Nach dem Kirchentag (Motto: "Soviel du brauchst"...) wieder Zuhause angekommen, lese ich im Internet einige Kritiken der [von uns Spöttern gern so genannten] "ganz frommen", evangelikalen Kreise: Auf diesem Kirchentag in Hamburg wäre zwar viel über Sozialpolitik gesprochen worden - aber viel zu wenig und ohne missionarischem Eifer über Jesus und Gott ...
Zunächst bin ich einfach nur erschrocken: Haben diese Kritiker nicht doch auch recht ... ??? Kommt Jesus, kommt Gott einfach zu kurz - im Programm, in den Themen einer solchen Massenveranstaltung, wie sie der Kirchentag alle zwei Jahre darstellt ...
Doch dann kam mir auch der Gedanke: Wie spricht man heutzutage, in der ausgehenden Postmoderne, zu Gott, mit Gott, über Gott ...??? Wieviel an "Gott" brauche ich bei solch einem Treffen ... Und wieviel an "Substanz" ist da "normal" und ausreichend - was ist das Maß - wie intensiv muss eine GOTTesnähe denn so "im Schnitt" individuell empfunden werden - implizit oder explizit - bei einem solchen Kirchentag ...??? - Soviel du brauchst ... - doch wieviel brauche ich - braucht "man" ...
Was ist dieser Gott, und damit also auch dieser Jesus, für mich ... - habe ich ihn da in Hamburg vermisst - war da trotz allem - eine GOTTesferne...???
In der Abschlusspredigt von Bishop Nick Baines sprach der ja mit einer Gleichnisgeschichte diese Art von "verdeckter" Wahrnehmung Gottes und Jesu auf solcher Art Veranstaltungen an: Der vor 500 Jahren wirkende Allround-Künstler Michelangelo rollte hektisch einen unförmigen Felsbrocken in sein Atelier - und auf die Frage, was das solle, warum diese Hektik, schließlich sei es doch nur ein Fels, antwortete er verwundert: Siehst du das denn nicht: In diesem Brocken steckt doch ein Engel, den ich rasch mit meinen Meißeln und Hämmern "befreien", frei legen muss ...
Du weißt, Herr, dass ich weiß, wie sehr du weißt,
dass ich, um dich zu fühlen, dich erreiche,
und weißt, ich weiß, du weißt, ich bin der Gleiche:
was ists, das uns im Gruße zögern heißt?
Ist wahr die Hoffnung, die du mir gebracht,
und wahr der Wunsch und sicher, dass er gelte,
so bricht die Wand, die zwischen uns gestellte,
verhehltes Wehe hat nun doppelt Macht.
Wenn ich an dir nur liebe, was auch du
am meisten an dir liebst, Herz, zürne nicht.
Das sind die Geister, die sich so umwerben.
Was ich begehr in deinem Angesicht,
dem sehn die Menschen unverständig zu,
und wer es wissen will, der muß erst sterben.
Michelangelo: Sonett an Tommaso de' Cavalieri
Übersetzung: Rainer Maria Rilke
Also auch, wenn manche Menschen nur "Bahnhof" verstehen - oder Unförmiges und Unangemessenes wahrnehmen, steckt bei näherer Betrachtung, näherem Zuhören, näherem Sich-Daraufeinlassen oft ein ganz anderer Kern dahinter - vielleicht sogar die längst erwartete und gesuchte wegweisende Botschaft ...
The Ancient of Days - Der Alte der Tage | William Blake | 1794 |
Jesus selbst hat sich in seinen Gleichnisreden immer wieder - also bereits zu seiner Lebzeit vor 2000 Jahren - solcher Methodik bedient: Ich erzähle euch eine Geschichte - und wenn ihr "Ohren habt zu hören", werdet ihr einen Kern darin bzw. dahinter entdecken, der euch eine neue Sichtweise der Wahrheiten vermittelt ... - im Jetzt und Hier ...
Ja, und ich formuliere das heutzutage so für mich: Ich glaube schon an etwas, was mich da leitet und führt, an etwas, was mir oft "wunderbare Fügungen" zuteil werden lässt - in kleinen unmittelbaren Alltagsnuancen ebenso wie im Großen und Ganzen - wenn ich diese oft nur klitzekleinen Zeichen wahrzunehmen verstehe - etwas, was mich ansieht, in mich hineinsieht, was mich schützt, was ordnet, etwas, was mir den Neuanfang nach einer verfahrenen Situation ermöglicht - etwas, was ich als Göttlich bezeichne, etwas, was in mir spricht, was mich ermahnt, mit dem ich in den Dialog treten kann, mit dem ich kommuniziere ... - ich möchte für mich diesen fernen Gott aus seinem Himmelgefängnis befreien - ihn auf diese Erde zurückholen - und ihn kommunikativ zugänglich, im Hier & Jetzt lebend begreifen versuchen.
