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Fühlet - so werdet ihr finden ... - suchet - so wird euch aufgetan ...

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Wir suchen nach Wegen, wieder zu fühlen!

Woher rührt unsere Sehnsucht 
nach der Natur?
Ein Gespräch 
mit dem Naturphilosophen 
und Biologen
Andreas Weber






WELT AM SONNTAG: Früher ging der Mensch raus, um Nahrung zu suchen. Was sucht er heute in der Natur?

ANDREAS WEBER: Sich selbst, aber nicht sich allein. In der Natur will sich der Mensch als Teil in einem großen Zusammenhang erfahren. Er sucht nach Verbindung. Und in der Natur wird er sich seiner selbst im Ganzen bewusst.

Man könnte auch den Eindruck gewinnen, dass er sich in der Natur nicht finden, sondern loswerden möchte, weil er die Nase ziemlich voll hat.

Der Suchende weiß ja gar nicht immer, dass er sucht. Wenn jemand sagt, er brauche jetzt den Kick von fünf Tagen Wildwasser-Rafting, kann er doch eigentlich die Verbindung zur Natur suchen, selbst wenn ihm das gar nicht bewusst ist. Natürlich steckt in diesem auch statistisch nachweisbaren Drang nach draußen die Suche nach etwas anderem. Aber dieses Andere ist nicht unbedingt der Zivilisation oder der Technik entgegenzusetzen. Tatsächlich ist es die Suche nach Lebendigkeit. Wir suchen authentische Erfahrungen und wollen uns selbst spüren. Das ist etwas, das wir uns in einer Welt der Kontrolle aberkannt haben. Es ist aber nicht so, dass das allen, die rausgehen, klar wäre. Man könnte es mit einer psychopathologischen Störung vergleichen: Da ist jemand, der kann nicht richtig fühlen, will aber fühlen und sucht nach Wegen, um zu fühlen. Diese Wege sind nicht alle geradlinig. Aber es gibt eine Triebkraft, wirklich sein und Wirklichkeit erfahren zu wollen.

In Ihrem Buch „Enlivenment“ beschreiben Sie unsere Wirtschaft und unser Arbeitsleben als Produkt einer „Ideologie des Toten“. Was meinen Sie denn damit?

Die grundlegende Idee unserer Zivilisation ist, die Welt zu verstehen, indem wir sie in einzelne Bauteile zerlegen. Unsere zwei großen Erklärungssysteme funktionieren so. Die Wirtschaft ist die Verteilung von Objekten nach Effizienzkriterien. Und was wir uns unter Naturgeschichte vorstellen, ist ähnlich: Hier wirkt von außen mutmaßlich objektiv die Selektion. Sie sortiert die Gene wie ein Verfahrenstechniker Software-Module. Wir haben es also ausschließlich mit kleinen, nicht fühlenden Bauteilen zu tun, die es vorteilhaft zu arrangieren gilt. In diesem Modell aber kommt alles, was wir als Leben kennen, überhaupt nicht vor. In unserer Weltbeschreibung ist das Lebendige, wie wir es kennen und erfahren, ausgelöscht. Und das tut nicht nur weh, das ist auch nicht die Wirklichkeit.

Bild aus der Werkstatt der Lippischen Kunstmaler-Dynastie Pfenningschmidt (Düsseldorf - Bad Salzuflen) - Repro und Verfremdung: S!
(Original hängt bei uns an der Wand ...)


Wie kann man denn draußen in der Natur Lebendigkeit erfahren? Was muss man dafür tun?

Zuerst einmal muss man hingehen. Der Weg ist nicht mal unbedingt weit. Natur ist schon der Mohn, der am Kantstein des Gehwegs blüht. Grundsätzlich hilft es, Dinge zuzulassen, Planung und Kontrolle aufzugeben. Sich einzulassen und sich treiben zu lassen. Eine Landschaft der Kontrolllosigkeit kann man schon in seinem eigenen Garten herstellen. Plötzlich erscheinen Pflanzen und Tiere, die da scheinbar gar nicht hingehören. Wobei ich die Erfahrung gemacht habe, dass Nachbarn darauf mit der Angst vor Kontrollverlust reagieren.

