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(m)ein wort zum sonntag -77: die maulwürfe oder euer wille geschehe | von erich kästner

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s!NEdi|photo|graphic: eine der gesetzestafeln | "die gesetzestafeln zerbrach keiner mehr" ...



Die Maulwürfe oder Euer Wille geschehe

Erich Kästner - 1951

I
Als sie, krank von den letzten Kriegen,
tief in die Erde hinunterstiegen,
in die Kellerstädte, die drunten liegen,
war noch keinem der Völker klar,
daß es ein Abschied für immer war.

Sie stauten sich vor den Türen der Schächte
mit Nähmaschinen und Akten und Vieh,
daß man sie endlich nach unten brächte,
hinab in die künstlichen Tage und Nächte.
Und sie erbrachen, wenn einer schrie.

Ach, sie erschraken vor jeder Wolke!
War´s Hexerei oder war´s noch Natur?
Brachte sie Regen für Flüsse und Flur?
Oder hing Gift überm wartenden Volke,
das verstört in die Tiefe fuhr.

Sie flohen aus Gottes guter Stube.
Sie ließen die Wiesen, die Häuser, das Wehr,
den Hügelwind und den Wald und das Meer.
Sie fuhren mit Fahrstühlen in die Grube.
Und die Erde ward wüst und leer.

II

Drunten in den versunkenen Städten,
versunken, wie einst Vineta versank,
lebten sie weiter, hörten Motetten,
teilten Atome, lasen Gazetten,
lagen in Betten und hielten die Bank.

Ihre Neue Welt glich gekachelten Träumen.
Der Horizont war aus blauem Glas.
Die Angst schlief ein. Und die Menschheit vergaß.
Nur manchmal erzählten die Mütter von Bäumen
und die Märchen vom Veilchen, vom Mond und vom Gras.

Himmel und Erde wurden zur Fabel.
Das Gewesene klang wie ein altes Gedicht.
Man wußte nichts mehr vom Turmbau zu Babel.
Man wußte nichts mehr von Kain und Abel.
Und auf die Gräber schien Neonlicht.

Fachleute saßen an blanken, bequemen
Geräten und trieben Spiegelmagie.
An Periskopen hantierten sie
und gaben acht, ob die anderen kämen.
Aber die anderen kamen nie.

III

Droben zerfielen inzwischen die Städte.
Brücken und Bahnhöfe stürzten ein.
Die Fabriken sahn aus wie verrenkte Skelette.
Die Menschheit hatte die große Wette
verloren, und Pan war wieder allein.

Der Wald rückte vor, überfiel die Ruinen,
stieg durch die Fenster, zertrat die Maschinen,
steckte sich Türme ins grüne Haar,
griff Lokomotiven, spielte mit ihnen
und holte Christus vom Hochaltar.

Nun galten wieder die ewigen Regeln.
Die Gesetzestafeln zerbrach keiner mehr.
Es gehorchten die Rose, der Schnee und der Bär.
Der Himmel gehörte wieder den Vögeln
und den kleinen und großen Fischen das Meer.

Nur einmal, im Frühling, durchquerten das Schweigen
rollende Panzer, als ging´s in die Schlacht.
Sie kehrten, beladen mit Kirschblütenzweigen,
zurück, um sie drunten den Kindern zu zeigen.
Dann schlossen sich wieder die Türen zum Schacht.



"Die Maulwürfe ..." - gelesen von Erich Kästner | Bildmaterial von s!NEdi | lyrik|slide|show: bitte Lautsprechersymbol an-/ausschalten ...(möglichst "synchron" - gleich von Anfang an...)


s!NEdi|photo|graphic



sinedi meint dazu: 
In diesem Gedicht von Kästner aus dem Jahre 1951 beschreibt er eine äußerst prekäre posttraumatische Endzeitsituation. Wahrscheinlich aufgrund eines Nuklearschlages oder eines Umweltunfalles ist die Menschheit gezwungen, in der Erde, unter Tage, quasi eingebunkert und eingebuddelt wie die Maulwürfe ihr Leben zu fristen. Der fehlgeleitete Wille des Menschen hat ihm das eingebrockt ... - Gottes Wille war "außen vor" - darüber hat sich der Mensch mal wieder hinweggesetzt ... 
Das tatsächliche Leben "da draußen", die Erinnerung an die Natur, an Sonne und Mond gerät immer mehr in Vergessenheit. Den Kindern holt man Kirschblüten mit einem Panzer, um sie ihnen dann unten im Bunker vorzuführen ... Eine schreckliche Szene - ... 
Als Kästner 1951 "Die Maulwürfe" schreibt, sind die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki durch die USA zwar 6 Jahre her, aber er kennt noch nicht Tschernobyl oder auch nicht Fukushima - und er kennt noch keinen Vietnam-Krieg, keinen Krieg in Afghanistan - und keinen 9/11-Anschlag, denn der findet erst 50 Jahre später statt...
Und doch hat Kästner eine weitreichende posttraumatische Lage der Menschheit fast seherisch geahnt und skizziert...
 
