Erinnerung: Heute vor 75 Jahren verließ ein Zug mit 590 ostwestfälischen Juden den Bielefelder Hauptbahnhof in Richtung Theresienstadt. Es war die erste Etappe eines für die Region beispiellosen Genozids der Alten
fotoquelle: swr |
Größte Deportation aus Bielefeld
Von Christine Panhorst
Es ist der 31. Juli 1942. Ein Freitag. Am Bielefelder Hauptbahnhof setzt sich ein Zug in Bewegung. Das Ziel ist das Konzentrationslager Theresienstadt. Die Menschen in den Waggons sind eine menschliche Fracht, zusammengesperrt auf engstem Raum: Es sind 590 vor allem ältere Jüdinnen und Juden aus ganz Ostwestfalen-Lippe, 541 der Deportierten werden den Holocaust nicht überleben. Es ist die mit Abstand größte Deportation aus Bielefeld - und ein Genozid der Alten.
Für die Zwangsarbeit zu alt, fahren sie ihrem fast sicheren Tod entgegen
Denn unter den Deportierten sind 361 Menschen 65 Jahre und älter. Weil sie für die Zwangsarbeit zu alt sind, fahren sie ihrem fast sicheren Tod entgegen. Der Älteste unter ihnen ist der Bielefelder Bendix Buchdahl.
Als er den Zug besteigt, hat der 92-Jährige bereits drei Tage in einem der zwei Bielefelder Sammellager verbringen müssen. Hier ist sein sorgfältig gepackter Koffer durchsucht worden auf der Suche nach Wertgegenständen, privaten Papieren, Fotos, Geld. Er wird ihn nicht brauchen.
Als der Deportationszug am 1. August 1942 den Bahnhof Bauschowitz erreicht, muss Buchdahl wie alle Deportierten 2,5 Kilometer Fußmarsch nach Theresenstadt bewältigen. Für die Älteren eine Tortur, die die ersten Toten zur Folge hat. Von Buchdahls Tod berichtet der Überlebende Max Hierschfeld, nach 1945 Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld: "Nach kaum acht Tagen ist der alte Herr an den Folgen der Strapaze des Transportes und der Entbehrungen verstorben. Ich selbst bin bei der Beerdigung gewesen." Für viele seiner Mitdeportierten wird es ein sehr viel langsameres Sterben.
Denn das Lager in der damaligen besetzten Tschechoslowakei ist im August 1942 vollkommen überfüllt. Die ostwestfälischen Älteren werden auf Dachböden, in Keller und Abbruchhäuser gepfercht. Orte, die zuvor von den Lagerleitern selbst als zu schlecht für eine Unterbringung befunden worden waren. Das Trinkwasser ist knapp, dazu ist es verseucht.
Der Hunger ist allgegenwärtig. 600 Kalorien am Tag stehen denen, die nicht arbeiten können, zu. Kranke werden mit nur 200 Kalorien pro Tag ernährt. "Die Menschen starben wie die Fliegen", berichtet Karla Raveh aus Lemgo, die als 15-Jährige mit ihrer Familie deportiert worden ist, von den Zuständen im Lager. Es sind erhaltene Tagebucheinträge, Briefe und Berichte von Überlebenden wie Raveh, die ein anderes Bild vom nur scheinbaren "Vorzugslager" Theresienstadt zeichnen, in dem unter anderem zahlreiche jüdische Prominente damals als Häftlinge erster Klasse eine Vorzugsbehandlung erfahren.
Die Ältesten aus Ostwestfalen-Lippe erleben eine andere, fürchterliche Realität. Sie werden in Theresienstadt nicht vergast. Auch Massenerschießungen sind aus dem Lager nicht bekannt. Der Genozid an den Alten vollzieht sich stattdessen schleichend und stetig bei unmenschlichen Lebensbedingungen - von alleine.
So stirbt Ravehs Großmutter Laura Frenkel nach nur drei Monaten und Krankheit. "Sie wollte nicht mehr leben und sagte oft: ,Der alte Gott lebt nicht mehr?. Schließlich brachte man sie in ein sogenanntes Krankenhaus. Ich bin sofort zu ihr gelaufen. Sie lag in einer Kaserne, die unterirdische, gewölbeähnliche Räume hatte. Es war Halbdunkel, ein erstickender Geruch schlug mir entgegen. Hier lagen nur Schwerkranke und Sterbende."
Aus Bielefeld stirbt der nierenkranke Bankier und Versicherungsdirektor Ernst Paderstein nach sogar nur zehn Wochen. Doch der SS geht das Sterben in Theresienstadt nicht schnell genug.
Im September 1942 transportiert sie 152 der älteren Bielefelder Deportierten, darunter das Bielefelder Ehepaar Julius und Emma Löwenstein, ins Vernichtungslager Treblinka nördlich von Warschau, wo alle kurz nach der Ankunft mit Motorabgasen erstickt werden.
Sechs Monate nach dem 31. Juli 1942 ist mehr als die Hälfte der Bielefelder Deportierten tot. Als letzte von 49 Überlebenden stirbt Karla Raveh am 27. Mai 2017.
Der Text ist entstanden in enger Zusammenarbeit und mit Material von Martin Decker, Holocaustforscher in Bielefeld.
© 2017 Neue Westfälische
03 - Bielefeld Süd, Montag 31. Juli 2017