Nun ist der bisher mir recht unbekannte Felix L. Ortt vor 150 Jahren zur Welt gekommen (s.o. und hier) und hat sich ja mit so für mich spannenden Themenkreise wie
Da waren ja die "alten Gelehrten" alle geschult in fast allen Wissensdisziplinen - und ihnen gelang dadurch eine umfassende Zusammenschau vieler Problematiken - während heutzutage ja wirklich die meisten Wissenschaftler sogenannte "Fachidioten" in ihrem jeweiligen Fachgebiet sind ... - aber auch, weil die wissenschaftlichen Beschreibungen und Analysen immer tiefer in die Themenketten eindringen und auf eine unvorstellbare Vielfalt und Komplexität stoßen, die ein Gehirn gar nicht mehr allein überblicken bzw. überdenken kann: die, ich nenne das mal subtrahierende/destruktive Komplexreduktion, wurde deshalb zum Rettungsanker durch die Focussierungen auf kleine Einzelheiten, Teilchen und Details, in die das Ganze sich aufgespaltet und regelrecht pulverisiert und damit ausgeblendet wird, hin zu einem neuen exakten und wieder überschaubaren Detailwissen, sodass mit diesen Operationen das "Große & Ganze" - und damit auch das "Göttliche" aus dem Lebens- und Denkalltag immer weiter zurückgedrängt wurde - an den Rand ...
Neovitalismus
„Vitalismus“ ist der Sammelbegriff für die Theorien, die das Leben nicht rein physikalisch-chemisch erklären, sondern davon ausgehen, dass die lebendigen Organismen ein spezielles Lebensprinzip besitzen, welches sie auf ein Lebensziel hinsteuert. Diesen Vitalismus finden wir schon bei Aristoteles. Er glaubte an eine besondere bildende Lebenskraft, die er „Entelechie“ nannte. Der Vitalismus wurde später, besonders am Ende des achtzehnten und am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in der Romantik, wieder begeistert aufgegriffen. Die romantische Philosophie (zum Beispiel Schellings, Herders und Goethes) ist stark vitalistisch orientiert. Auch der spätere und im Fin de siècle ebenso populäre Philosoph Eduard von Hartmann erkannte ein immaterielles Prinzip, das die physikalisch-chemischen Kräfte zwingt, sich in einer bestimmten Weise zu gruppieren und das auf diese Weise die Entstehung des Lebens ermöglicht. Dieser Vitalismus wurde im Fin de siècle wieder aktuell. Er ermöglichte eine Art von wissenschaftlich unterstütztem Antimaterialismus und zugleich die Verbindung von Biologie und Philosophie. Die Forschung nach der Lebenskraft wurde sowohl von der Biologie als auch von der Philosophie vorangetrieben (ich erinnere an Bergsons „élan vital“). Dass die Naturwissenschaft gemeinsam mit der Philosophie im Stande war (oder es jedenfalls schien), eine Art Beweis für die natürliche Zweckmäßigkeit zu liefern, brachte die Realisierung von Utopia jedenfalls ein paar Schritte näher. Hier zeigt sich ein immer wieder verblüffender Mechanismus: Je ersehnter eine Theorie ist, desto glaubwürdiger erscheint sie.
Für die Niederlande sind in diesem Zusammenhang zwei Wissenschaftler zu nennen: der deutsche Biologe Hans Driesch und der niederländische Ingenieur (und Utopist) Felix Ortt, der Drieschs Theorie auszubauen versuchte. Driesch studierte Zoologie in Jena bei dem berühmten materialistischen Biologen Ernst Haeckel. Anfangs hatte Driesch, ebenso wenig wie Haeckel, keine Erklärung für das zielgerichtete teleologische Element, das er in den Erscheinungen wahrnahm. Er bezeichnete es als eine „irreduzible Sonderheit“, Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts jedoch änderte sich das. Driesch wurde Philosoph und versuchte in seiner Studie Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre (1905), die beiden Fachbereiche (Biologie und Philosophie) mittels einer logischen Prüfung des Vitalismus miteinander zu verbinden. Seiner Meinung nach war es ihm jetzt gelungen, auf Grund experimenteller Forschung zu beweisen, dass bestimmte Lebensprozesse nur teleologisch zu verstehen seien.
