Der Kultur- und Kunsttheoretiker Jean Gebser (1905-1973) hat analysiert, was sich mit der Entdeckung der (Zentral-)Perspektive »im Bewusstwerdungsprozess des europäischen Menschen« abgespielt hat: die Bewusstwerdung des Raumes und seine Objektivierung.
Durch sie wurde sowohl »der Raum sichtbar gemacht,... (als) auch der Mensch selber« als der blickende Mensch. Es wurde also eine »Erweiterung des Weltbildes« erreicht - aber zugleich auch
eine Einengung. Denn die gewählte Perspektive »fixiert sowohl den Betrachter als das Betrachtete«, stellt beide »in einen Teilsektor« des Ganzen. Das wird oft noch dadurch unterstrichen, dass der Bilderrahmen die Funktion eines Fensterrahmens übernimmt, oder dadurch, dass der Fluchtpunkt in einen ihn umgebenden besonderen Rahmen oder Raum gestellt wird. So sehr Betrachter und Betrachtetes durch den Blick verbunden sind, so sehr sind sie auch durch ihn in Subjekt und Objekt geschieden. Dabei kann der Blickende mit seinem Blick auch Gewalt ausüben. Denn der Maler und die von ihm geführten Bildbetrachter haben den »Durchblick« auf das Objekt und damit auch die Deutungshoheit über das Gesehene.
Der Mensch, »selbst nur Teil der Welt«, räumt dem Ausschnitt (»Sektor«), den er wahrnimmt, »und damit der ihm selber nur möglichen Teilansicht die beherrschende Stellung ein.« Dem Ganzen aber kann man sich aus der zentralperspektivischen Einstellung zur Welt heraus nicht mehr annähern; »statt dessen verleiht man dem bloßen Sektor >Ganzheits-Charakter<, und die Folge davon ist die sattsam bekannte >Totalität<« des Anspruchs, durch die eigene Perspektive dennoch das Ganze zu sehen.
Gebser wollte die (Zentral-)Perspektivität in der Wahrnehmung von Leben überwinden und zu einer »integralen« Struktur des Bewusstseins kommen, die nicht mehr an der Raum-Bezogenheit der Zeit festhängt. Denn mit dem »Einbruch der Zeit« in das (mathematische) Denken sei die vierte Dimension ins Spiel gekommen.
In Picassos »Zeichnung« (Drawing)
von 1926 sieht Gebser die Integration der Zeit in die Wahrnehmung beispielhaft dargestellt: »Wenn wir diese Zeichnung betrachten, so sehen wir mit einem Blick den ganzen Menschen: das heißt, wir sehen nicht nur einen seiner Aspekte ..., sondern wir sehen gleichzeitig seine Frontal-, Seiten- und Rückenansicht, sehen also alle diese verschiedenen Aspekte auf einmal.«
Auf dieser Zeichnung seien »der Raum und der Körper durchsichtig geworden«. Das Bild sei nicht unperspektivisch zweidimensional; es schneide aber auch nicht - dreidimensional - einen Seh- bzw. Blicksektor aus einem größeren Ganzen aus. Deswegen sei die Zeichnung »in unserem Sinne aperspektivisch: also vierdimensional. Denn sie nehme die Zeit - durch die virtuellen Drehungen, die jeweils Zeit brauchen, ergänze ich - in sich auf.
»Damit aber macht sie das Ganze einsehbar.« Es sei »nicht mehr der Augenblick (die, wie der Ausdruck besagt, durch das Sehorgan erblickte, also räumliche Zeit), sondern es ist die reine Gegenwart, die Quintessenz der Zeit, die aus dieser Zeichnung entgegenleuchtet.«
Und erst dort, wo die Zeit nicht mehr zerfalle in ihre drei Phasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, »sondern zur reinen Gegenwart wird, ist sie konkret geworden«.
Gebsers Erkenntnisse können für den Glauben von großer Bedeutung sein. Denn seit sich Religionen wie die biblischen mit dem Anspruch auf die alleinige, durch Erwählung vermittelte Kenntnis der (ganzen) Wahrheit verbunden haben, wird für alle Glaubensgegenstände eine bestimmte Perspektive als allein angemessene dogmatisiert. Und mit der Perspektive wird die Aussage vorgeprägt, die dann herauskommt.
Was andere aus anderen Blickwinkeln und Zeiten von Gott wahrgenommen haben, wahrnehmen und wahrnehmen werden, wird für unwahr oder belanglos erklärt. Zu Gebsers Plädoyer für die Aperspektivität passt, was das Jesus-Wort (Johannes 16,13), dass die »ganze Wahrheit« aussteht, also jenseits der Grenze liegt, die der Kanon - trotz seiner Vielfalt - um das Christentum gezogen hat.
Das ist wichtig, weil durch die Privilegierung bestimmter biblischer oder kirchlicher Perspektiven eine Vielzahl von Glaubensvorstellungen raum-zeitlich fixiert worden sind, die in keiner Weise mehr zu unserem heutigen Welt- und Lebensverständnis passen.
Die aperspektivische - man kann auch sagen: integrale oder holistische - Wahrnehmung des Lebens fügt Zeit als Bewegung und Entwicklung in die unendliche Vielzahl der möglichen Blickwinkel mit ins »Bild« ein, vergegenwärtigt sie in einem sich ständig wandernden, also erweiternden Perspektivenbündel. Das ersehnte Ziel ist, das Ganze wahrzunehmen. Aber so lange wir in der Zeit leben, bewegt sich dieses Ziel ständig weiter, als offener Horizont, vor uns her.
Wer Auferstehung als Hoffnung auf die »ganze Wahrheit« hat, muss sich deshalb von dem »Geist der Wahrheit« (Johannes 16,13) über die Bindungen durch die Raum-Zeit-Relation hinausleiten lassen. Zu dieser Offenheit passt die Tiefe und Weite der Selbstbezeichnung Gottes »Ich bin der Ich-bin-da« (Exodus 3,14).
Text aus: Klaus-Peter Jörns | Update für den Glauben: Denken und leben können, was man glaubt | Gütersloher Verlagshaus, 2012 | Fotos. s!NEdi|photo|graphy