aufgefischt |
Zwei Kindermenüs zum Preis von einem ...
Das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo" benutzt das Motiv des toten Flüchtlingsjungen Aylan (†3) als Vorlage für zwei Karikaturen
S!NEDi|art: Strandgut in Bodrum ... |
Der dreijährige Aylan Kurdi liegt tot am Strand. Das Foto der türkischen Fotografin Nilüfer Demir am Strand von Bodrum ist inzwischen bereits zu einem Emblem der Flüchtlingskrise geworden - und auch ich habe ja an einer Nachempfindung zu dieser eindrücklichen Bildikone gearbeitet (s.o.) ...
Und doch - jetzt ist diese Katastrophe unter den vielen Hundert tödlichen Katastrophen dieser Tage zum Thema zweier Karikaturen im französischen Satiremagazin "CHARLIE HEBDO" (Stichwort: "JE SUIS CHARLIE") geworden. Auf einer ist ein Motiv zu sehen, das dem Bild des toten Aylan (†3) am Strand von Bodrum offensichtlich nachempfunden wurde... Auf dem Strand daneben steht ein Werbeschild, darauf ist ein einladendes Clownsgesicht zu sehen, das an die frühere Ronald-McDonald-Figur einer Fast-Food-Kette erinnert. Dort steht auf Französisch: "Angebot: Zwei Kindermenüs zum Preis von einem".Überschrieben ist die Karikatur mit dem Ausruf: "Willkommen, Flüchtlinge! SO NAH AM ZIEL ...".
Und auch in einer zweiten Karikatur geht es um die toten Flüchtlingskinder (der Bruder des kleinen Aylan lag ca. 100 Meter weiter im Sand - ebenfalls tot angespült). Unter dem Titel "Der Beweis, dass Europa christlich ist" sieht der Betrachter eine Art Jesus Christus, der übers Wasser läuft, daneben taucht die Sprechblase auf: "Die Christen gehen übers Wasser". Neben Kinderbeinen, die aus dem Wasser ragen, heißt es: "Muslimische Kinder ertrinken". Beide Zeichnungen stammen von Laurent "Riss" Sourisseau, dem Karikaturisten, dem beim Anschlag auf das Satire-Magazin im Januar 2015 in die Schulter geschossen wurde.
Beide Karikaturen sind hart, ganz besonders jene mit dem toten Aylan. Sie schockiert. In den sozialen Netzwerken wird die Zeichnung mindestens als zynisch bezeichnet.
Einige behaupten, sie sei eine Verhöhnung des Kindes und seines Schicksals. Aber ist sie das tatsächlich...? Steckt nicht eine satirisch durchaus legitime wenn auch bitterböse Attacke auf das westliche Europa darinnen?
Kinder als Konsumenten werden umworben, Kinder als Flüchtlinge werden alleingelassen bis zum Tod durch Ertrinken und dann als Strandgut angespült.
Und dann werde, so die Suggestion der Jesus-über-dem-Wasser-Zeichnung, auch zwischen den Flüchtlingen nach Religionszugehörigkeit unterschieden - Christen viel gut, Muslime viel Pech.
Die überwiegende Mehrheit der Reaktionen bei Twitter und Facebook ist negativ. "Immer noch 'Je suis Charlie'?", fragt ein Nutzer. Na-ja - damit verliert "Charlie Hebdo" vielleicht viele Sympathiepunkte, aber kann ein Satiremagazin "gut" sein, das auf Sympathie aus ist und nach allen Seiten offen? Wer nach allen Seiten offen ist - ist nicht ganz dicht ... lautet dazu ja auch ein passender Spruch aus dem "Volksmund" ...
Bei dem islamistischen Terroranschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ wurden im Januar in Paris zwölf Menschen getötet. Darunter waren die Zeichner Charb, Wolinski, Cabu, Tignous und Honoré, die zu den besten Karikaturisten Frankreichs gehörten. An diesem Donnerstag wird die Zeitschrift in Potsdam mit dem M100 Media Award ausgezeichnet, mit dem das Recht der freien Meinungsäußerung gewürdigt wird. Chefredakteur Gérard Biard wird den Preis auf der Medienkonferenz M100 Sanssouci Colloquium entgegennehmen. Seit dem Anschlag arbeitet das Team in Paris im Haus der Tageszeitung „Libération“. Demnächst sollen die Mitarbeiter in neue eigene Räumlichkeiten umziehen, wie Biard sagte. Ein neues Konzept für das Blatt gebe es nicht. „Wir setzen das fort, was wir bisher gemacht haben.“ Weltweit solidarisierten sich damals Menschen mit der Zeitung und ihren Mitarbeitern - unter anderem mit dem Slogan „Je suis Charlie“ („Ich bin Charlie“). „Heute bekommen wir dieselbe Kritik und dieselben Vorwürfe, die ich 'Ja, aber....' nenne : 'Ja, der Terrorismus ist nicht gut, aber.... ihr seid vielleicht zu weit gegangen'. Das haben wir immer gehört, und das haben wir sehr schnell wieder gehört“, sagte Biard.