Ich erwähne in dieser Hinsicht sein berühmtes Experiment mit dem Seeigel. Driesch stellte sich folgende Frage: Kann aus einem Keim des Seeigels auch etwas ganz anderes entstehen, oder besteht ein gezieltes Streben nach dem einen bestimmten Tier? Dazu schnitt er die Keime in zwei Hälften und entdeckte, daß auch die zweite Hälfte sich zu einem kompletten Tier entwickelte, wenn auch zu einem kleineren. Für ihn war dies der sonnenklare Beweis der Zielstrebigkeit der Keime, die ganz offensichtlich nur das bestimmte Tier bilden wollten. Diese Zielstrebigkeit nannte auch Driesch „Entelechie“ und betrachtete sie als Basis des Lebens.
Felix Ortt entwickelte diese Theorie weiter. In seinem Buch Inleiding tot het Pneumat-Energisch Monisme. Een beschouwing over God, de Wereld, het Leven, Mensch en Maatschappij, van uit het standpunt der Natuurwetenschap (Einführung in den pneumat-energischen Monismus, Eine Betrachtung über Gott, die Welt, das Leben, Mensch und Gesellschaft, aus der Perspektive der Naturwissenschaft, 1917) lieferte er schließlich eine fast verwegene Kombination aus Physik, Biologie und Spiritismus. Ausgangspunkt Ortts ist ein physikalisches Problem. Das zweite thermodynamische Gesetz behauptet, ein Teil der anwesenden Energie sickere weg; wobei sie nicht wirklich verschwindet, sondern sich nur nicht mehr in Wärmeenergie umwandeln lässt. Daraufhin stellt Ortt sich die Frage, wie es möglich sei, daß es im Weltall überhaupt noch mehrwertige Energie gibt. Seine Antwort lautet: Es gibt ein ordnendes Prinzip, eine Entelechie, von Ortt „Seele“ oder „Lebenskraft“ genannt.
Und damit baut er zugleich eine Brücke zur Biologie. Überall, wo es Energie gibt, sagt Ortt, waltet dieses ordnende Prinzip. Beide beteiligen sich an einem Urprinzip, der All-Einheit. Diese Theorie nennt Ortt: Die Lehre des pneumat-energischen Monismus („de leer van het pneumat-energisch-monisme“). Diese Lehre verbindet er mit der Evolutionslehre. Auch die Entelechie entwickele sich, eben bis in die Höhe der sogenannten All-Entelechie, die zugleich Gott sei. Auch der Mensch schließlich werde diese göttliche Höhe erreichen. So gelingt es Ortt, alles unter einen Hut zu bringen: Thermodynamik, Evolutionslehre und Metaphysik.
Ähnliche halb-wissenschaftliche, halb-okkulte Auffassungen von Entelechie hegten auch die Utopisten, zum Beispiel Frederik van Eeden, Marie Jungius und Maurits Wagenvoort. Diese räumten jedoch ganz im Widerspruch zum Gedanken des notwendigen Naturtriebs dem freien Willen einen Platz ein, und zwar mittels der Annahme: Der Mensch habe die Freiheit, der Entelechie zu folgen oder auch nicht. Auf diese Weise bleibt die utopische Aktion etwas Erstrebenswertes, außerdem ist auf diese Weise auch Raum für die Moral. Am 9. August 1892 notierte Frederik van Eeden dazu:
Es blieb noch eine andere Frage offen. Logisch betrachtet gibt es einen Widerspruch zwischen der Idee eines erreichbaren Ziels und dem Gedanken einer endlosen Evolution. Erstere setzt nämlich voraus, dass die Evolution irgendwann einmal aufhört, und zwar dann, wenn das Ziel erreicht ist. Zur Lösung dieses Problems bediente man sich des damals sehr populären Buddhismus und Gnostizismus. ln diesen orientalischen Lehren ist das Ziel identisch mit dem Anfang. Dies impliziert, daß die Evolution nie aufhört, sondern in einer zyklischen Bewegung immer weitergeht. Auch Nietzsches Konzept der „Ewigen Wiederkehr“ zielt in diese Richtung.
- Christlicher Anarchismus
- Wasserstraßen-Bauwesen
- Philosophie
- Parapsychologie
- Okkultismus
- Vegetarismus
- Pazifismus
- Einsteins Relativitätstheorie
- Sexualität u.a.
intensiv beschäftigt und Aufsätze verfasst ... - und einschlägige Interessengruppen dazu gegründet ...
Felix L. Ortt |
Wissen - und hier und da wohl auch Leben findet deshalb größtenteils nur noch in kleinen überschaubaren und zerkaubaren Häppchen aus dem Großen Kuchen statt - und die linke weiß oft nicht was die rechte Hand tut ...: und - wie heißt es im Volksmund: ... "der Teufel steckt oft im Detail" ... - in diesem Partiellen ... - in diesen Zerbröselungen des Ganzen ... - in den Brüchen und Zerklüftungen ... - der Teufel wird ja auch der "Verwirrer" genannt: es gelingt kaum noch die Rückführung und die Fügung zum Ganzen - das Zusammenrühren des altbekannten Teigs aus den Rezeptbestandteilen - und das daraus gebackene Ganze wird, ist und bleibt dann immer "mehr" oder "etwas anderes" als die Summe seiner Teile ...
