"Konstruktiven Widerspruch trainieren"
Interview: Der Bielefelder Konflikt- und Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer spricht über die aktuelle Flüchtlingspolitik und die alltägliche Verrohung unserer Gesellschaft
Herr Heitmeyer, Sie sind Gast im Sonntagsgespräch der Poetischen Quellen. Das Thema lautet: "Eine Gebrauchsanweisung für Demokratien im 21. Jahrhundert". Wenn es denn eine gibt, welches sind die wichtigsten Schritte einer solchen Gebrauchsanweisung?
WILHELM HEITMEYER: Gebrauchsanweisung finde ich eine etwas unglückliche Formulierung. Trotzdem: aus der Perspektive von uns hier unten. Runter vom Sofa. Bewegung tut immer gut. Also: rein in soziale Bewegungen und Konflikte riskieren. Jeder soziale Wandel zu mehr Freiheit und Offenheit verläuft über Konflikte. Deshalb ist das Reden von alternativloser Politik fatal und führt zu Lähmungen.
Die meisten Menschen, die in Deutschland leben, sind in diese Demokratie hineingeboren worden. Ist Demokratie etwas zu Selbstverständliches?
HEITMEYER: Leider ist das Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich. Die liberalen Demokratien und offenen Gesellschaften sind nicht mehr gesichert. Autoritäre Bewegungen und Rechtspopulisten von Trump über Le Pen, über Polen und Ungarn scheinen attraktiv und ein Großteil des Publikums stimmt zu. Das gilt offen oder klammheimlich auch für Teile unserer Gesellschaft. Bereits 2002 haben wir 20 Prozent rechtspopulistisch eingestellte Bürger festgestellt, aber dafür hat sich niemand interessiert.
Wer ist der größte Feind der Demokratie in unserer Gesellschaft?
HEITMEYER: Man muss das breit anlegen. Wir haben seit zwei Jahrzehnten einen enormen Kontrollgewinn des globalen Kapitalismus und einen entsprechenden Kontrollverlust nationalstaatlicher Politik. Daraus entsteht Demokratieentleerung und Vertrauensverlust in der Bevölkerung. Wenn dann noch von höchster Stelle eine "marktgerechte Demokratie" gefordert wird, ist das ganz fatal. Es ist die Aufforderung einer Unterwerfung der Politik gegenüber dem Kapital.
Und wer ist ihr bester Freund?
HEITMEYER: Das sind diejenigen, die konstruktiv Widerspruch einlegen. Die sich immer wieder in Debatten um Solidarität, Fairness und Gerechtigkeit einmischen, gegen Ideologien der Ungleichwertigkeit von Menschen eintreten. Und zwar bei uns hier ganz unten: in der Verwandtschaft, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, im Sportverein. Aber das muss man trainieren.
Welche aktuellen Konflikte bereiten Ihnen die größten Sorgen?
HEITMEYER: Das liegt auf der Hand, und die meisten Menschen nehmen es genauso wahr: rechtsextreme und rechtspopulistische Abwertung und Gewalt gegen Flüchtlinge, die islamistische Bedrohung, wobei die Abwertung von Muslimen durch andere Religionsangehörige auch ein Problem darstellt. Ebenso die alltägliche Verrohung in unserer Gesellschaft, einschließlich einer rohen Bürgerlichkeit.
Angst scheint ein ständiger Begleiter der Deutschen zu sein. Angst vor Arbeitslosigkeit, vor der Zukunft. Woran liegt das ?
HEITMEYER: Sie hat ihre Gründe in Kontrollverlusten. Über das eigene Leben, die Bestandserhaltung des eigenen Status, also sozialer Anerkennung, und nicht zuletzt über die Zukünfte der Kinder. Die Aufstiegsgesellschaft der alten Bundesrepublik ist ans Ende angelangt. Es gibt soziale Abstiege und damit Anerkennungsverluste.
Sie haben sich in Ihrer Forschung jahrelang mit den Ausmaßen und Ursachen negativer Vorurteile beschäftigt. Gegen Vorurteile - vor allem Fremdem gegenüber - scheint kein Kraut gewachsen zu sein. Warum ist das so?
