Der Wind des Wandels
Das europäische Christentum steckt in einer tiefen Krise. Es schlägt die Stunde der Neuerer, Mystiker und Querdenker. Fragen an Hubertus Halbfas, em. Professor für Religionspädagogik.
PUBLIK-FORUM: Herr Professor Halbfas, in Ihrem jüngsten Buch beschreiben Sie das europäische Christentum als zutiefst erschöpft. Worin zeigt sich diese Erschöpfung?
HUBERTUS HALBFAS: Die Zeichen der Zeit machen sie - nach einem langen Vorlauf - unübersehbar. Seit der Aufklärung und dem Auseinanderfallen von christlicher Welt und Kultur wandelt sich das Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Das ist besonders an Literatur und Kunst wahrnehmbar. Das Ende der Volksfrömmigkeit markiert diesen Prozess dann auch auf dem Lande. Die höchsten Alarmzeichen verbinden sich damit, dass die kirchliche Sprache ins Leere geht und dass diejenigen, die zu lehren und zu verkünden meinen, nicht einmal merken, wie unbetroffen ihre Sprache die Menschen lässt! Die binnenkirchliche Mentalität kann so gefangen nehmen, dass kein Lernprozess mehr zu Stande kommt, Und so ergeben sich in den jüngsten Jahrzehnten gewachsene Krisen, für die es zahlreiche Kennmarken gibt: Kirchenaustritte, versiegender Priesternachwuchs, Aufgabe und Verkauf von Kirchen.
PUBLIK-FORUM: Sie sagen, dass die kirchliche Sprache die Menschen nicht mehr erreicht. Das heißt aber, dass auch die Inhalte, die durch diese Sprache transportiert werden, keine Resonanz mehr finden.
HALBFAS: Menschen, die an der Kultur interessiert sind, die im Gespräch mit jungen Leuten stehen, mit Christen wie Nichtchristen, Gläubigen und Nicht-mehr-Gläubigen - die sich also in der Gemengelage unserer Gesellschaft auskennen und sich von ihr fordern lassen -, können nicht in den unveränderten Worten einer Tradition reden! Ob sie wollen oder nicht: Sie sprechen anders, weil ihr Leben ein anderes ist. Es geht also nicht primär darum, wie sprachgewandt jemand ist, sondern darum, welchen Lebensort er wählt. Und genau da liegt das Problem: Die binnenkirchliche Mentalität mumifiziert die überlieferten Inhalte.
PUBLIK-FORUM: Schon der evangelische Theologe Klaus-Peter Jörns hat gezeigt dass es im Gespräch zwischen glaubensinteressierten Menschen ganz anders zugeht als wenn ein Lehrvertreter dabei ist ...
HALBFAS: Das hat mit der Art zu tun, wie Theologie getrieben und gelehrt wird. Auch das ist ein Kultur- und Sprachproblem.
PUBLIK-FORUM: Allerdings spricht auch einiges dafür, dass der historische Prozess, den Sie beschrieben haben, die Religiosität insgesamt mehr und mehr auflöst.
HALBFAS: Wenn ich die heutige Zeit mit meiner Studentenzeit vergleiche, meine ich, die Gegenwart sei religiöser. Die damalige Zeit war konventionell und spirituell steril. Überdies stets mit einer Sündenlehre befasst, die großen moralischen Druck ausgeübt hat. Es gibt heute viel mehr Wachheit, Suchen und Fragen. Dazu neue Aufbrüche innerhalb des christlichen Lagers. Vieles ermutigt und lässt neues Leben erhoffen - trotz und neben der Erschöpfung, die ich für das europäische Christentum beschrieben habe. Das gilt vor allem für eine mystische Spiritualität, die in neue Horizonte führt und zugleich für Impulse aus dem Zen-Buddhismus empfänglich macht. Die Tür, die der Jesuit und Zen-Meister Hugo Lassalle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geöffnet hat, führt in eine Lebenshaltung und Frömmigkeit die Christen mit Nichtchristen teilen können. Auch das Ordensleben ist dort, wo es in wachen Gemeinschaften stattfindet ungleich lebendiger als vor 50 Jahren!
