"Ein Mensch ist ein räumlich und zeitlich beschränkter Teil
des Ganzen, das wir 'Universum' nennen.
Er erfährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle
als etwas vom Rest des Ganzen Abgetrenntes -
was eine Art optische Täuschung des Bewusstseins ist.
Diese Täuschung ist wie ein Gefängnis,
das uns auf unsere persönlichen Belange
und auf die Zuneigung zu den wenigen
uns am nächsten stehenden Menschen einengt.
Das Streben nach Befreiung von dieser Fesselung
ist der einzige Gegenstand wirklicher Religion,
indem wir den Radius des Mitfühlens für andere ausweiten,
so dass es alle Lebewesen und die gesamte Natur
in ihrer Schönheit umfasst.
Auch wenn uns dies nicht vollständig gelingen kann,
so ist doch bereits das Streben nach diesem Ziel
Teil der Befreiung und Grundlage
für das Gefühl innerer Geborgenheit."
Albert Einstein, 1950
Spiritualität
Ein Interview mit Heinz Streib Ph.D. (64), Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Bielefeld
Würden Sie sich selbst als spirituellen Menschen bezeichnen?
Streib: Vor der Durchführung dieses Forschungsprojekts hätte ich für mich selbst die Bezeichnung "spirituell" nicht gewählt. Und im Lichte der Ergebnisse würde ich mich gezwungen sehen, sofort hinzuzufügen, in welchem Sinne ich mich als "spirituellen" Menschen verstehe. Und dann würden meine Ausführungen ziemlich lange dauern.
Was beschreiben Sie als Spiritualität?
Streib: Meine Minimaldefinition lautet: Spiritualität ist erfahrungsbezogene Religion des Einzelnen, privatisierte Religion mit deutlichem Bezug zur Mystik, also der innerlichen Erfahrung oder der Suche danach.
Ist jeder Mensch von Natur aus spirituell?
Streib: Das würde ich so nicht behaupten. Aber sehr viele Menschen, die wir befragt haben, berichten von Transzendierungserfahrungen, die über ihr Alltagserleben hinausgehen.
Können Sie das genauer beschreiben?
Streib: Manche sagen etwa, die Nähe zur und die Fürsorge für die Natur sei für sie spirituell. Das könnte man als Ökospiritualität bezeichnen. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Aber diese Art von Spiritualität kommt meist ohne Vorstellungen von einem Himmel, von höheren Wesen, dem Jenseits oder Gott aus.
Was macht Spiritualität aus?
Streib: Die innere Erfahrung, unter anderem ein Gefühl von Verbundenheit mit Allem, dem Universum, oder die Erfahrung von etwas, was die Menschen zutiefst berührt, ihre übliche, rationale Erfahrungswelt überschreitet, aber nicht unbedingt mit höheren Mächten zu tun haben muss.
Das kann einfach so passieren, etwa, wenn Menschen von Musik ergriffen werden? Oder wenn sie durch den Tod Angehöriger besonders sensibel und achtsam sind?
Streib: Tatsächlich deckt Spiritualität ein breites Feld an Erfahrungen ab. Es gibt eine riesige Vielfalt, wie Menschen Spiritualität erleben. Und spirituell heißt nicht unbedingt religiös, kann ihrem Verständnis von Religion sogar entgegengesetzt sein. Zugleich gibt es aber auch Menschen, für die Spiritualität eng mit ihrer Religion verknüpft ist, die etwa beim Lesen der Bibel von spirituellen Erfahrungen berichten, oder in ihrer Beziehung zu Gott. Mehr als 1.700 Menschen in USA und Deutschland haben ihre Definition von Spiritualität in unseren Fragebogen geschrieben, in der Analyse dieser vielen Text sind zehn Komponenten, zehn teilweise radikal verschiedene Bedeutungen von Spiritualität hervorgetreten.
Müssen die Kirchen beunruhigt sein, weil viele einen Trennstrich ziehen zwischen Religion und Spiritualität?
Streib: Wir waren jedenfalls angesichts der Ergebnisse einer früheren Studie über Dekonversion überrascht, dass doppelt so viele Menschen, die sich als spirituell bezeichnen, aus Kirchen und allen möglichen anderen Religionsgemeinschaften ausgetreten sind. Diese Ausgetretenen finden aber nicht unbedingt neue Kirchen oder Gemeinschaften. Und viele wählen dann nichtorganisierte, lockere Formen, um ihre Spiritualität zu leben, sie besuchen Kurse oder Workshops oder nutzen Plattformen im Internet. Diese Menschen brauchen kein religiöses Gebäude mehr.