HEITMEYER: Wir haben zehn Jahre lang die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit untersucht. Das heißt, dass Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit und unabhängig von ihrem individuellen Verhalten in den Fokus von Abwertung und Diskriminierung geraten. Immer dort, wo Gruppenbeurteilungen aus einer Position vermeintlicher Überlegenheit erfolgen und die individuelle Person keine Rolle spielt, sind die Vorurteile besonders verhärtet. Rechtspopulisten machen sich das zunutze: "Wir" gegen "Die".
Sie sind 1992 aus der SPD ausgetreten wegen ihrer Asylpolitik. Wie bewerten Sie die Flüchtlingspolitik der Großen Koalition?
HEITMEYER: Die fällt zwiespältig aus. Es war ein politischer Fehler in der Vergangenheit, vor allem Griechenland und Italien alleingelassen zu haben. Die Öffnung 2015 war humanitär absolut richtig. Die Euphorie mitsamt einer Idealisierung von Flüchtlingen war problematisch, denn es sind "nur" Menschen wie du und ich.
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Zur Person
Die Fragen stellte Nicole Bliesener
© 2017 Neue Westfälische, Donnerstag 24. August 2017
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Interview: Der Bielefelder Konflikt- und Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer spricht über die aktuelle Flüchtlingspolitik und die alltägliche Verrohung unserer Gesellschaft
Wilhelm Heitmeyer - S!NED!|bearbeitung nach einem dpa-foto |
Herr Heitmeyer, Sie sind Gast im Sonntagsgespräch der Poetischen Quellen. Das Thema lautet: "Eine Gebrauchsanweisung für Demokratien im 21. Jahrhundert". Wenn es denn eine gibt, welches sind die wichtigsten Schritte einer solchen Gebrauchsanweisung?
WILHELM HEITMEYER: Gebrauchsanweisung finde ich eine etwas unglückliche Formulierung. Trotzdem: aus der Perspektive von uns hier unten. Runter vom Sofa. Bewegung tut immer gut. Also: rein in soziale Bewegungen und Konflikte riskieren. Jeder soziale Wandel zu mehr Freiheit und Offenheit verläuft über Konflikte. Deshalb ist das Reden von alternativloser Politik fatal und führt zu Lähmungen.
Die meisten Menschen, die in Deutschland leben, sind in diese Demokratie hineingeboren worden. Ist Demokratie etwas zu Selbstverständliches?
HEITMEYER: Leider ist das Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich. Die liberalen Demokratien und offenen Gesellschaften sind nicht mehr gesichert. Autoritäre Bewegungen und Rechtspopulisten von Trump über Le Pen, über Polen und Ungarn scheinen attraktiv und ein Großteil des Publikums stimmt zu. Das gilt offen oder klammheimlich auch für Teile unserer Gesellschaft. Bereits 2002 haben wir 20 Prozent rechtspopulistisch eingestellte Bürger festgestellt, aber dafür hat sich niemand interessiert.
Wer ist der größte Feind der Demokratie in unserer Gesellschaft?
HEITMEYER: Man muss das breit anlegen. Wir haben seit zwei Jahrzehnten einen enormen Kontrollgewinn des globalen Kapitalismus und einen entsprechenden Kontrollverlust nationalstaatlicher Politik. Daraus entsteht Demokratieentleerung und Vertrauensverlust in der Bevölkerung. Wenn dann noch von höchster Stelle eine "marktgerechte Demokratie" gefordert wird, ist das ganz fatal. Es ist die Aufforderung einer Unterwerfung der Politik gegenüber dem Kapital.
Und wer ist ihr bester Freund?
HEITMEYER: Das sind diejenigen, die konstruktiv Widerspruch einlegen. Die sich immer wieder in Debatten um Solidarität, Fairness und Gerechtigkeit einmischen, gegen Ideologien der Ungleichwertigkeit von Menschen eintreten. Und zwar bei uns hier ganz unten: in der Verwandtschaft, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, im Sportverein. Aber das muss man trainieren.