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Nun - wie oben bereits ja abgebildet und notiert - ich war und bin immer noch vom Schicksal des 3-jährigen Aylan und seines Bruders angerührt - und ich habe deshalb dann auch meine Bearbeitung zu dieser Bildikone vorgelegt - mit der ich mich aber auch selbst etwas abreagiere - von meiner Trauer und Aufgebrachtheit insgesamt über diese vertrackten Flüchtlings- und Vertriebenensituationen und den damit verbundenen täglich neuen Ungeheuerlichkeiten auf allen Seiten ... - das Originalbild ist ein Foto der türkischen Fotografin Nilüfer Demir am Strand von Bodrum, von dem man meint, es werde sich in die Augen und Herzen der Menschen als Symbol für diese Flüchtlingsepoche "einbrennen" ...
Und - vor einem guten halben Jahr noch haben wir alle den Faustarm nach oben gereckt - und geschrien: "JE SUIS CHARLIE" - ICH BIN CHARLIE - und die Karikatur und die Satire als Kunstform vehement verteidigt - und ich habe mich echauffiert über das gestellte Seitenstraßenfoto, auf dem die europäische Politprominenz für geschlagene 15 Minuten so getan hat, als marschiere sie tief betroffen in der ersten Reihe mit beim stundenlangen überwältigenden Protestmarsch durch Paris gegen diesen mörderischen Anschlag auf "CHARLIE HEBDO" - mit Live-Übertragungen in ganz €uropa ...
- Und hinterher versuchte man uns einzureden, man habe diese kaschierte "Polit-Trauer Marke €" aus "Sicherheitsgründen" so inszenieren müssen - und der TAGESSCHAU-Chefredakteur hat den raffiniert dramaturgisch getürkten Bild-Zusammenschnitt mit der Scheinwirkung von echter Marschkolonne und "trauernder Politprominenz" in der ersten Marschierer-Reihe hinterher zu rechtfertigen versucht ...Das war wenigstens mein "CHARLIE HEBDO"-Erlebnis: eine echte Trauer und Wut beim Volk und bei mir, dem Fernsehglotzer - und eine hingeheuchelte Trauer mit anschließendem kleinen Klassentreffen bei der Polit-Prominenz ... - diesmal eine echte und einzige Real-Satire ...
Und nun diese beiden Karikaturen, bei denen es einem zunächst einmal kalt den Buckel herunterläuft - aber gleichzeitig ein eigentlich ungebührliches Situationskichern hochkommt, wie bei den oft etwas schrägen Leuten, die bei ihnen nahegehenden Trauerfeiern - oftmals noch am offenen Grab selbst - mit einem Lachen und Kichern reagieren, und das dann schnell hinter dem tatsächlichen "Überwältigtsein" mit vorgehaltener Hand und Sonnenbrille zu verstecken suchen - um so vielleicht einen Aspekt der Intimsphäre zu schützen - und einfach im Augenblick nur im Paradox reagieren zu können... - ein Lachen, um nicht einfach loszuheulen ... - meiner Meinung nach als eine Form von weggedrückter nicht zugelassener Scham ...
Und ähnliche Beweggründe unterstelle ich auch mal ganz allgemein der Karikatur insgesamt - der guten Satire - dem tragischen Clown vielleicht - vielleicht auch der "Tragikomödie" als Kunstgattung überhaupt ...: alles, um Momente eines einfrierenden Lächelns zu erzeugen - bzw. um umgekehrt einen inneren eingefrorenen Ernst wieder aufzutauen ... - und das ist schon noch etwas anderes, als über eine anrührende Situation einfach oberflächlich hinwegzulachen - eine Sache mit ihrem Dafür und Wider mit all ihren Aspekten wird "auf den Punkt gebracht": Auch vielleicht im Sinne dieses lapidaren: "Das Leben geht weiter - kopfhoch ...- halt die Ohren steif ... - das wird schon wieder - du schaffst das schon" - was ja als First Aid neue Kräfte mobilisieren soll nach einem emotionalen inneren Bruch ... Und Frau Bundeskanzlerin Merkel ruft ja zur Zeit auch dem in dieser Angelegenheit oft (ver-)zweifelnden Volk entgegen: "Wir schaffen das" - Augen zu und durch: "Geh ins Offene" ...