Einer ist da, der mich denkt.
Der mich atmet. Der mich lenkt..
Der mich schafft und meine Welt.
Der mich trägt und der mich hält.
Wer ist dieser Irgendwer?
Ist er ich? Und bin ich er?
Mascha Kaléko
Diese zum Teil meditativen Umschreibungen werden besonders in jenen superfrommen christlich-evangelikalen Kreisen oft als säkularisierte Beliebigkeit, als "Patchwork-Religion", beargwöhnt, eben als ein zeitgeistlicher Versuch, aus verschiedenen Stofffetzen etwas "Einheitliches" zusammen zu nähen. Und doch beginnt genau damit schon die Rechtfertigung und die Legitimation meines meinetwegen säkularisierten Vielfalt-Glaubens: Denn im Dogma der DreiEinigkeit: Gott, Sohn und Heiliger Geist - bzw. also sogar in der römisch-katholisch gelebten VierEinigkeit: Mutter Gottes - Gott - Sohn - Heiliger Geist geschieht ja eigentlich etwas ähnliches: Ein patchworkartiges Zusammennähen verschiedener Aspekte dieser einen Gottheit. Hinzu bevölkert im römisch-katholischen Bereich eine mittlerweile unübersehbare Menge an Heiligen den Himmel und in allen Konfessionen flankieren die Engel die Bühne in wichtigsten Funktionen: Also ebenfalls eine zum Teil uralte Flickenteppich-Vernetzung des Göttlichen - wie auch im nichtchristlichen und antikem Bereich. Es war also schon immer so bunt im Himmel - und es bleibt so - obwohl ich für mich schon um Reduktion diesbezüglich bemüht bin ...
In diesem Patchwork-Glaubenstrend liegt also kein religiöses Defizit. Schon gar nicht in dieser Zeitepoche in der ausgehenden Postmoderne, die ja geradezu gekennzeichnet ist von vernetzten Vielfalts-Programmen und Patchwork-Identitäten (Buchtitel: "Ich bin Viele" - "Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?"). Im Gegenteil: Es ist der Abschied von der unkritischen Übernahme religiöser Dogmen - der Abschied von einer als irrtumsfrei und in jeder Beziehung bindend angesehenen Autorität der Bibel, die doch nachweislich reines Menschenwerk mit jeweiligem gruppengesteuerten politischen Kalkül ist - und der Einstieg in die erwachsene Selbstverantwortung für eigene "egoistische" Glaubensinhalte.
Ich hab mich ziemlich losgelöst aus diesen regelmäßigen immer wiederkehrenden frommen lokalen Gemeindestrukturen, weil deren soziale und spirituelle Kontrolle dadurch einfach zu eng war und persönliche Weiterentwicklung in dieser Hinsicht verhungerte, und hab dann langsam angefangen, zu entdecken, dass es eine Spiritualität jenseits bzw. nebenher davon gibt, die offener und egoistisch/eigenständiger und für mich im Innersten buchstäblich be-friedigender - das aber im allerbesten Sinne - ist.
Und Jesus sagt schon:
"Wenn du beten willst, dann geh in dein Zimmer, schließe die Tür zu. Gott, der auch das Verborgene sieht, wird dich dafür belohnen. Wenn Du betest, dann leiere nicht ausgelatschte Gebetsworte mühlenartig herunter, wie manch andere, die meinen, sie könnten bei Gott etwas erreichen, wenn sie viele und immer die gleichen Worte und Floskeln murmeln. Du kannst es anders halten. Dein Gott weiß, was du braucht, bevor du ihn bittest." (Mt. 6,6)Ja - die Kirchen meinen, ganz privilegiert und alleingültig Bescheid zu wissen über Gott. Sie meinen, seinen Gemütszustand zu kennen, ob er gütig oder zornig ist, und sie haben das mehr oder weniger in dogmatische Formeln gefasst, die sie jetzt in ihre "Verkündigung" einflechten - und sie wundern sich, dass viele Menschen gegenüber diesen Gottesbeschreibungen unempfindlich bleiben und nur noch mit dem Kopf schütteln ...
Die "alltäglichen" Sonntags-Gottesdienste der Kirchen lassen in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und in den Predigten und Textandachten allzuoft kaum noch den Gedanken anklingen, dass sie doch "verstanden" werden wollen, dass sie mit dem gegenwärtigen Leben und den gegenwärtigen Gegebenheiten zu tun haben sollten - und/oder aber einer Kontemplation dienen sollten - stattdessen aber allzuoft etwas längst Befremdliches, etwas mit der tatsächlichen Lebenswirklichkeit und den Sehnsüchten nach Innerlichkeit nicht mehr Verifizierbares, verkünden.