Die Computer und das Fernsehen, die er auch kaum kennen kann, beschreibt er treffend mit: "Fachleute saßen an blanken, bequemen Geräten und trieben Spiegelmagie. An Periskopen hantierten sie und gaben acht, ob die anderen kämen. Aber die anderen kamen nie." 
"Die anderen", das war vielleicht der Feind - oder es waren andere Überlebende, oder Retter, Befreier vielleicht, Hoffnungsträger, Seelsorger: Kästner lässt das offen ... - und so ein wenig erinnert dieses geschilderte "Warten" bzw. "acht gebenan das berühmte Stück "Warten auf Godot" ... (eben vergebens Ausschau zu halten auf jemanden, den man ahnt, aber den man nicht benennen kann ...). Dieses Theaterstück von Samuel Beckett entstand fast zur gleichen Zeit, ab 1948 - und wurde 1952 uraufgeführt. 
In diesem Stück wird bis zum Schluss nicht klar, wer "Godot" ist und warum genau man in einer so „gottverlassenen Gegend“ auf ihn wartet - genauso wenig, wie man in "Maulwürfe" mittels "Periskopen" vergebens Ausschau hält auf "die anderen", die aber "nie kommen". Mit seiner ins Leere laufenden Handlung, den sich im Kreise drehenden Figuren und dem wenig Hoffnung lassenden Schluss – alles Merkmale, die nicht eben Optimismus und Vertrauen in die Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens verbreiten – steht das Stück "Godot" der zeitgenössischen Philosophie des Existenzialismus nahe und gilt als ein typisches Beispiel des Theaters des Absurden der Jahre um 1950 - während  "Die Maulwürfe" zum Schluss ja auch wieder die "Türen zum Schacht" schließen, nachdem man die "Kirschblütenzweige im Frühling", "um sie den Kindern zu zeigen", mit dem Panzer eingebracht hatte... Ein echtes "Happy End" bleibt auch hier aus - man  kommt aus den "Kellerstädten", in die man sich  in Not und Furcht rasch hineingeflüchtet hat, nicht so ohne weiteres wieder heraus - und auch hier läuft die Handlung letztlich ins Leere - ins Schwarze - in den Dreck ...
Die menschliche Existenz als Grenzsituation zwischen Leben und Tod, Gestalten, die auf der ewig enttäuschten Illusion des Wartens beharren oder in tragikomischer Hilflosigkeit die Gewissheit ihres Verfalls überspielen – darum geht es sowohl in "Godot" von Beckett als auch in den "Maulwürfen" von Kästner. Im Zyklus solcher endzeitlichen Szenarien zeigt sich menschliche Apokalypse auf der vergeblichen Suche nach Formen des Überlebens, nach Variationen eines End-Zeitvertreibs. 
Die Figur "Godot" in dem Stück wird mit Verweis auf das englische Wort God und die französische Diminutiv-Endung -ot als "kleiner Gott" gedeutet, auf dessen Ankunft der Mensch vergeblich hofft. Nachdem der Mensch diesen Gott ja aus seinem Denken und Leben, aus dem Wissen und Fühlen ganz und gar "mit Haut und Haaren" verbannt hat - und damit auch diese leise aber verlässliche "innere Stimme", dieses Wispern des "Gewissens", zum verstummen bringt. Dass man wahrscheinlich (unbewusst) nach so einem "kleinen Gott" Ausschau hält, wird vor allem im "Godot" daran verdeutlicht, das wiederholt aus der Bibel zitiert und daran erinnert wird, dass man tatsächlich auf "etwas" warte, während aber auch zwischendurch dieser Grund des Wartens immer wieder ausgeklammert wird und man den vermeintlichen Treffpunkt doch endlich gern mal verlassen möchte - um dieses unselige Warten endlich zu einem Ende zu bringen ...
Auch Kästner erwähnt in seinen "Maulwürfen", dass man aus "Gottes guter Stube" - aus der Welt da oben mit "Himmel und Erde" - fliehen musste - und so diese Erde wie zu Beginn der Schöpfung nun wieder "wüst und leer" sei. Für Gott und den Menschen ist sie also wieder ein absolut brachliegender unbebauter Acker: also - packt an - auf ein Neues ...???  
Aber der Mensch ohne Gott hat sich ja verkrochen, eingebuddelt, ist hinabgestiegen, eingefahren "indie Grube" unter diesem Acker, dieser Erde, wie der Maulwurf - ihm wird so ein Neuanfang allein - ohne einen Gott - kaum gelingen. Wer oder was sollte ihn rechtzeitig wecken, ihm "Odem einhauchen", ihn aus dem Verlies emporhieven und befreien, ihn antreiben, ihn anstacheln, ihn motivieren, ihm Aufgaben stellen - wer lacht mit ihm, wer weint mit ihm, wer streichelt ihm übers Haar - wer hilft ihm über seine "posttraumatischen Belastungsstörungen" hinweg (diesen Begriff kannte Kästner 1951 sicherlich noch nicht - so knapp nach dem Weltkrieg) ... ???  
Nur hier und da erinnern sich die Mütter bei der Gute-Nacht-Geschichte für die Kinder an einstmals, an "Bäume, ...die Märchen vom Veilchen, vom Mond und vom Gras" ...
"Man wusste nichts mehr vom Turmbau zu Babel. Man wusste nichts mehr von Kain und Abel. Und auf die Gräber schien Neonlicht."
 