PUBLIK-FORUM: Der Mönch und Zen-Meister Willigis Jäger nennt die Orden heute “die Freihandelszonen des Glaubens“.
HALBFAS: Dort gibt es eine gewisse binnenkirchliche Unabhängigkeit, die die Orden nutzen können, um neue Landschaften des geistlichen Lebens zu erkunden.
PUBLIK-FORUM: Trotzdem mahnen Sie an, dass es Maßstäbe für das Christsein geben müsse - die wiederum aber nicht gänzlich getrennt vom Zeitgeist existieren können.
HALBFAS: Ja. Ich glaube, dass der Trend zur Freisetzung der Person und der damit verbundene Individualismus nicht mehr umkehrbar sind. Das führt zu einem Markt der Möglichkeiten. Dem steht ein bestimmtes Selbstverständnis gegenüber, das jede Religion - nicht nur das Christentum - für sich in Anspruch nehmen muss. Im Rahmen dieses Selbstverständnisses gibt es wesentliche Dinge, die eben nicht beliebig sind - auch wenn über sie heute gestritten wird; So ist das prophetische, jüdisch-christliche Moment von Gerechtigkeit und Liebe für meine Begriffe ein Rückgrat des Christentums. Daneben scheint der dogmatische Faktor, der in der Kirchengeschichte Jahrhunderte lang eine herausragende Rolle spielte, an Bedeutung zu verlieren. Das heutige Weltverständnis rüttelt an der Sicherheit, über Gott und Jenseits so definierend sprechen zu können, wie das in vergangenen Jahrhunderten geschehen ist. Aber spezifisch christliche Maßstäbe setzt auch das Verhältnis von Glaube und Erkenntnis, Glaube und Wissen, Glaube und Freiheit.
PUBLIK-FORUM: Das Christentum ist also eine Religion, deren einer Pfeiler die Vernunft ist ...
HALBFAS: Aber ja! Das Christentum ist eingebunden in unsere westliche Kultur und hat sie wesentlich mitbestimmt. Auch das kritische Prinzip, das unsere Art Wissenschaft zu betreiben untermauert, hat kräftige christliche Wurzeln. Die Christen sollten das nicht vergessen.
PUBLIK-FORUM: Wenn Sie das so formulieren, sehen Sie offenbar in der Gegenwart der Kirche einen Mangel daran?
HALBFAS: Kritik wird innerhalb der Kirche als gegnerisch eingestuft. Das binnenkirchliche Bewusstsein exkommuniziert Kritiker immer noch, wenn auch nur informell. Ich glaube, das geschieht wegen der Vermutung, dieses oder jenes könnte zu weit gehen, dem eigenen Zugriff entgleiten, die beanspruchte Autorität in Frage stellen und Veränderungen auslösen, die man immer fürchtet. Angst kommt aus mangelndem Glauben! Und solange diese Angst bestimmend bleibt, wird die Kirche den krisenhaften Prozess, in dem sie heute in Europa steckt, nicht bewältigen.
PUBLIK-FORUM: Brauchen wir dann also eine neue Aufklärung? Müssen die Christen heute wieder daran erinnert werden, dass das Christentum im Grunde nicht aufklärungsfeindlich ist? Und dass folglich die neue, zweite Aufklärung - anders als die erste im späten 18. Jahrhundert - nicht aus der Religion ausziehen muss, sondern auf eine kreative, selbstbestimmte und in diesem Sinne freie Religiosität zielen kann?
HALBFAS: Wir müssen von der Ersten zur Zweiten Naivität kommen, wie der Philosoph Paul Ricoeur sagt. Es geht darum, nicht bei Kritik und Aufklärung stehen zu bleiben, sondern auf ein Bewusstseinsniveau zu kommen, das eine neue Reife und Sicherheit gibt. Eine Gebildetheit, die mit spiritueller Kompetenz einhergeht.