Hier gilt es nach meinem Empfinden wieder stärker eine Meta-Ebene zu gewinnen und einzunehmen, um den "Überblick" neu zu gewinnen und damit auch eine, ich nenne das mal im Gegensatz zu oben die additive/konstruktive Form der Komplexreduzierung - nämlich: viele Einzelheiten werden zu einem neuen Ganzen zusammengeknetet - im Gegegensatz zu dem Aufspalten und Pulverisieren des Ganzen in kleine und kleinste Teilchen (s. oben) - und das kann vielleicht mit Hilfe der Überlegungen dieser alten ganzheitlichen Allround-Denker des 19./20. Jahrhunderts gelingen - und auch mit ihrem Hang zum Esoterisch-Spirit[ual]istischen ... - denn es passt noch längst nicht auf jeden Pott ein Deckel ...
Hier also ein Ausschnitt als Fingerzeig dieser durchaus noch und wieder spannenden universaleren Denkrichtung - für mich auch in der Fragestellung einer zeitgemäßen Begriffsbestimmung zur "Reich Gottes"-Analyse, die ja ohne universale Denke nicht denkbar ist:
Anarchismus und Utopie in der Literatur um 1900: Deutschland, Flandern und die Niederlande - Hrsgg. von Jaap Grave, Peter Sprengel und Hans Vandervoorde, Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, S. 72-74: aus dem Aufsatz: Mary Kemperink: Wohin führt der Weg? - Utopismus und Vitalismus in der niederländischen Literatur des Fin de siècle (1890-1910):
Neovitalismus
„Vitalismus“ ist der Sammelbegriff für die Theorien, die das Leben nicht rein physikalisch-chemisch erklären, sondern davon ausgehen, dass die lebendigen Organismen ein spezielles Lebensprinzip besitzen, welches sie auf ein Lebensziel hinsteuert. Diesen Vitalismus finden wir schon bei Aristoteles. Er glaubte an eine besondere bildende Lebenskraft, die er „Entelechie“ nannte. Der Vitalismus wurde später, besonders am Ende des achtzehnten und am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in der Romantik, wieder begeistert aufgegriffen. Die romantische Philosophie (zum Beispiel Schellings, Herders und Goethes) ist stark vitalistisch orientiert. Auch der spätere und im Fin de siècle ebenso populäre Philosoph Eduard von Hartmann erkannte ein immaterielles Prinzip, das die physikalisch-chemischen Kräfte zwingt, sich in einer bestimmten Weise zu gruppieren und das auf diese Weise die Entstehung des Lebens ermöglicht. Dieser Vitalismus wurde im Fin de siècle wieder aktuell. Er ermöglichte eine Art von wissenschaftlich unterstütztem Antimaterialismus und zugleich die Verbindung von Biologie und Philosophie. Die Forschung nach der Lebenskraft wurde sowohl von der Biologie als auch von der Philosophie vorangetrieben (ich erinnere an Bergsons „élan vital“). Dass die Naturwissenschaft gemeinsam mit der Philosophie im Stande war (oder es jedenfalls schien), eine Art Beweis für die natürliche Zweckmäßigkeit zu liefern, brachte die Realisierung von Utopia jedenfalls ein paar Schritte näher. Hier zeigt sich ein immer wieder verblüffender Mechanismus: Je ersehnter eine Theorie ist, desto glaubwürdiger erscheint sie.
Für die Niederlande sind in diesem Zusammenhang zwei Wissenschaftler zu nennen: der deutsche Biologe Hans Driesch und der niederländische Ingenieur (und Utopist) Felix Ortt, der Drieschs Theorie auszubauen versuchte. Driesch studierte Zoologie in Jena bei dem berühmten materialistischen Biologen Ernst Haeckel. Anfangs hatte Driesch, ebenso wenig wie Haeckel, keine Erklärung für das zielgerichtete teleologische Element, das er in den Erscheinungen wahrnahm. Er bezeichnete es als eine „irreduzible Sonderheit“, Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts jedoch änderte sich das. Driesch wurde Philosoph und versuchte in seiner Studie Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre (1905), die beiden Fachbereiche (Biologie und Philosophie) mittels einer logischen Prüfung des Vitalismus miteinander zu verbinden. Seiner Meinung nach war es ihm jetzt gelungen, auf Grund experimenteller Forschung zu beweisen, dass bestimmte Lebensprozesse nur teleologisch zu verstehen seien.