Ist der Begriff Spiritualität nicht vor allem esoterisch aufgeladen?
Streib: Das Wort Esoterik löst bei den von uns befragten Menschen starke Reaktionen aus. Viele sagen, sie seien spirituell, aber überhaupt nicht esoterisch. Eine klare Abgrenzung. Ihre Spiritualität ist eine offene, nicht festgelegte Suche ohne festes Weltbild, während für Esoteriker oft Vorstellungen von Engelwesen, Geistern oder ähnlichem eine Rolle spielen. Dennoch haben wir auch Menschen befragt, die Spiritualität mit esoterischen Vorstellungen verbinden. Einzelne bauen sich ohnehin ihre eigene Religiosität.
Die Generationen ab den späten 1960er Jahren haben fernöstliche Geistestraditionen für sich entdeckt. Auch sie suchten oder suchen meist spirituelle Erfahrungen. Welchen Einfluss haben Taoismus, Hinduismus und Buddhismus?
Streib: Diese Geistestraditionen sind mittlerweile bei uns in ruhigere Fahrwasser geraten, das heißt, sie sind angekommen und haben sich etabliert. Buddhistische Inhalte und Praktiken, etwa Meditationsformen, werden zum Beispiel im Gesundheitswesen integriert, Yoga gibt es auch in Fitness-Angeboten. Das ist eine eher praktische, fast technische Integration. Charakteristisch für die Aufnahme dieser spirituellen Traditionen ist, dass nicht mehr unbedingt klare Grenzen zwischen ihnen gezogen werden. So entstehen Patchwork-Spiritualitäten, eine Art eigener Kunstwerke, in denen nicht der Verstand bestimmt, sondern die Erfahrung.
Teilweise versuchen Kirchengemeinden, Praktiken aus anderen Traditionen zu integrieren. Sie bieten Meditationen und Kontemplationen an. Um mithalten zu können auf dem spirituellen Markt?
Streib: Ich würde das nicht unbedingt auf die Kategorie Angebot und Nachfrage reduzieren. Hier werden elementare Bedürfnisse, die lange, etwa in den Klöstern auch der christlichen Tradition gepflegt wurden, wieder entdeckt. Das ist teilweise auch eine Rückkehr zu mystischen Formen, ein "Sich-wieder-Erinnern".
Katholiken und Protestanten haben ja auch ihre eigenen Mystiker wie Meister Eckhart, Hildegard von Bingen oder Jakob Böhme.
Streib: Und es ist interessant zu sehen, dass sie in der spirituellen Szene eine große Konjunktur erleben. Sie werden wieder gelesen. Wir stellen sowieso fest, dass Mystizismus und Spiritualität eng miteinander verknüpft sind, stärker als mit Religiosität.
Was ist eigentlich los mit den christlichen Amtskirchen? Nach wie vor treten sehr viele Mitglieder aus. Bieten die Kirchen zu viel Verkopftes, zu viel Politik und Gesellschaftskritik statt Tiefe und Erfahrung?
Streib: Ein Teil der Leute sagt tatsächlich, dass sie ihr spirituelles Bedürfnis durch die Kirche nicht abgedeckt sehen. Aber es ist schwer zu ermessen in den Umfragen, ob die Menschen gerade deshalb die Kirchen verlassen. In großen Umfragen wird seit 2008 nach Spiritualität gefragt. Es gibt definitiv Bewegungen in beide Richtungen, so haben wir durchaus auch Menschen befragt, die eine Reihe anderer Traditionen ausprobiert haben und sich dann wieder einer christlichen Kirche zuwenden, weil sie sich dort doch eher ein Zuhause versprechen.
Gibt es spirituelle Atheisten?
Streib: Da haben wir eine sehr interessante Entwicklung festgestellt. Ja, es gibt spirituelle Atheisten, wenn auch als statistisch relative kleine Gruppe. Es sind Menschen, die sagen, sie seien hochspirituell, an Gott aber glauben sie nicht, auch Engel oder andere höhere Wesen gibt es nicht in ihrer Vorstellung. Gott brauchen sie nicht für ihre Spiritualität. Für sie zählt die Verbundenheit mit der eigenen Tiefe oder mit allen anderen.