PUBLIK-FORUM: Also brauchen wir eine „Bildungsoffensive zum Christentum“? Denn das Wissen über die eigenen Glaubenstraditionen ist ja mittlerweile so gering, dass kaum noch jemand sagen kann, von was er sich beispielsweise verabschieden will...
HALBFAS: ...Ja! Aber diese Bildungsoffensive darf sich eben nicht darin erschöpfen, die alten Formeln einzuschärfen. Nur ein neues Leben und eine daraus erwachsende neue Sprache können die überlieferten Glaubensinhalte wieder bedeutsam machen.
PUBLIK-FORUM: Diese Bildungsoffensive müsste dann an den Schulen und Hochschulen ihren Platz finden, aber bis in zivilgesellschaftliche Kreise hinein gehen.
ETEL ADNAN: Untitled (Beirut), 2010, oil on canvas, 24 x 30 cm |
PUBLIK-FORUM: Aber die Wirklichkeit ist ja von einem anderen Phänomen geprägt: Es gibt keine religiöse Bildung mehr im Land! Fast keine jedenfalls ...
HALBFAS: Immerhin gibt es sie - beispielsweise - in spirituellen Zentren. An Orten, an denen katholische Priester, aber auch evangelische Theologen arbeiten, die eine Zen-Ausbildung absolviert haben und nun auf Grund ihrer eigenen Erfahrung die Theologie ungewöhnlich authentisch buchstabieren. Spirituelle Bildung begegnet einem hin und wieder auch an Hochschulen. Und es gibt auch andere Kräfte, die nicht geschwächt. sondern vitaler geworden sind. Schauen Sie doch Ihre Zeitung an! Sie ist für viele ein Ausdruck dieses Aufbruchs und neuen Schwungs! Wir müssen aufhören, den Sandhaufen immer nur wieder umzuschaufeln!
PUBLIK-FORUM: Mit diesem Aufbruch, wie Sie ihn sich vorstellen, ist aber doch auch ein Traditionsbruch verbunden, insbesondere im Gottesverständnis. Das zeigen religionssoziologische Studien - und vorausdenkende Theologinnen und Theologen registrieren dieses Umdenken. Auch Sie sind überzeugt dass es eine Korrektur des theistischen - also des personalen, überweltlichen - Gottesbildes braucht. Wie muss diese Korrektur aussehen?
HALBFAS: Zunächst einmal so, dass wir bereit sind, uns von diesem stark anthropomorph gefärbten Gottesverständnis, das nicht mehr trägt und mit unserem sonstigen Weltbild überkreuz liegt, zu verabschieden.
PUBLIK-FORUM: Da spielt dann die Theodizee-Frage mit hinein. Also die nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen und des Leides in der Welt.
HALBFAS: Die Theodizee-Frage ist an das überlieferte Gottesbild gebunden. Wenn wir Gott aber nicht mehr als diesen alles richtenden Weltenlenker denken und nicht mehr glauben, dass er für das, was immer auch geschieht - für Tsunamis, Zugunglücke, Attentate, Kriege und Krankheiten - zuständig ist, werden wir die Theodizee-Frage auch nicht stellen. Wir können Gott heute nicht mehr wie unsere Vorfahren in die naturhaft gegebene oder - nach Auschwitz - in die geschichtlich disponierte Weltmaschinerie einbinden.
PUBLIK-FORUM: Wäre es nicht auch möglich, ein theistisches Gottesbild zu bewahren, das sich vom allmächtigen Weltenlenker verabschiedet?
HALBFAS: Die mystische Tradition spricht vom Panentheismus. In diesem Verständnis ist Gott in allem, was existiert, lebendig und relevant, aber er erschöpft sich dann nicht, sondern geht über das, was Mensch, Welt und Kosmos sind, hinaus.
PUBLIK-FORUM: Aber unsere menschliche Konstitution ist doch so, dass wir wohl an einem göttlichen Du festhalten müssen.
HALBFAS: Ja, da wir personal leben, bleibt unser Verständnis der uns umgreifenden Wirklichkeit personal bestimmt...