Verglichen mit Power-Rafting ist das unaufwendig. Dabei rüsten wir uns für eine Wanderung nicht selten wie für eine Everest-Besteigung und fahren mit SUVs durch die Stadt, als durchquerten wir die Wüste. Ist unsere Natursehnsucht manchmal vielleicht nur Theater?

Das SUV als Unterpfand der eigenen Naturnähe – ja, das gibt es. Aber unsere Natursehnsucht ist kein Theater. Das Gefühl ist real. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Wie benennen wir es? Und welche Namen hat unsere Gesellschaft dafür? Sie hat nämlich keine! In unserem offiziellen Diskurs ist eine solche Natursehnsucht reine Sentimentalität, Albernheit oder Projektion. Wenn man sich aber entsprechend rüstet – ausrüstet –, ist das schon weniger sentimental. Wenn meine Naturerfahrung darin besteht, dass ich die Eigernordwand begehe und mir vorher das entsprechende Equipment besorge, habe ich das unerlaubte sentimentale Bedürfnis rationalisiert und gerettet. Dann geht es wieder um Effizienz. Dann ist Natur etwas Bezwingbares. Aber darum geht es in der Tiefe gar nicht.

Das heißt, wir betreiben Extremsport, um unsere Gefühle zu verbergen?

Genau. Auf der Suche nach dem Fühlen gelingt es uns doch wieder nur, das Fühlen zu verdrängen. Das ist wie jemand, der sich nach einer erfüllenden Liebe sehnt, den Partner in der Beziehung aber nur zur Selbstverleugnung zwingt. Das ist tragisch. Aber diese Tragik rührt daher, dass wir als Gesellschaft beschlossen haben, eine Dimension unserer eigenen Existenz – nämlich unsere schöpferische, nach Verbindung suchende Lebendigkeit – nicht mehr anzuerkennen.

Hat sich unser Verhältnis zu Landschaft, Tieren und Pflanzen verändert,seit wir das Bewusstsein haben, im Anthropozän, im Zeitalter des Menschen, zu leben?

Das ist die spannende Frage. Über den Begriff des Anthropozäns diskutieren wir ja erst seit ein paar Jahren. Die wichtigste Erkenntnis dieses Epochenbruchs ist, dass der Dualismus Natur gegen Kultur
nicht mehr funktioniert – und nie funktioniert hat. Alles Natürliche ist immer schon kulturell verstanden. Und gleichzeitig hat alles Kulturelle eine wilde Seite. Das Ende dieses Dualismus zu verkünden ist natürlich eine fantastische Botschaft. Aber wir müssen die Welt verteidigen gegen eine
Totalübernahme durch die Kultur.

Gehört zu dieser Totalübernahme auch die Nachhaltigkeitspolitik des grünen Projekts? Windkraft-und Solaranlagen? Rutenhirsefelder so weit das Auge reicht?

Ja, auch. Das Gegenstück zur Erlösung des Menschen durch Kontrolle ist die Idee der Verschmelzung
des Menschen mit der guten Natur. Das ist für viele die heimliche Triebkraft des grünen Projekts. Dazu gehört beispielsweise auch die Idee, dass Nationalparks menschenleer sein müssten. Dass Natur überhaupt menschenleer sein müsste. Dass Natur vor dem Menschen geschützt werden müsste. Sie sehen: Da haben wir die gleiche Spaltung – bloß von der anderen Seite. Das ist die Dialektik der grünen Aufklärung. Die einen sagen: Die Natur steht unserer Erlösung im Weg, deshalb müssen wir sie beherrschen. Die anderen sagen: Natur ist unsere Erlösung, deshalb müssen wir ihr blind folgen. Dabei vergessen beide, dass es nichts Heiles, sondern nur Gebrochenes gibt. Gerade der Umweltschutz hat heute etwas Museales. Es geht ihm um Reinheit: Die Exponate müssen heil bleiben. In der Natur gibt es aber nur permanente Veränderung, auch katastrophale Veränderung.

Ist das vielleicht das dunkle Geheimnis des grünen Projekts: Dass man sich eine Natur ohne Tod wünscht?

Beide Seiten wünschen sich eine Wirklichkeit ohne Tod. Das grüne Projekt wünscht sich die Erlösung vom Tod durch die heilenden Kräfte der Natur. Und das technokratische Projekt wünscht sich die Erlösung vom Tod durch die Kontrolle der Natur. Und beide Projekte verstehen nicht, dass Lebendigkeit heißt, dass der Tod das Tor ist, durch das die Schöpfung eintritt.