Und wie definieren die, die glauben, Gott?
Streib: Da gibt es so viele Vorstellungen wie es religiöse und spirituelle Menschen gibt. Besonders in den Szenen der Spirituellen gibt es keinen Papst, keinen Guru oder eine andere Autorität, die eine Definition vorgibt. Jeder entwickelt seine Vorstellung selbst. Es werden dabei fast selbstverständlich Inhalte verschiedener Religionen übernommen. Widersprüche sind unbedeutend, weil es nicht um das Begreifen, sondern um das Ergriffen-Sein geht.
Kann das, was spirituelle Individualisten suchen, nicht vor allem in der Gemeinschaft gefunden werden?
Streib: Natürlich, und zwar auch im Rahmen einer Tradition. Es gibt Menschen, die sagen, es bewegt sie sehr, ein Vaterunser zu beten, weil es schon Unzählige andere über Jahrhunderte auch gemacht haben. Für sie ist es eine bewegende - spirituelle - Erfahrung.
Hat die Untersuchung ihre Wahrnehmung von Spiritualität verändert?
Streib: Ich war erst skeptisch gegenüber dem Wort Spiritualität. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass damit ein Begriff existiert, der vielleicht nicht alles abdeckt, aber eine alte, seit Menschengedenken existierende Suche nach der Tiefe religiöser Erfahrungen ausdrückt. Insofern ist Spiritualität so etwas wie die Wiederentdeckung einer verlorenen Dimension. Das ist nicht die Erfahrung Einzelner, sondern die Erfahrung von vielen, es ist eine Bewegung von unten. Das finde ich sehr sympathisch. Hier nehmen Menschen ihre Bedürfnisse selbst in die Hand. Ich sehe den Begriff also nicht mehr so skeptisch wie vorher.
Heinz Streib (Bildbearbeitung nach einem Foto der Uni Bielefeld) |
Heinz Streib Ph. D. (64) ist Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Bielefeld. Unter anderem leitet und berät er biografische Religionsforschung und die religiöse Lage der Gegenwart. "Was bedeutet Spiritualität?" heißt die jüngste Publikation Streibs, zusammen mit Professoren-Kollegin Barbara Keller.
Die Fragen stellte Ansgar Mönter (49) - © 2015 Neue Westfälische, Freitag 04. Dezember 2015
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Immer wieder wird der Mensch be- und durchleuchtet - nun auch in seinen spirituellen Persönlickeitsanteilen - und all die schlauen Fragen der studierten diesbezüglichen Forscher beschreiben immer differenzierter diese Aspekte - und fördern die jeweiligen Rudimente zutage, die sich dann zu gewichtigen Einzelaspekten zusammenaddieren - und doch ist das Ganze auch hierbei immer mehr als die Summe seiner Teile - will sagen: diese Studien und Befragungen zur Spiritualität sind immer nur einzelne kleine Schlaglichter - einzelne Spots in diesen sehr individuell gestalteten und gefühlten und hin und her vagabundierenden Themenbereichen. "Vagabundierend" sind diese Themenbereiche deshalb, weil wir damit wie unsere Uraltvorderen quasi als Sammler und Jäger unsere inneren geistlich-seelischen als "spirituellen""Nist-, Brut- und Weideplätze" aufsuchen und finden und nach deren "Abgrasen" immer wieder weiter neu suchen - immer weiter - immer weiter ...: Einen Gott suchen ist ein ewiges Suchen - und der Mensch wird sehr wahrscheinlich erst mit dem Eintritt der "Seele" in die "Ewigkeit" dann endlich "finden" und "zur Ruhe kommen": "Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich's stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin" ... 1. Kor 13,12.
Basics & Essentials |
Gut - ich schreibe auch oft floskelhaft von der "Gottesferne" der derzeitigen Menschheit und ihrer Zerrissenheit in tagesaktuelle Ereignisse, in die sie sich jeweils verstricken lässt ... - sei es in Nah oder Fern ... - und in diesem immer mehr anschwellenden "Weißen Rauschen" wird es dann immer schwerer, sich auf sich selbst zu besinnen um sich auszuloten ...
Und darüber wird in Begegnungen oft hinweggelacht:
- die tatsächlich ge- und erlebte Sexualität,
- der eigene Tod und das tatsächliche Empfinden beim Tod der Nächsten, und auch
- der eigene "innere" Glaube und die innere "Spiritualität",