PUBLIK-FORUM: ...auch wenn man dieses Gottesbild gleichzeitig wieder brechen kann, indem man sagt: Er ist sowohl theistisch als auch nicht-theistisch in allem präsent.
HALBFAS: Vielleicht ist am Beispiel »Gebet« die Differenz am ehesten zu fassen. Was heißt es denn, für jemanden oder für etwas zu beten? Beten kann nicht bedeuten, die eigene Verantwortung an Gott abzutreten. Angemessener wäre, die Dinge, wie sie unabänderlich sind, in einem tiefen Vertrauen anzunehmen und dazu ja sagen zu lernen. Und falls sie veränderlich sind, eine Veränderung zu betreiben und zu verantworten. So sehr Theologen und Kirchenleute jahrzehntelang Bonhoeffers Programm, zu leben »et si deus non daretur« - als ob es Gott nicht gäbe - besprochen haben, taten sie nichts, in der Konsequenz eine neue Praxis des Glaubens und Betens zu entwickeln.
PUBLIK-FORUM: Man kann dieses »Et si deus non daretur« leben - und kann doch gleichzeitig diesen Gott erfahren.
HALBFAS (überlegt kurz und holt dann ein Buch): Ich möchte Ihnen als Antwort einen Ausschnitt aus dem Tagebuch einer ungewöhnlichen Frau vorstellen: Etty Hillesum war eine junge, niederländische Jüdin, die weder im Kontakt zu einer jüdischen noch zu einer christlichen Gemeinde stand. Während der Besetzung der Niederlande durch die Nazis hat sie dieses Tagebuch geführt, in dem sich eine ganz neue Frömmigkeit zeigt. In einem Sonntagmorgengebet schreibt sie (Halbfas schlägt das Buch »Das Christentum« auf und liest vor):
»Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben ... Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Innern bis zum Letzten verteidigen müssen.«Hier zeigt sich eine Reife im Gottesverständnis, die sich im Alltag der meisten christlichen Gemeinden bis heute nicht entwickelt hat. Etty Hillesum hat das Wort Mystik bestimmt nicht gekannt. Sie hat wahrscheinlich auch keine theologische Literatur gelesen. Aber sie hat eine Spiritualität aus einem Gottes- und Selbstverständnis gelebt, das die traditionelle Frömmigkeit weit übersteigt.
PUBLIK-FORUM: Sie sagen, auch in der Christologie - in der Lehre von Jesus als dem Christus -müsse sich einiges ändern. Es gab ja Zeiten in der Theologie, da war es ganz wichtig, die Verbindung zu finden von Jesus zu Christus. Heute interessieren sich die Leute fast nur noch für Jesus. Beim Thema »Christus« gehen die Klappen runter. Wie können wir umgehen mit der Krise der Christologie?
HALBFAS: Das kirchlich gelehrte, gefeierte und gebetete Christentum ist entschieden christologisch geprägt. Aber man muss bedenken, dass sich aus der Christologie alles machen lässt, wenn sie die direkte Verbindung zum historischen Jesus verliert oder aufgibt. Jesus war Jude, und er glaubte in jüdischer Weise an Gott. Eine Christologie darf an diesem unbezweifelbaren Befund nicht vorbeigehen. Eine Christologie, in die dieser Gottesglaube Jesu nicht eingebracht wird, ist eine Christologie ohne Jesus. Sie macht aus Jesus eine Kunstfigur.
PUBLIK-FORUM: An der Christologie hängt ja auch immer die Erlösungslehre...
