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Nazi-Jäger | Beate & Serge Klarsfeld

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aufgedeckt


Am 15. Januar 2016 erscheint „Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition“ (2 Bände, knapp 2000 Seiten, 59 Euro). Mit 3500 historisch-kritischen Anmerkungen wollen die Herausgeber vom renommierten Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) alle Gefahren bannen, die von dem Buch heute noch ausgehen könnten. Rechtzeitig zu diesem Freigabetermin der Druck- und Verkaufsrechte nach 70 Jahren für diese olle Makulator erscheint pünktlich das Buch der "Gegenseite": 
"Erinnerungen"
Beate Klarsfeld, Serge Klarsfeld 
Erschienen am 09.11.2015 
Übersetzt von: Helmut Reuter, Anna Schade, Andrea Stephani 
624 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-492-05707-3
€ 28,00

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Kasia Strek pour « la Croix »

Der Backenstreich für 
Kurt-Georg Kiesinger

Die Nazi-Jäger

Neuerscheinung: Beate und Serge Klarsfeld haben ihre "Erinnerungen" vorgelegt. Das Buch liest sich wie ein Kriminalroman. 1968 ohrfeigte die Autorin Bundeskanzler Kurt Kiesinger

VON WILFRIED MOMMERT


Collage Dietrich Schulze - nrhz.de


Berlin. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) war schon in den Anfangsjahren der Bundesrepublik 1952 der Ansicht, "wir sollten jetzt mit der Naziriecherei mal Schluss machen". Der Mann, der später den Grundstein zur Aussöhnung mit den Juden und dem Staat Israel legte, meinte damit das Stöbern in der NS-Vergangenheit mancher bundesdeutscher Politiker. Das sah die im Trümmer-Berlin der Nachkriegszeit aufgewachsene und 1960 nach Frankreich gegangene Beate Klarsfeld Jahre später aber ganz anders. 

Sie ohrfeigte Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger 1968, wie zuvor auf einer studentischen Versammlung in der Technischen Universität Berlin öffentlich angekündigt, auf einem CDU-Parteitag in Berlin aus Protest gegen dessen NS-Propaganda-Vergangenheit. Die hatte sie zwar vorher immer wieder dokumentiert, ohne dafür größeres öffentliches Interesse zu finden. Kiesinger hatte nach der Ohrfeige daher nur eine Frage: "War das die Klarsfeld?" Die prompte Antwort der Justiz war noch am selben Abend ein Jahr Gefängnis (das Klarsfeld allerdings nicht verbüßen musste) in einem sogenannten Schnellgerichtsverfahren. 

Fast ein halbes Jahrhundert später, im Sommer 2015, wurden Beate (76) und Serge (80) Klarsfeld, dessen Vater in Auschwitz umgebracht wurde, von Bundespräsident Joachim Gauck mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Jetzt sind die Memoiren der neben Simon Wiesenthal wohl bekanntesten Nazi-Jäger auf Deutsch unter dem Titel "Erinnerungen" erschienen. 

Die Erinnerungen mit minuziös festgehaltenen Details und Abläufen sowohl der umfangreichen Recherchen als auch mitunter atemberaubenden Verfolgungsjagden über die Jahrzehnte zwischen Bolivien und Damaskus lesen sich wie ein Kriminal- oder Abenteuerroman, ein Thriller würde man sagen, wenn es nicht um so grauenhafte Geschehen wie die Nazi-Verbrechen ginge. Deutlich wird dabei die Hartnäckigkeit, um nicht zu sagen die Besessenheit bei der Verfolgung der noch Jahrzehnte nach Kriegsende unbehelligten NS-Kriegsverbrecher.


© DPA - Beate und Serge Klarsfeld bei einer Demonstration
gegen die nach ihrer Meinung schleppenden Ermittlungen
gegen den ehemaligen SS-Obersturmbandführer und
Gestapo-Chef Kurt Lischka 1979 vor dem Landgericht Köln
Ein Hauptmotiv für diese Hartnäckigkeit war aber auch die bittere Erkenntnis, dass die meisten der Gestapo- und SS-Männer, die im besetzten Frankreich gewütet hatten und - mit Hilfe der französischen Polizei - für die Deportation von etwa 75.000 Juden in die Vernichtungslager verantwortlich waren, bis dahin nie vor Gericht gestellt worden waren. Aber auch die Kollaboration des französischen Vichy-Regimes mit den Deutschen war ihr Thema ("Vichy-Auschwitz - Holocaust-sur-Seine"). 

Die Jagd auf den berüchtigten Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie ("Schlächter von Lyon"), der sich unter dem Decknamen Klaus Altmann in Südamerika versteckt hatte, und dessen Auslieferung nach Frankreich war einer der größten Erfolge des Ehepaars. Dabei hatten die Klarsfelds die frustrierende Erfahrung machen müssen, dass französische Zeitungen zunächst für die ihnen zugeleiteten Dokumente wenig Interesse zeigten. 

Ähnlich war es Beate Klarsfeld mit den Dokumenten zu Kiesingers NS-Vergangenheit ergangen, nach deren Veröffentlichung schließlich im Combat sie sogar ihre Stelle im Deutsch-Französischen Jugendwerk verlor. 

Umso größere Unterstützung fand Klarsfeld in der DDR, weil es um den verhassten westdeutschen "Klassenfeind" ging, über den man zudem in den eigenen Staatsarchiven auch einige brisante Dokumente besaß, die Serge Klarsfeld einsehen konnte. Beate Klarsfeld räumt in ihren Erinnerungen auch freimütig Zahlungen und Privilegien wie Flugtickets oder Sommerurlaube ein, betont aber auch, sie habe sich niemals von irgendjemand "instrumentalisieren" lassen: "Ich habe immer in meinem eigenen Auftrag gehandelt." Sie sei auch nie Anhängerin des kommunistischen Regimes gewesen und habe sich zudem immer als Deutsche, nie als West- oder Ostdeutsche, gefühlt. 


Berührende Lektüre über die jüngere Zeitgeschichte

2012 wurde Beate Klarsfeld im wiedervereinten Deutschland von der Partei Die Linke gegen Joachim Gauck als Bundespräsidenten-Kandidatin aufgestellt, für Klarsfeld "ein ungleiches Duell, das Deutschland jedoch zur Ehre gereichte". Damit hätten sich ein Mann und eine Frau gegenüber gestanden, "die jeweils eine Seite der deutschen Nachkriegsgeschichte verkörperten". Sie habe sofort "Ja" gesagt, "weil ich mich an meine Verurteilung zu einem Jahr Gefängnis erinnerte und auf den langen Weg zurückblickte, den Deutschland und ich seit 1968 zurückgelegt hatten". 

Diesen Weg in den Erinnerungen der Klarsfelds noch einmal nachzulesen, ist eine der spannendsten und berührendsten Dokumentationslektüren über die jüngere Zeitgeschichte.

Text: © 2015 Neue Westfälische
03 - Bielefeld Süd, Donnerstag 03. Dezember 2015

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