Das ist in den Veranstaltungen eben dieser Kirchentage anders: Gerade mit und durch die persönlich nachvollziehbareren oft recht nahen aktuellen sozialen, politischen und psychologisch-geprägten Inhalte lässt sich der Gott in seiner Vielfalt neu entdecken. Denn hier zieht er sich nicht einfach raus - und lässt die Menschen ohne ihn vor sich hin wurschteln. Er ist da mittendrin - in jedem einzelnen Beteiligten - und es bleibt genügend Raum für eine stille Innerlichkeit und Begegnung ... Und mich schützt die Anonymität in der Masse der Kirchentagsbesucher vor der Vereinnahme durch ganz bestimmte Kreise - und vor allzu enger sozialer und spiritueller Kontrolle ... - ich kann mit "meinem" Gott in der Zwiesprache bleiben und mit ihm unseren gemeinsamen Weg gehen ...
Und was hat der Präsident des diesjährigen Evangelischen Kirchentages, Gerhard Robbers, in der Abschlusspredigt somit völlig zu Recht gerufen:
"Für viele hier hat sich der Glaube vertieft. Eine Fülle von seelsorgerlichen Gesprächen hat es gegeben und persönliche Glaubensgespräche.
Nehmt mit nach Hause, was Ihr auf diesem Kirchentag erlebt habt. Was Ihr erfahren habt.
Lasst Kirchentag sein über diesen Kirchentag hinaus."
Die spirituellen Krisen vieler Menschen scheinen eng mit ihrem vielleicht zu engen Verständnis von Gott verknüpft zu sein. Wer sich den Gott als immer gütig, allmächtig und gerecht bzw. zumindest willkürlich und launenhaft vorstellt, hat es schwer, die Gottesferne in Zeiten von Holocaust und allgegenwärtigem Elends zu ertragen. Der Theologe und Religionspädagoge Andreas Benk nennt sein Buch zum Gottesbild der Gegenwart: Gott ist nicht gut und nicht gerecht. Zum Gottesbild der Gegenwart. Patmos. Düsseldorf 2008/12.
Was im ersten Augenblick ketzerisch klingt, ist nicht als Provokation gemeint, betont Andreas Benk: "Wer meint mit dem Gebet über Gott verfügen zu können, für den gilt, was Erich Fried gesagt hat: 'Wer weiß, zu welchem Gott er betet, wird nicht erhört'."
Benk verweist auf ein Verständnis von Gott, dass der Mystiker Meister Eckhart bereits vor rund 800 Jahren ausgesprochen hat:
"Gott ist gut, Gott ist weise, Gott ist unendlich, Gott ist gerecht, das alles ist so unsinnig, als wenn ich das Schwarze Weiß nennen würde. Du bist es, was du über deinen Gott denkst, und lästerst ihn, wenn du ihn damit behängst. Nimm ihn ohne Eigenschaft als überseiendes Sein und eine überseiende Nichtheit." Meister Eckhart (ca. 1260 - 1328)
Die "negative Theologie"
Theologen wie Andreas Benk bekennen sich heute in der Nachfolge des Neuplatonismus, Meister Eckharts und Nikolaus von Kues zu einer "negativen Theologie". Sie plädiert für eine erneuerte Gottesrede, die den Anforderungen in der religiösen Erziehung, dem Verhältnis zu den Naturwissenschaften und dem Verständnis des Menschen gerecht wird:
"Negative Theologie ist nichts Destruktives. Sie erinnert an den Vorbehalt, der jedem Versuch, über Gott zu sprechen, immer mitgegeben ist. Alle unsere Vorstellungen von gut, barmherzig, sind ja immer menschlichen Vorstellungen entnommen. Aber weil sich diese Begriffe auf unsere Welt beziehen, sind sie unangemessen für Gott.
Und da versucht nun negative Theologie zu sagen: wir müssen diese Begriffe, die wir auf Gott anwenden, immer wieder zurücknehmen - negieren, daher der Name - und sagen: Gott ist eben nicht so gerecht, wie wir uns gerecht und gut vorstellen. Gott ist eben kein Vater, keine Mutter nach menschlichen Vorstellungen."
Im Sinne der negativen Theologie ist das göttliche Wesen das schlechthin "Unbekannte" das "ganz Andere", ein Wesen, das über alle Bestimmungen erhaben ist. Nach der negativen Theologie wird nur gewusst, dass Gott ist, nicht aber was er ist. Das Denken und Reden über Gott wird so beschränkt, indem alle positiven Aussagen konsequent als unangemessen kritisiert und verworfen werden. Nur negative Aussagen können als wahr betrachtet werden.