HALBFAS: ...und damit ist wahrscheinlich die entscheidende Umbaustelle benannt. Eine Baustelle, die mehrere Engpässe hat. Die Ostkirche betont stark die Erlösung auf Grund der Menschwerdung Gottes. Die Westkirche sagt: »... denn durch dein heiliges Kreuz und Leid hast du die Welt erlöst« und fokussiert so das Ganze auf den Tod Jesu hin. Aber an die biologischen Eckdaten eines Lebens - Geburt und Tod - das Erlösungsverständnis zu knüpfen ist ein problematischer Ansatz. Letztlich ist Erlösung theologisch, nicht christologisch zu verstehen: Der durch Jesus vermittelte Gott ist ein Gott der Liebe. Dieser Gott war immer schon Liebe, nicht erst seit Jesus. Und die Liebe Gottes ist das eigentlich Erlösende. In Jesu Verständnis muss diese Erlösung sich immer neu ereignen. Als gelebte Liebe, als Ermöglichung des Lebens.
PUBLIK-FORUM: Erlösungs- und Kreuzestheologie sind paulinisch geprägt. Sollten wir aufhören, Paulus an dieser Stelle ständig umzuinterpretieren, und uns stattdessen von seiner Vorstellung verabschieden?
HALBFAS: Das ginge mir ein wenig zu weit. Allerdings schrieb Paulus zu einer Zeit, in der in Jerusalem wie überall in der griechisch-römischen Welt noch die Opferaltäre brannten. Der sühnende Sinn dieser Kulte hat Paulus angeregt, Jesu Kreuzestod als Opfer zu deuten. Nachdem dieser Interpretationshintergrund weggefallen war, hat man den Tod Jesu als Loskauf, später als Satisfaktion ausgelegt. Diese Deutungen tragen heute nicht mehr. Dennoch müssen wir den Begriff Erlösung nicht aufgeben. Wir können sie als Befreiung verstehen und uns daran erinnern, dass auch die Märchen von Erlösung sprechen. Dort wird immer aus einer Gestalt der Uneigentlichkeit befreit. Jemand ist in ein Tier, eine Hexe oder einen Stein verwandelt. Aber die uneigennützige Liebe eines anderen kann ihn erlösen. Da begegnen sich christliche und allgemein menschliche Erfahrung.
PUBLIK-FORUM: Hat das Christentum in diesem Sinne anderen Religionen etwas voraus?
HALBFAS: Das Christentum ist zuerst einmal eine Religion neben anderen Religionen. Die Geschichte des Glaubens beginnt mit dem Homo sapiens, nicht erst mit dem Judentum. Aber auch das Judentum hat Wurzeln, die weit über seine erinnerte Geschichte hinaus reichen: nach Ägypten, Babylonien, Assyrien, in das frühe Kanaan. Diese Wurzeln tragen auch das Christentum; es wird also aus vielen älteren religiösen Traditionen gespeist. Neu hinzu kommen hier das späte Ägypten, die griechische Welt, das römische Erbe, die germanische Einfärbung. Das ist das eine. Zum anderen ist es mit Religionen wie mit Sprachen: Jede Sprache ist eine besondere Weltansicht. Insofern muss sich das Christentum neben, nicht über anderen Religionen verstehen und diese Religionen ebenso akzeptieren, wie wir ja auch kulturelle Verschiedenheit nicht als Mangel, sondern als Reichtum erleben. In ihrer Vielfalt können die Religionen einander ergänzen und korrigieren. Aber wenn man nun zum dritten fragt, ob das Christentum anderen Religionen etwas Entscheidendes voraus habe, so sehe ich dies auf sozialem Gebiet. Da ist die von den frühen Propheten - Hosea, Amos, Jesaia, Jeremia - her kommende Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, weitergeführt in der christlichen Liebesethik, die darin gipfelt, den Ort Gottes in der Ohnmacht und Hilflosigkeit von Menschen zu erkennen. Insofern hat das Christentum etwas sehr Eigenes, das auch in andere Religionen inspirierend hineinwirken kann - während wir von anderen Religionen spirituelle Sensibilität und meditative Praxis gewinnen können.
PUBLIK-FORUM: Was wären aus Ihrer Sicht sinnvolle Schritte zu einem heute nötigen religiösen Bewusstseinswandel?
