Frank Witzel:
"Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969"
Für seinen Roman über die alte Bundesrepublik hat Frank Witzel den Deutschen Buchpreis 2015 erhalten: Das Buch mit dem Titel "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969"wurde am Montagabend in Frankfurt als beste literarische Neuerscheinung des Jahres im deutschsprachigen Raum ausgezeichnet. Der Autor schildert darin in einer Vielzahl von Episoden und Fragmenten die Nachkriegszeit aus der Sicht eines 13-Jährigen im Wiesbadener Ortsteil Biebrich.
Frank Witzel | br.de |
"Frank Witzel Werk ist ein im besten Sinne maßloses Romankonstrukt", begründete die Jury den Preis. In seiner Mischung aus "Wahn und Witz, formalem Wagemut und zeitgeschichtlicher Panoramatik" sei der Roman einzigartig in der deutschsprachigen Literatur. "Mit dem Deutschen Buchpreis wird ein genialisches Sprachkunstwerk ausgezeichnet, das ein großer Steinbruch ist, ein hybrides Kompendium aus Pop, Politik und Paranoia. Ein im besten Sinne maßloses Romankonstrukt" ...
Für sperrigen Titel erlaubt Witzel die Kurzform "Die Erfindung"
Für den Inhalt des opulenten Werks über einen 13-Jährigen, der die Beatles hört, im Fernsehen die RAF sieht und herrlich absurde Vorstellungen von der "Ostzone" hat, habe Witzel viel bei sich gesucht: "Ich habe nur in meiner eigenen, kleinen Vergangenheit gegraben", sagte Witzel bei der Preisverleihung. Jedem, der das gut ein Kilogramm schwere Buch mit seinem sperrigen Titel mal in der Hand gehabt habe, erlaube er, es nur noch "Die Erfindung" zu nennen.
Der Deutsche Buchpreis wird seit 2005 vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels vergeben. Er will den besten Roman des Jahres in deutscher Sprache küren. Verlage aus Deutschland, Österreich und der Schweiz dürfen Titel einreichen.
Eine siebenköpfige Jury, deren Besetzung jährlich wechselt, wählt zunächst 20 Titel für die Longlist aus. Später wird die Auswahl auf eine Shortlist von sechs Titeln verkürzt. Der Sieger wird traditionell am Vorabend der Frankfurter Buchmesse bekanntgegeben. Der Gewinner erhält 25 000 Euro, die anderen fünf Finalisten bekommen jeweils 2500 Euro.
Textbausteine: SPIEGEL.de
Die RAF als Erfindung eines Teenagers
Wie der sperrige Titel verrät, ist in dem - auch recht sperrigen, 800 Seiten dicken Buch - alles frei erfunden. Und doch lässt es die LeserInnen virtuos eintauchen, in die Bleierne Zeit Ende der 60er, Anfang der 70er-Jahre, in der die RAF die Bundesrepublik terrorisierte.
Der Teenager, aus dessen Perspektive mit 13 Jahren und als Erwachsener die Geschichte erzählt wird, bleibt namenlos - außer an einer Stelle, wo er Timo genannt wird. Zusammen mit seinen FreundInnen Claudia und Bernd und bewaffnet mit einer um die Ecke schießenden Wasserpistole wird er 1969 verfolgt - und entkommt: Just an dem Tag, an dem abends im elterlichen Fernsehen die gescheiterte Verfolgungsjagd der Polizei auf die RAF-Mitglieder läuft - mit Phantombildern und allem Drum und Dran. Obwohl - oder weil? - das den 13-Jährigen fesselt, schickt ihn seine Mutter in sein Zimmer, wo er sich dann allein über die RAF und seine kleine eigene Bande Gedanken macht und mit seinen Ritterburg-Figuren die Terroristen nachspielt.