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INFO 

Andreas Weber

Biologe & Philosoph 

"Alles fühlt" hieß das Buch, mit dem er bekannt geworden ist: Andreas Weber, 1967 in Hamburg geboren, hat in Berlin, Freiburg, Hamburg und Paris Biologie und Philosophie studiert. In seinen Arbeiten macht er sich, so der Untertitel seines Buches „Biokapital“, für die „Versöhnung von Ökonomie, Natur und Menschlichkeit“ stark. Sein grundlegender neuer Essay „Enlivenment“ (Matthes & Seitz, 12 €) ist zunächst im Auftrag der Heinrich-Böll-Stifung entstanden. Andreas Weber lebt in Berlin.


aus WELT AM SONNTAG, Nr. 32 | 07.08.2016





















da spricht der Mensch plötzlich von "romantik 2.0" - kauft sich die zeitschrift "landliebe" ein, die es mittlerweile auf eine millionenauflage gebracht hat, rennt auf die nächste gartenmesse auf irgendeinem schlosshof ganz in der nähe, kocht vegetarisch und vegan, kauft dafür die zutaten im bio-laden "direkt vom erzeuger" ... - und fährt am wochenende 200 km auf der autobahn, um 2 tage ein bisschen "grün" zu erhaschen - und sich den "wind um die nase wehen" zu lassen: die natur ist wieder beim menschen angekommen: schulbauernhöfe, tierparks erleben einen boom ...

für mich ist diese entwicklung kein buch mit sieben siegeln: das ist nach meiner empfindung die antwort auf diese sitzfleischproduzierende theoretisiererei, auf die abstraktion, auf die algorithmen, auf die vorherseh- und vorhersagbarkeiten der digitalen technik - und das starren auf bildschirm und smartphone und tablet und die 250 "likes" bei "facebook" - die mich aber nicht berühren, die ich nicht fühlen kann ... - und ein ganz klein wenig ist es die umkehr vom "technik-boom" - von "immer größer - immer höher - immer schneller - immer härter - immer weicher - immer glatter" - zuwachs auf deubel komm raus - und eine abkehr von der "masse" - vom bad in der menge - vom rudel - von der kolonne - von jubel-trubel-heiterkeit hin zu innerlichkeit, achtsamkeit und authentizität ... - mal sehen, wieviel dauersitzplatzkarten die bundesligavereine in 5 jahren absetzen - bei der allmählichen übersättigung und dauerberieselung um den fußball und drum herum ...: stattdessen: "die gedanken sind frei" - und "das wandern ist des müllers lust" ... - "schaun mir mal" ...

nur das gegenständliche, die natur, gibt mir das haptische, damit ich es noch "be-greifen" kann - nur in der natur, wo jedes osterfeuer brav angemeldet werden muss, könnte ich noch ein "kartoffelfeuer" bruzzeln, mit den aufgespießten knollen an einem stöcksken über der flamme und im beißenden rauch ...

neulich habe ich hier im blog von byung-chul han berichtet, der sich als philosoph an allem "glatten" oder "geglätteten" reibt: das leben, die natur der lebenslauf, sie sind ja nicht glatt, sie weisen brüche auf, katastrophen, ungenauigkeiten - und alles geglättete wird plötzlich entlarvt (frau hinz, herr von und zu...., frau schavan ...), weil es einem "zu glatt" dahergeht ...

wir müssen wieder fühlen, schnuppern, schmecken, sehen, konfrontiert werden, anstoß nehmen, anstoß geben, anstößig sein, profil gewinnen, in tatsächliche augen blicken - lernen mit unseren sinnen, wir müssen sie in der natur schärfen und trainieren - wo sonst ... ???

und die natur - sie ist nicht von menschen gemacht und erdacht - sogar manches "hegen & pflegen" ist schädlich ... - die natur sind wir - und wir leben mit und in der natur - als schöpfung mitten in der botanik, mitten in der tierwelt: ein förster (siehe die bücher von peter wohlleben) weiht uns ein in das "geheimnis" der bäume und in das fühlen der tiere - einfach göttlich und genial ... S! 

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