HALBFAS: Zuerst geht es um die Wahrnehmung der Zeitzeichen: um Einsicht in den ablaufenden Prozess. Diesen Prozess kann im Wesentlichen der Journalismus bewusst machen. Auch und vor allem die kirchliche Presse könnte es - was sie aber nicht tut... Es geht um die Wahrnehmung, die Annahme und Analyse des stattfindenden Traditionsbruchs, der vor uns angefangen hat und erst lange nach uns endet. Diesen Traditionsbruch als Säkularisierung zu deuten, erfasst den Vorgang nicht. Ich verstehe ihn als religiösen Paradigmenwechsel, der zu einem umfassenden Umbau theologischer Weltsichten führt - zeitversetzt auch in den nicht-christlichen Religionen! Kirchenleute sehen nur auf die derzeitigen Erschöpfungserscheinungen und ziehen sich in ihre Wagenburg zurück. Natürlich gehen in einem Paradigmenwechsel auch wertvolle und liebenswerte Traditionen verloren. Andererseits wird ohne Abbruch auch kein Raum für Neues frei! Es ist denkbar, dass viele Kirchen irgendwann leer stehen. Aber das muss sich keinesfalls so massiv ereignen, wie es wahrscheinlich geschieht, wenn eine hohe Laienspiritualität die Räume neu zu nutzen und zu füllen in der Lage ist.
PUBLIK-FORUM: Konzeptionen dazu gibt es schon. Die Frage ist aber; ob und wie diesen Konzeptionen in den Kirchen Raum gegeben wird.
HALBFAS: Zurzeit sehe ich leider nichts, was hier neue Zeichen setzt. Es soll alles nach dem überkommenen Muster weitergegeben und verwaltet werden. Die derzeitigen Pastoralstrategien, die ja nur eine Mängelverwaltung sind, reformieren zurück in die Vergangenheit. Dabei liegen die demografischen Fakten auf dem Tisch! Wenn man wollte, könnte man durchaus eine Generation weiter sehen.
PUBLIK-FORUM: Können Sie sich unter diesen Bedingungen vorstellen, dass es irgendwann eine Neu-Spiritualisierung der Kirche gibt? Eine, die nicht in die Reaktion führt? Oder wird die Lebendigkeit sich auf Dauer andere Orte suchen?
HALBFAS: Ich kann es mir vorstellen - weil ich es mir vorstellen möchte. Aber ich habe Zweifel. In der katholischen Kirche käme es heute darauf an, die Kompetenz .und das Recht der Laien zu fördern, gestaltende Verantwortung zu übernehmen. Die Theologie müsste den religiösen Paradigmenwechsel kreativ begleiten. Von der Kirchenleitung wären Einsicht und Bereitschaft zu erwarten, dem Bewusstseinsstand der europäischen Gesellschaft und ihrer Kirchenmitglieder, angemessen Rechnung zu tragen. Ich fürchte allerdings, eher schreibt man in Rom unsere Länder ab; als dass man hier unterschiedliche Freiheiten einräumt, zum Bei- spiel in Sachen Gemeindeleitung und Zölibat. Es ist auch die Frage, inwieweit eine Kirche, die sich seit Plus IX. auf Ewigkeitswerte hin festschreibt, ihre eigenen Entscheidungen noch korrigieren kann. Aber was immer seitens der offiziellen Kirche gesehen, erkannt und getan wird - es gibt eine geschichtliche Logik, deren Bahnen nicht umgebogen werden können. Wir sind dieser Logik gegenüber nicht ohnmächtig, wenn wir die Zeichen der Zeit erkennen. Aber wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Nicht alles, was heute unterbleibt, ist morgen noch nachholbar.
bearbeitung nach einem foto von zvg | reformiert.info |
Hubertus Halbfas, geboren 1932, zählt zu den einflussreichsten Erneuerern der katholischen Religionspädagogik. Er war bis 1987 Professor in Reutlingen, danach blieb er als Freiberufler in der Lehrer Aus- und –Fortbildung. Halbfas lebt im westfälischen Drolshagen, ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.
Interview: Britta Baas und Peter Rosien
Publik-Forum, Zeitung kritischer Christen, 9.11.2005, Nr. 17, S. 30 -34