Eine wirklich gute Karikatur, wirklich gute Straßenkunst - wirklich gute Graffitis - provozieren ja zunächst einmal ein Innehalten - eine dann folgende Konfrontation und eine "Auseinander-Setzung" mit der vorgefundenen Situation - das kommt dann oft wie "der Blitz aus heiterem Himmel" - und dann folgt folgerichtig der Donner, das Grollen - und manchmal der Groll: Das Wahrnehmen - das tatsächliche Gewahrwerden dessen, was uns diese Situation da tatsächlich zu sagen hat - was sie alles in uns anrührt... (interessant ist in diesem Zusammenhang die sprachliche Nähe von "Gewahr"-werden und "Gefahr"-erkennen...) - das alles kann man nicht in den Sozialen Netzwerken in Sekundenbruchteilen beim Surfen ableisten und mit einem abschließendem Urteil abhaken - Karikatur und Satire brauchen so lange Zeit wie zwischen Blitz und dem nachfolgenden Donner eines vielleicht etwas entfernteren Gewitters - und manchmal "fällt der Groschen ja nur Pfennigweise" ... - wie man früher sagte - bzw. das 10-Cent-Stück nur 1-Cent-weise ...
Papst vor Lampedusa |
Und Karikatur und Satire halten wie der Till Eulenspiegel einem immer den Spiegel vor, in dem man sich gern als makellosen und pickelfreien und frisch aufgeputzten Narzissten betrachten möchte, aber oft ist es eben nur ein Zerrspiegel in dem man da blickt: Ein totes Kind lässt uns schlucken - die vielen tausend Wasserleichen verschmähen wir täglich, die Mittelmeer-Wasserleichen, für die einzig der damals neugewählte Papst Franziskus auf die Idee kam, sie vom Schiff aus vor Lampedusa zu ehren, indem er wenigstens einen Kranz ins Wasser ließ - und indem er betete ... Und das nebenstehende Foto ist nicht etwa getürkt auf einer Kulisse im Vatikan aufgenommen worden - sondern echt - in "real life" ...
Ja - es ist so -
Kinder werden von McDonalds und Konsorten zur Kindergeburtstags-Fete und mit "Sonder-Pooah-eeeeihhh-sind-die-Dick-manns" mit samt ihrem elterlichen Anhang natürlich gekonnt mit viel werbestrategischem Herzblut geködert - und in den Einkaufsmärkten verführt man sie mit Süßigkeiten im Kassenbereich und sorgt so für viele tränenreiche und unschöne Stresssituationen - aber die vielen Kinder da abends in der Tagesschau, die unter dem Stacheldrahtverhau herkriechen müssen, die auf dem Arm des Vaters vor Erschöpfung eingeschlafen sind, die von einem Bahnsteig auf die Zugschienen geschleudert werden von ihren vor Angst und Erschöpfung durchgedreht reagierenden Eltern vor der ungarischen schlagstockwedelnden Polizeieskorte - sie sind die Marginalen, die Randerscheinungen, die nur am äußersten Rand der Iris ins Gewahrwerden rücken bei den Tagesnachrichten ...
Und Herr Orbán Viktor schickt diese Kinder weiter, weil sie sein "Christlich-€uropäisches-Welt- und Wertbild" beschmutzen könnten ... - er und viele Andere geben ihnen keine Chance, weil sie sich muslimische Eltern ausgerechnet in Syrien oder Afghanistan ausgesucht haben ...
Und nochmal - ganz langsam - für Herrn Orbán zum Mitschreiben hinter seine "christlich" getauften Ohren:
Aber Jesus sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes. Matth. 19,14
Und auch wenn sich das hier jetzt zum Schluss liest bzw. wahrgenommen wird, wie mein "Pfeifen im dunklen Wald" - vielleicht aus dem "letzten Loch": Diese beiden Karikaturen oben - von "Riss" Sourisseau resp. CHARLIE HEBDO - sind große - allerdings auch provozierende - Kunst - sie sind wunderbar gelungen - sie mussten so und nicht anders kreiert werden ... Karikatur kann gar nicht überziehen - Karikatur muss bloßstellen und ins Mark treffen und Tabus aufs Tapet bringen ... - und sie kann nicht für X jene Fassung - für Y eine andere - und für Z wieder eine andere Nuance veröffentlichen ... - sie muss vergröbern und provozieren - alles Werte, mit denen bis dato einige Muslime Probleme hatten (Todesdrohung an den dänischen Karikaturisten - Anschlag auf CHARLIE HEBDO usw. ... - diese Art von paradoxem "Humor" ist scheinbar den Muslimen weitestgehend unbekannt ...) - aber das sogenannte "christliche Abendland" sollte doch wohl aufgeklärt und klaglos und durchaus auch aufgerüttelt damit umgehen können ... - und darüberhinaus ab und zu vielleicht über sich selbst lachen - was wohl die wichtigste Voraussetzung ist, mit Karikaturen angemessen umzugehen ... S!