Jedoch sind die Begriffe "positiv" und "negativ" dabei nicht in einem wertenden Sinn gemeint.
Bei Zuschreibungen wie "Gott ist gut" oder "Gott ist das Gute" - "Gott ist lieb" - "Lieber Gott, mach mich fromm ...", werden Vorstellungen, die aus dem Bereich menschlicher Erfahrung stammen, auf Gott übertragen.
Die negative Theologie lehnt eine solche Vorgehensweise ab und begründet dies mit der Behauptung, es sei prinzipiell unmöglich, bei positiven Aussagen Gottes absolute Transzendenz angemessen zu berücksichtigen. Die Unangemessenheit menschlicher Vorstellungen und die Unwahrheit der auf ihnen basierenden Aussagen über Gott sei das einzige, was bezüglich Gott als zutreffend bestimmt werden könne. Somit seien nur negative Aussagen, also Verneinungen positiver Aussagen, legitim. Die systematische Beseitigung der irrigen positiven Vorstellungen sei eine unerlässliche Voraussetzung für ein wirklichkeitsgemäßes Verhältnis des Menschen zu Gott.
Die Verneinung positiver Bestimmungen ist nicht als Bejahung von ihnen entgegengesetzten Bestimmungen zu verstehen. Die Aussage, Gott könne nicht als gut bezeichnet werden, bedeutet nicht, dass er als schlecht bezeichnet wird. Vielmehr lehrt die negative Theologie, Begriffe wie "gut" und "schlecht" seien auf Gott nicht anwendbar.
Der Theologe Karl Rahner formuliert es so:
"Wir reden von Gott, von seiner Existenz, von seiner Persönlichkeit. Aber bei diesem Reden vergessen wir dann meistens, dass eine solche Zusage immer nur dann einigermaßen legitimiert von Gott ausgesagt werden kann, wenn wir sie gleichzeitig auch immer wieder zurücknehmen, die unheimliche Schwebe zwischen Ja und Nein als den wahren und festen Punkt unseres Erkennens aushalten und so unsere Aussagen immer wieder hinein fallen in die schweigende Unbegreiflichkeit Gottes selber."
Foucault pendulum animated - WIKIPEDIA |
So etwas wie Gott - eben als diese "unheimliche Schwebe zwischen Ja & Nein als den wahren und festen Punkt unseres Erkennens auszuhalten" ist beispielsweise symbolisch vielleicht mit dem kurzen Augenblick - dem Punkt/der Null - des scheinbaren Innehaltens auf dem Nichts in der Mitte eines Foucaultschen Pendels darstellbar, wenn der sich im Moment exakt senkrecht zwischen seinen Ausschlägen im Hin und Her und Rundherum befindet ...
Der Mensch ist jedoch ein dialogisches Wesen. Da ihm das "Du" als Anrede eines Gegenübers so vertraut ist, sprechen auch Menschen, die kein personales Gottesbild haben - vielleicht sogar Atheisten - das große Ganze manchmal mit einem "Du" an.
Gott ist für mich und andere also genauso imaginär wie der vielleicht verstorbene leibliche Vater, der jetzt physisch nicht mehr da ist, aber irgendwo und irgendwie doch dabei ist - oft mitgedacht wird.
Und da ist so ein Ahnen, dass es etwas Größeres gibt als das, was wir Individuum nennen, etwas Allumfassendes, etwas Alldurchdringendes, etwas Allgrundlegendes, Allumgebendes, Allumarmends ...
Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen,
du Dämmernde, aus der der Morgen stieg.
Wir holen aus den alten Farbenschalen
die gleichen Striche und die gleichen Strahlen,
mit denen dich der Heilige verschwieg.
Wir bauen Bilder von dir auf wie Wände;
so daß schon tausend Mauern um dich stehn.
Denn dich verhüllen unsre frommen Hände,
sooft dich unsre Herzen offen sehn.
Rainer Maria Rilke
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Alle, welche dich suchen, versuchen dich.
Und die, so dich finden, binden dich
an Bild und Gebärde.
Ich aber will dich begreifen
wie dich die Erde begreift;
mit meinem Reifen
reift
dein Reich.
Ich will von dir keine Eitelkeit,
die dich beweist.
Ich weiß, dass die Zeit
anders heißt
als du.
Tu mir kein Wunder zulieb.
Gieb deinen Gesetzen recht,
die von Geschlecht zu Geschlecht
sichtbarer sind.
Rainer Maria Rilke
(unter Verwendung von Anstößen und Materialien aus dem Manuskript zu: WDR | Lebenszeichen | Preisen, bitten, zweifeln - horchen -Wie Menschen heute mit Gott sprechen | Von Burkhard Reinartz | 06.04.2012 - WIKIPEDIA)