Will wohl heißen: die Neigung zur Hybris des Menschen gerät da unten völlig in Vergessenheit, wird "abgespalten", verdrängt - ebenso wie der menschliche Neid, der sich zu tödlichem Hass ausweiten kann. Also es gerät in Vergessenheit, dass der Mensch wohl selbst mit all diesen "Kehrseiten der Medaille" sein Schicksal da unter Tage zu verantworten hat ...  Gestorben wird zwar immer noch - aber eine "Auferstehung" aus den Gräbern tief unten "bei Neonlicht" ist nicht mehr so recht  denkbar - erinnerbar ...: Eine Auferstehung unter Tage in das Neonlicht eines ansonsten schwarzen Kellers hinein - das fühlt sich denn doch schon eher nach einer "Hölle" als nach einem frühen sonnigen milden Ostermorgen an ... Jede Hoffnung erstirbt in einer Wüste und Leere unter Tage und über Tage gleichermaßen - und die Luft ist hitzig und trocken ...  
Aber die Natur - Gottes ureigenste Schöpfung - zumindest "nicht vom Menschen gemacht" - bemächtigt sich allmählich wieder der Erde da oben über Tage - besiedelt die Öde und Leere - der Wald "zertrat die Maschinen" und "holte Christus vom Hochaltar" ...
Während also die Menschen in der "guten alten Zeit" ihren Jesus immer ferner, immer höher, immer "heiliger" angesiedelt und gestaltet haben, mehr wie so einen Luxus-Gott mit Goldkrone und viel Lametta - fast so ausgeschmückt wie das "Goldene Kalb", das man umtanzt, holt die Natur diese völlig überhöhte und überzeichnete "allmächtige" Popanzfigur wieder runter vom Sockel - vom Thron - zurück auf die Erde - mit in die Grubenschächte, wo wir uns mit ihm gemeinsam an seiner Hand sicherlich auch aus diesem Kellerverlies befreien können ...
 
Es gelten da oben - über Tage - quasi zur Neuschöpfung nämlich wieder "die alten Regeln - die Gesetzestafeln zerbrach keiner mehr". Die Aufklärung, die Wissenschaft, nämlich alles was sich selbst als "gottgleich" interpretiert oder entsprechend feiern lässt, hat verloren ... Und all unser "Umweltschutz" - ja nur unserem angeblichen "Fortschritt" und unserer "Bequemlichkeit" geschuldet - hat sich quasi selbst erledigt: "der Himmel gehörte den Vögeln und den kleinen und großen Fischen das Meer" - wie es war zu Anfang ... - und jetzt und hier und wahrscheinlich immerdar ... - also in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft - aber dass es so kommt, dazu muss der Mensch aufgrund seiner eigenen Dummheit (zunächst...) in "den Keller" gehen - ganz tief in sich gehen - Einkehr halten - zur Besinnung kommen ... - muss die Hybris im Sand verbuddeln - und demütig werden ... - oder wieder so etwas wie "fromm" - und er darf wieder staunen und an Wunder glauben - und kann und wird nicht alles ergründen müssen - und nicht für 3 Milliarden Dollar sein Gehirn verkarten lassen - und für ebenso viel Geld einen Teilchenbeschleuniger bauen - warum auch ... 
Die Kirschblütenzweige werden zwar mittels eines Panzers geschnitten und eingeholt - um sie den da unten vegetierenden blassen Kindern, die nie eine Sonne und einen Mond gesehen haben - höchstenfalls durch Papas "Periskop" - "zu zeigen", um sie "be-greifen" zu lassen - "be-greifbar" zu machen ... 
So kann wieder allmähliche Sehnsucht geweckt werden und wachsen und Hoffnung anschaulich sein ...



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