"Ich möchte noch so gern wissen, was die angestellt haben, die sie da mit Phantombildern suchen, aber meine Mutter schickt mich runter in mein Zimmer. Da steht immer noch meine Ritterburg, obwohl ich schon längst zu alt dafür bin. Ich habe sie letztes Jahr mit Holzresten und Abfällen von meinen Revell-Modellen umgebaut, aber man sieht immer noch, dass es mal eine Ritterburg war. Andreas Baader, mein wertvollster Ritter, weil er eine schwarzglänzende Rüstung hat, ist gerade dabei, die Zugbrücke anzusägen, und Gudrun Ensslin stößt einen von den weißen Rittern in den Burggraben. Gudrun Ensslin ist eine Indianersquaw aus braunem Plastik, die ich eigentlich nicht besonders mag, weil sie gar keine Details hat, aber es ist die einzige Frau bei den Figuren. Ich habe sie mal in einer Wundertüte gewonnen, wo sie zwischen Puffreis lag."
Frank Witzel in: Die Erfindung der Rote Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969
Fremd in dieser Welt
Der Teenager ist Sohn eines gut situierten Wiesbadener Fabrikanten, der Geld genug hat, um zwischendurch ordentlich für die katholische Kirche der Stadt zu spenden. Seit seine Mutter einen Schlaganfall hatte, wird die Familie von einer ebenfalls namenlos bleibenden "Frau von der Caritas" versorgt, die bei dem frisch pubertierenden Teenager die ambivalentesten sexuellen Fantasien weckt. Obwohl der Teenager ein paar FreundInnen hat, bleibt er ein Außenseiter, der so fremd in dieser Welt ist, dass er sich unausgesetzt alles Gesehene, Gehörte und Erlebte zu erklären sucht - sei es durch assoziative Erinnerungen an ähnliche Dinge aus früheren Zeiten, durch aufgeschnappte Theorien aus den Medien oder durch all die Klischees seiner Umgebung.
Die alte Bundesrepublik
Aus dieser Perspektive des 13-Jährigen, der sich ständig die Welt zusammenreimt, entsteht ein sehr schräges und zuweilen höchst amüsantes Bild der alten Bundesrepublik, einer Welt, geprägt vom Katholizismus und dem steten Vergleich mit der Gegenwelt der "Ostzone", die den Teenager offenkundig brennend interessiert. Einer Welt, in der die Beatles und die Rolling Stones den Ton angeben und die zugleich stark gebeutelt ist von verklemmter Sexualität und der Verdrängung der Naziverbrechen und vom Terror.
Verschränkt und komplex
Die Perspektive des 13-Jährigen wird immer wieder durchbrochen durch die Erinnerungen, Rückblicke und teils hochtrabend theoretischen Reflexionen des "Erwachsenen Teenagers". Der ist erwachsen, aber trotzdem offenkundig in seiner Entwicklung mit 13 stecken geblieben: Er ist alles andere als ein souveräner Erzähler der eigenen und der Zeit-Geschichte: Er redet erklärtermaßen vom "Weltgebäude der Spezialambulanz für Persönlichkeitsstörungen des Universitätsklinikums Eppendorf" herab, ergeht sich in ausufernden Selbstinterpretationen und hat die krudesten Verschwörungstheorien und sonstige wahnhafte Ideen auf Lager. Von Ferne erinnert diese Mixtur aus dem Bewusstseinsstrom eines pubertären Teenagers, aus Tagebucheinträgen, wilden Theorien und viel Zeitkolorit an den RAF-Schelmenroman von Peter Paul Zahl "Die Glücklichen", er ist aber weit komplexer.
"Witzels Roman wirkt sehr konstruiert und gleichzeitig organisch gewachsen. Er ist gleichzeitig ein Generationsporträt der zwischen 1953 und 1963 Geborenen. Der Generation, die noch zu jung war für die Studentenrevolte. Ein Roman, in dem die Diskussionen und Gefühlslagen dieser Generation aufgehoben sind."
Helmut Petzold im Bayern 2 Diwan
Textbausteine: br
Frank Witzel wurde 1955 in Wiesbaden geboren und lebt in Offenbach. Er ist Autor, Essayist, Illustrator und Musiker. Als er 2012 sein - nach eigenem Bekunden - zunächst auf 1.000 Seiten starkes Teenager/RAF-Epos aufgeben wollte, wurde er für das Projekt mit dem Robert Gernhardt-Preis ausgezeichnet und setzte es dann fort.
Buchcover - Abb. lustauflesen.de |
"Die Erfindung der Rote Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969"bei Matthes und Seitz erschienen, 800 Seiten, 1 kg schwer ...