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"Gäbe es den Prozess des Alterns nicht, wären die Zeit und ihr Verstreichen nicht unmittelbar dem Code des Lebens eingegeben, dann wäre die Reproduktion unnötig, und es gäbe keine Sexualität."
Aus: Und unsere Gesichter, mein Herz, vergänglich wie Fotos. München 1986
Künstler John Berger gestorben
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Mit der BBC-Serie und seinem Buch „Sehen“ bahnte John Berger einen neuen Weg zur Betrachtung von Kunst. Er verstand sich als revolutionärer Intellektueller. In England fühlte sich er sich beengt und floh in die französischen Alpen. Nun ist er im Alter von neunzig Jahren gestorben. Ein Nachruf.
03.01.2017, von GINA THOMAS, LONDON | F.A.Z.net
Fast fünfundvierzig Jahre nach dem Erscheinen von „Sehen: Das Bild der Welt in der Bilderwelt“ fühlen sich Studenten und Kulturhistoriker noch dem Autor John Berger dafür verpflichtet, dass er ihnen einen frischen Zugang zur Kunst durch seine Analyse der Einflüsse verschafft hat, die unsere Wahrnehmung von Gemälden bestimmen. Das ebenso einflussreiche wie umstrittene Buch, das auf einer von Berger in seinem eigenwillig langsamen, mit bedeutsamen Schweigepausen durchsetzen Stil moderierten BBC-Fernsehserie basierte, wandte sich gegen die traditionelle Wahrnehmung der westlichen Kunst, wie sie der patrizierhafte Kunsthistoriker Kenneth Clark in seiner klassischen Fernsehserie „Civilisation“ dargeboten hatte.
Der 1926 in London geborene Berger, der selbst als Künstler ausgebildet war, hat sich als politisch engagierter Kritiker, Romanschriftsteller, Drehbuchautor, Lyriker, Dramatiker, Essayist und Aktivist stets mit dem polemischen Blick des Außenseiters einer Vielfalt von Themen zugewandt. Geradezu sinnbildlich dafür ist das selbstgewählte Exil nach der kritischen Aufnahme seiner früheren Romane. Sein Romandebüt „Die Spiele“, das von dem rätselhaften Verschwinden eines fiktiven ungarischen Künstlers handelt, der in England Aufnahme findet, sich dann aber am Ungarn-Aufstand beteiligt, wurde kurz nach dem Erscheinen auf Druck des antikommunistischen „Kongresses für die Freiheit der Kultur“ hin vom Verlag zurückgezogen. Berger empfand das geistige Klima in England als unseriös und ließ sich bereits in den sechziger Jahren in den französischen Voralpen nieder, wo er als europäischer Intellektueller wirken wollte.
Der experimentelle Roman „G“
Nach dem Kriegsdienst hatte Berger als Künstler und als Zeichenlehrer gearbeitet, bevor er sich als Kritiker der linken Zeitschrift „New Statesman“ unter anderem dadurch hervortat, dass er mit Vorliebe das Werk unbekannter Künstler besprach. Im selben Jahr, in dem er mit „Sehen“ seinen großen Durchbruch erlebte, gewann Berger mit seinem experimentellen Roman „G“ den Booker-Preis. Bei der Preisverleihung provozierte der aus dem gehobenen Mittelstand kommende Marxist einen Skandal, indem er aus Protest gegen die Ausbeutung karibischer Arbeiter durch den Booker-Lebensmittelkonzern die Hälfte des Preisgeldes der Bewegung „Black Panther“ stiftete. Mit der anderen Hälfte finanzierte er die 1975 erschienene Studie „Der Siebte Mensch“, die, gemeinsam mit dem Schweizer Dokumentarfotografen Jean Mohr erstellt, sich der Montagetechnik bedient, um das Schicksal der europäischen Arbeitsmigranten in den siebziger Jahren zu beleuchten - eine von vielen politischen Fragen, die Berger besonders am Herzen lagen.
Nun ist John Berger, der kürzlich Gegenstand eines bei der Berlinale vorgestellten Filmporträts war, das seine Freunde, die Schauspielerin Tilda Swinton, der Regisseur Christopher Roth, der Musiker Simon Fisher Tuner und der Anglist Colin MacCabe drehten, am Montag nach längerer Krankheit wenige Wochen nach seinem neunzigsten Geburtstag gestorben.
Leseprobe aus:
John Berger
Sehen
Das Bild der Welt in der Bilderwelt (click: pdf download))
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main