Forschungen zur Patchwork-Religion
„Das Ergebnis ist Patchwork"
Der Religionspädagoge Hans-Georg Ziebertz beschreibt die Pluralisierung des Glaubens und die Chancen der Amtskirche
FOCUS: Herr Professor Ziebertz, laut FOCUS-Umfrage glauben fast zwei Drittel der Bevölkerung, dass Gott oder ein höchstes Wesen existiert. Dennoch ist die Zahl der Kirchenaustritte konstant hoch, Gotteshäuser stehen neuerdings sogar zum Verkauf. Wie halten es die Deutschen mit der Religion?
Ziebertz: Viele Wissenschaftler, Politiker und Kirchenvertreter stimmen der These zu, dass seit der Neuzeit in der westlichen Welt etwas stattfindet, was sie Säkularisierung, also Verweltlichung, nennen. Vor allem religiöse Institutionen sind davon betroffen. Auf der anderen Seite erleben bestimmte kirchlich gebundene Religionspraktiken wie Pilgerfahrten oder andere religiöse Events durchaus Zulauf. Zudem erkennen wir, verbunden mit einem Verlust der Breitenwirkung der Volkskirche, eine Erstarkung religiöser Spezialbekenntnisse. Anstatt von einer linear verlaufenden Säkularisierung spricht man daher heute besser von religiöser Pluralisierung.FOCUS: Wie äußert sich dieser Pluralismus genau?
Ziebertz: Erstens gesellschaftlich in einem stärkeren Gewahrwerden einer Vielzahl von Religionen, so wie etwa der Islam hierzulande zu einer bewussteren Größe wird. Zweitens in einem Bedeutungswandel der religiösen Institutionen, die heute sehr viel stärker nach einem funktionalen Nutzen aufgesucht werden. Und schließlich in einer Vielzahl religiöser Stile, die sich mit den Offerten der Kirche teilweise decken, manche Inhalte, Symbole und Rituale aber bewusst neu deuten.FOCUS: Welche Grundfunktion hat Religion heute?
Ziebertz: Moderne Menschen verfügen über keinen einheitlichen weltanschaulichen Baldachin mehr, der das Leben ordnet. Sie müssen Sinn selber herstellen. Es gibt offenbar den Bedarf, sich an etwas zurückzubinden, Verlässlichkeit zu haben und sich nicht nur als Zufallsprodukt der Evolution zu verstehen.FOCUS: Aber auch die Politik, die Wissenschaft oder die Ökonomie bieten Verlässlichkeit an.
Ziebertz: Ob gerade diese Bereiche für Verlässlichkeit stehen, möchte ich bezweifeln. Klar ist, dass mit der Differenzierung der Welt die Religion ihre Rolle als einheitliche Spenderin einer Weltanschauung verliert. Soziologisch gesehen, bildet Religion einen gesellschaftlichen Sektor auf einer Stufe mit der Wissenschaft oder auch der Wirtschaft. Sie übergreift nicht mehr die anderen Lebensbereiche. Damit verliert sie zwar an Einfluss, kann dafür aber reiner und entschiedener gelebt werden. Die Folge ist: Menschen leben in verschiedenen Subsystemen mit verschiedenen Codes. Die Integration dieser einzelnen Codes wird zu einer individuellen Angelegenheit. Das Ergebnis ist Patchwork.FOCUS: Wie positioniert sich die Amtskirche auf diesem Sinnmarkt?
Ziebertz: Die Kirchen haben es schwer, ihre Perspektive auf das Leben, auf den Tod, auf das Überleben modemitätsgerecht und einladend zu formulieren. Sie erwecken bei nicht wenigen Zeitgenossen den Eindruck, ihr Ziel läge in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft. Zudem wirken weite kirchliche Bereiche kaum vorbereitet, sozusagen religionsfähig zu sein, die modernen Fragen und Hoffnungen zu verstehen, mit ihnen umzugehen und ihnen angemessene Angebote zu machen. Zurzeit regiert unter manchen Kirchenführern eher die Angst, die zum Rückzug aus der Fläche in die bekenntnisfrohe Nische aufruft.FOCUS: Vielleicht wollen diese Kirchenführer Kreuz, Gnade und Erlösung nicht zu Versatzstücken degradiert sehen?
Ziebertz: Klar ist, dass die beiden großen Kirchen nicht mehr Volkskirchen im Sinne der Zeit bis zu den 60er- und 70er-Jahren sind. Gleichwohl sollten sie die Haltung bewahren, Kirche des Volkes zu sein. Einmal der Sendung der Kirche wegen, zum anderen, um der Gefahr des Sektierertums zu begegnen. Ich sehe nicht, warum eine solche Kirche eine Zeitgeist-Kirche sein muss. Die Kirche sollte das Problem, wie man heute moderner Zeitgenosse und zugleich Christ sein kann, nicht vorentscheiden, sondern zum Thema machen.FOCUS: Sie messen dem Einzelnen die Aufgabe zu, Sinn für sich herzustellen. Kann es in Sachen Erlösung und Ewigkeit wirklich den Selbstversorger geben?