Seeigel |
Ich erwähne in dieser Hinsicht sein berühmtes Experiment mit dem Seeigel. Driesch stellte sich folgende Frage: Kann aus einem Keim des Seeigels auch etwas ganz anderes entstehen, oder besteht ein gezieltes Streben nach dem einen bestimmten Tier? Dazu schnitt er die Keime in zwei Hälften und entdeckte, daß auch die zweite Hälfte sich zu einem kompletten Tier entwickelte, wenn auch zu einem kleineren. Für ihn war dies der sonnenklare Beweis der Zielstrebigkeit der Keime, die ganz offensichtlich nur das bestimmte Tier bilden wollten. Diese Zielstrebigkeit nannte auch Driesch „Entelechie“ und betrachtete sie als Basis des Lebens.
Felix Ortt entwickelte diese Theorie weiter. In seinem Buch Inleiding tot het Pneumat-Energisch Monisme. Een beschouwing over God, de Wereld, het Leven, Mensch en Maatschappij, van uit het standpunt der Natuurwetenschap (Einführung in den pneumat-energischen Monismus, Eine Betrachtung über Gott, die Welt, das Leben, Mensch und Gesellschaft, aus der Perspektive der Naturwissenschaft, 1917) lieferte er schließlich eine fast verwegene Kombination aus Physik, Biologie und Spiritismus. Ausgangspunkt Ortts ist ein physikalisches Problem. Das zweite thermodynamische Gesetz behauptet, ein Teil der anwesenden Energie sickere weg; wobei sie nicht wirklich verschwindet, sondern sich nur nicht mehr in Wärmeenergie umwandeln lässt. Daraufhin stellt Ortt sich die Frage, wie es möglich sei, daß es im Weltall überhaupt noch mehrwertige Energie gibt. Seine Antwort lautet: Es gibt ein ordnendes Prinzip, eine Entelechie, von Ortt „Seele“ oder „Lebenskraft“ genannt.
Und damit baut er zugleich eine Brücke zur Biologie. Überall, wo es Energie gibt, sagt Ortt, waltet dieses ordnende Prinzip. Beide beteiligen sich an einem Urprinzip, der All-Einheit. Diese Theorie nennt Ortt: Die Lehre des pneumat-energischen Monismus („de leer van het pneumat-energisch-monisme“). Diese Lehre verbindet er mit der Evolutionslehre. Auch die Entelechie entwickele sich, eben bis in die Höhe der sogenannten All-Entelechie, die zugleich Gott sei. Auch der Mensch schließlich werde diese göttliche Höhe erreichen. So gelingt es Ortt, alles unter einen Hut zu bringen: Thermodynamik, Evolutionslehre und Metaphysik.
Vitalität |
Es gibt eine Norm der Evolution, eine gerade Linie der Entwicklung des Lebens.Van Eeden zufolge gibt es so etwas wie eine Kooperation des selbst bestimm enden Ichs und der alles bestimmenden Entelechie. In seiner Dichtung Het lied van schijn en wezen (Das Lied von Schein und Sein) aus dem Jahr 1895 liefert er eine ähnliche Idee der Verschmelzung von Ich und lenkendem Wissen („'t leidende weten“):
Der gerade Lebensweg. - Das, was alle Menschen gemein haben, als Wachstumsrichtung,
bestimmt die Verantwortlichkeit. Jeder muss in diese Richtung gehen.
Dies ist Tugend. - Es ist der Wille der Rasse.
das Ich trifft die Wahl, das lenkende Wissen
bestimmt die Richtung, an Macht unendlich groß,
an Kraft unendlich klein und nicht zu messen.
Es blieb noch eine andere Frage offen. Logisch betrachtet gibt es einen Widerspruch zwischen der Idee eines erreichbaren Ziels und dem Gedanken einer endlosen Evolution. Erstere setzt nämlich voraus, dass die Evolution irgendwann einmal aufhört, und zwar dann, wenn das Ziel erreicht ist. Zur Lösung dieses Problems bediente man sich des damals sehr populären Buddhismus und Gnostizismus. ln diesen orientalischen Lehren ist das Ziel identisch mit dem Anfang. Dies impliziert, daß die Evolution nie aufhört, sondern in einer zyklischen Bewegung immer weitergeht. Auch Nietzsches Konzept der „Ewigen Wiederkehr“ zielt in diese Richtung.