Welche aktuellen Konflikte bereiten Ihnen die größten Sorgen?
HEITMEYER: Das liegt auf der Hand, und die meisten Menschen nehmen es genauso wahr: rechtsextreme und rechtspopulistische Abwertung und Gewalt gegen Flüchtlinge, die islamistische Bedrohung, wobei die Abwertung von Muslimen durch andere Religionsangehörige auch ein Problem darstellt. Ebenso die alltägliche Verrohung in unserer Gesellschaft, einschließlich einer rohen Bürgerlichkeit.
Angst scheint ein ständiger Begleiter der Deutschen zu sein. Angst vor Arbeitslosigkeit, vor der Zukunft. Woran liegt das ?
HEITMEYER: Sie hat ihre Gründe in Kontrollverlusten. Über das eigene Leben, die Bestandserhaltung des eigenen Status, also sozialer Anerkennung, und nicht zuletzt über die Zukünfte der Kinder. Die Aufstiegsgesellschaft der alten Bundesrepublik ist ans Ende angelangt. Es gibt soziale Abstiege und damit Anerkennungsverluste.
Sie haben sich in Ihrer Forschung jahrelang mit den Ausmaßen und Ursachen negativer Vorurteile beschäftigt. Gegen Vorurteile - vor allem Fremdem gegenüber - scheint kein Kraut gewachsen zu sein. Warum ist das so?
HEITMEYER: Wir haben zehn Jahre lang die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit untersucht. Das heißt, dass Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit und unabhängig von ihrem individuellen Verhalten in den Fokus von Abwertung und Diskriminierung geraten. Immer dort, wo Gruppenbeurteilungen aus einer Position vermeintlicher Überlegenheit erfolgen und die individuelle Person keine Rolle spielt, sind die Vorurteile besonders verhärtet. Rechtspopulisten machen sich das zunutze: "Wir" gegen "Die".
Sie sind 1992 aus der SPD ausgetreten wegen ihrer Asylpolitik. Wie bewerten Sie die Flüchtlingspolitik der Großen Koalition?
HEITMEYER: Die fällt zwiespältig aus. Es war ein politischer Fehler in der Vergangenheit, vor allem Griechenland und Italien alleingelassen zu haben. Die Öffnung 2015 war humanitär absolut richtig. Die Euphorie mitsamt einer Idealisierung von Flüchtlingen war problematisch, denn es sind "nur" Menschen wie du und ich.
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Zur Person
- Wilhelm Heitmeyer, 72, war Gründer und von 1996 bis 2013 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.
- Nach seinem altersbedingten Ausscheiden ist er dort als Forschungsprofessor tätig.
- Seit 35 Jahren forscht er zu Rechtsextremismus, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Gewalt und sozialer Desintegration.
Die Fragen stellte Nicole Bliesener
© 2017 Neue Westfälische, Donnerstag 24. August 2017
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wilhelm heitmeyer saß vor fast 50 jahren mit einigen weiteren "genossen" in einem schwarzen ledersessel in meinem wohnzimmer, weil wir als jusos über aktuelle problematiken in unserem damaligen ortsverein "konstruktiv-widersprüchlich" debattieren mussten - wir haben uns herrlich die köpfe heißgeredet ....
aber wir haben uns mit den jahren aus den augen verloren - schon weil sich unsere beruflichen wege trennten: wilhelm mit seiner hochschulkarriere und ich ein paar stufen darunter mit meinem beruflichen sozialen engagement in bethel und anderswo.
neulich haben wir uns nochmal getroffen, auf der fußgängerbrücke über die straßenbahngleise zur uni bielefeld: er ging sicherlich seiner "ruhestands"-tätigkeit nach und ich wollte in die uni-bibliothek.
wir haben uns aber gegenseitig erkannt und gedanken an unsere gemeinsame gute alte juso-zeit ausgetauscht.
politisch sind wir - wie ich diesem interview der nw entnehmen kann - in vielen punkten d'accord - da bedarf es mal keinem "konstruktiven widerspruch" ... also insgesamt: danke, wilhelm ... - S!