Ziebertz: Grundsätzlich gilt: Bedeutung hat, was individuell als sinnvoll und tragfähig erlebt wird. Der Glaube kann Berge versetzen - das gilt sicher heute auch für eine Marke. Wer Nike trägt und wer Harley-Davidson fährt, fühlt anders.FOCUS: Heißt das, Feuerstuhl und Heiliger Stuhl sind als Orientierungshilfen gleichermaßen plausibel?
Ziebertz: Als aktiver Christ und Theologe bin ich überzeugt, dass zwischen Markenerlösung und Erlösung durch den Zuspruch Gottes langfristig ein qualitativer Unterschied bemerkbar ist. Dass etwas Kontingentes hilft, Kontingenz zu bewältigen, ist eine problematische Vorstellung. Für das Nichtkontingente steht im Christentum, Judentum und Islam die Chiffre „Gott".FOCUS: Könnte es mit unserem Glauben wieder ernster werden, da sich anderswo neue religiös bestimmte und kampfbereite Fronten formieren?
Ziebertz: Die Frage nach Identität taucht gerade dann auf, wenn Unterschiede sichtbar werden und Vertrautes unter Druck gerät. In gewissem Sinn geschieht das gerade mit der westlichen Welt. Ein eigentlich harmloses Kleidungsstück wie das Kopftuch wird zu einem Politikum. An diesem Gegenstand wird eine Klärung versucht, welche Prägung unser Land haben soll und welche nicht. Es ist insbesondere der politische Islam, der die Rückfrage nach den christlichen Wurzeln Europas evoziert. Die Vorstellung davon, was eine multireligiöse Gesellschaft sein kann, wird derzeit neu formuliert. Zur Idee der Harmonie gesellt sich als Schlüsselbegriff der „Konflikt". Wir sind kritischer und vorsichtiger geworden, was uns aber nicht abhalten sollte, den ohnehin unvermeidlichen Dialog zu forcieren.Hans-Georg Ziebertz (geb. 1956) lehrt als Professor Religionspädagogik
und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Würzburg.
Zuletzt veröffentlichte er die Bücher „Religion, Christentum und Moderne" (1999),
„Religiöse Signaturen heute" (2003). - Text insgesamt aus: FOCUS 16/2004
Nach Auffassung der Bielefelder Wissenschaftlerin Barbara Keller gibt es einen Trend zu "individueller Patchwork-Religion".
Ein Universitätsprojekt erforscht die Patchwork-Spiritualität.
In der Gesellschaft nimmt nach Auffassung der Bielefelder Wissenschaftlerin Barbara Keller ein Trend zu «individueller Patchwork-Religion» zu. Dabei würden sich die Menschen ihren eigenen Glauben aus unterschiedlichen Quellen zusammenstellen.
«Das Bedürfnis nach Religion nimmt nicht ab», beteuert die Psychologin. Die Art der Spiritualität verändere sich jedoch. Keller koordiniert ein Projekt zur Erforschung von Spiritualität in Deutschland und in den USA.
Religiosität erfassen
Kern der angelegten Untersuchung sei es, herauszufinden, was Spiritualität und Religiosität den Menschen sowohl in Deutschland als auch in den USA bedeute, erläuterte Keller. Religiosität lasse sich auch wissenschaftlich erfassen. «Wir gehen aber davon aus, dass es nicht die Religiosität gibt, sondern dass sie sehr unterschiedlich aufgefasst, gelebt und verstanden wird», sagte Keller weiter. Zudem gingen die Wissenschaftler des Projektes davon aus, dass sich Religiosität im Laufe des Lebens ändern könne.
Vermischung
Der angenommene Rückzug der Religion ist nach Auffassung Kellers widerlegt. «Wir können heute mit Sicherheit sagen, dass die These von einer zunehmenden Säkularisierung nicht stimmt», erklärte die Wissenschaftlerin. Stattdessen komme es zu einem Austausch und einer Vermischung von religiösen Anschauungen. So hätten heute deutsche Kinder bereits im Kindergarten mit gleichaltrigen Muslimen zu tun.
Auch gebe es Priester, die sich zugleich mit Zen-Buddhismus befassten. Im Gegensatz zu früheren Generationen seien heute auf einem «religiösen Markt» mehrere Angebote gleichzeitig verfügbar.
Erlebte Spiritualität
In dem gemeinsamen Projekt der Universität Bielefeld mit mehreren Universitäten in den USA solle auch der Zusammenhang von erlebter Spiritualität und eigener Biografie beleuchtet werden. Befragt werden sollen sowohl in Deutschland wie auch in den USA jeweils 700 Menschen. Erreicht werden sollen sowohl kirchlich engagierte als auch der Kirche fern stehende Menschen. Zudem sollen Anhänger anderer Religionen wie beispielsweise Muslime einbezogen werden. In einem Vorgängerprojekt wurden laut Keller die Hintergründe erforscht, warum Menschen ihrer Religionsgemeinschaft den Rücken gekehrt haben.
Webseite:
http://www.uni-bielefeld.de/spiritualitaet