spielanweisungen ausdenken und der Community zur Verfügung stellen.

Entdeckungen im Abseits des 
virtuellen Mainstreams - 
Mit etwas mehr interaktivem Witz hat das Künstlerprojekt "Broken City Lab" aus der Nähe von Toronto ihre App "Drift" konzipiert, die explizit dazu anregt, sich an vertrauten Orten zu verlaufen: Es gibt einen eingebauten Kompass, man kann aus der App heraus Fotos machen und sie per Twitter oder E-Mail teilen.

Dagegen kommen Seiten wie "Mosey" und "Detour" eher wie kuratierte Stadtwanderungen daher: Auf "Mosey" teilen Nutzer Lieblingsorte einer Stadt, die man dann mit Blick auf den interaktiven Stadtplan abschlendern kann. Die direkte Suche nach Touren bestimmter Städte ist aber alles andere als intuitiv, nämlich: nicht möglich. Man findet sie nur, wenn man in den Profilen der anderen Nutzer stöbert.

"Detour" ist um einiges aufwendiger (wenn auch bislang nur für San Francisco und Austin): Rund eine Stunde lang dauern die Touren, die einen via Audioguide und Map in unerwartete Ecken lotsen. Eine auf den Spuren von Müll in der Stadt, eine zu den tollsten Konditoreien, eine andere in die Ecken, in denen sich Jack Kerouac, Allen Ginsberg und die anderen Beatpoeten in den Fünfzigerjahren rumgetrieben haben.

Stets zig Ziele vor Augen

Jedoch: In einen "Straßenrausch" wie der Soziologe Siegfried Kracauer Anfang des 20. Jahrhunderts auf seinen Touren durch Paris und Berlin kommt man so nicht. Der Flaneur sei einer, "der ziellos dahinschlenderte und das Nichts, das er um und in sich spürte, durch eine Unzahl von Eindrücken überdeckte", schrieb er. So herum strawanzend, fand er, könne man aus den "Oberflächenphänomenen" der Stadt den Gemütszustand der Gesellschaft ablesen.

Unser Gemütszustand ist eher: Wir fühlen nichts vor lauter Eindrücken, stets zig Ziele zugleich vor Augen - da wird die Suche nach Orientierung outgesourced an Googlemaps. "Wir versuchen alle, von A nach B zu kommen", sagt Ellen Keith. "Aber was, wenn da kein B ist?"

Wer dennoch zaudert, aufs "B" zu verzichten und das Handy-Navi auszuschalten, kann sich von Hobbyläuferin Claire Wyckoff aus Portland inspirieren lassen: Ihre Joggingtouren legt sie so, dass aus den GPS-Spuren Bilder entstehen. Neue Ecken lernt man so garantiert kennen. Nur eines darf man bei dieser Straßenmalerei nicht: sich verlaufen.

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In Stuttgart auf dem Kirchentag konnte man uns vereinzelt wieder sehen, die "Stadtplansucher" - eben auf dem Stadtplan, der dem Kirchentags-Programmheft dankenswerter Weise beigelegt ist: Orientierung und Wegweisung "von oben" sozusagen ... 

Aber das waren meist nur die Kirchentags-Teilnehmer meiner Altersklasse - denn die Jüngeren starrten auf ihre Handys, auf ihre Apps dort, und die Autofahrer auf ihr Navi-Gerät. Aber dabei bekommt man von der "Kulisse" der Stadt selbst, in der man sich gerade befindet, nicht so viel mit: den herrschaftlichen Bürgerhäusern aus der Jugendstil-/Vorkriegszeit, den modern verglasten Kastenbauten à la Bauhaus-Architekten der sogenannten Neuzeit. Man entdeckt nicht die Putten am Fenstersims und die Geranien neben der Wagenfeld-Leuchte hinter dem hohen Fenster in der XY-Straße ... 

Und - was vielleicht noch viel wichtiger ist - wenn man verzweifelnd den Stadtplan drehte und das Ziel nach Laufrichtung oder den Windrichtungen festmachen wollte, wurde man stets von freundlich mitleidigen Einheimischen angesprochen: "Kann ich Ihnen helfen..." - man kam in Kontakt und hörte die "fremde" schwäbische Mundart: "Kann i ihna helfa" - man erfasste als "Norddeutscher", wie ich von den Stuttgartern als Sennestädter/Bielefelder bezeichnet wurde, das unmittelbare "Ausland", in dem man sich befand, mit allen Sinnen ...

Insofern finde ich den SPIEGEL.de-Beitrag vom "Verirren für Fortgeschrittene" ganz prima: In den vorgeschlagenen überlegt voranschreitenden "Fortschritts"-Anweisungen drückt sich eine Nostalgie und Sehnsucht aus, da wird der Orientierungssinn wieder geschärft und die Umwelt wieder wahrgenommen - da werden all die Sinne angesprochen, die der Mensch als futtersuchender über die Steppe laufender Jäger und Sammler vor Millionen von Jahren allmählich ausgebildet hat - und die nun allmählich ins Virtuelle abzugleiten drohten ... Als Völkerwanderer - und insofern ist ja jeder Mensch über Generationen hinweg jemand mit "Migrationshintergrund" - war er drauf geeicht, sich neue Plätze zu suchen, sich immer neu zurechtzufinden ...

Und orientierte sich an Sonne, Mond und Sterne und Windrichtung und später mit dem Kompass - anstatt mit diesen neumodischen "Global Positioning Systems" ...

Und es ist doch wunderschön, von einer Person mit einem normalen menschlichen Sprechwerkzeug "in real life" angesprochen zu werden: "Kann i ihna helfa" ...

Nach einem Foto von dpa/der westen.de


Einen jungen Menschen, der konzentriert und weggetreten auf seine Handy-App starrt und Stöpsel für seine heruntergeladenen Hits in den Ohren hat, hab ich noch nie angesprochen - erfahrungsgemäß erschrecken die sich dermaßen, dass sie geradezu panisch und verstört auf derartige Ansprachen reagieren... - S!

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