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feste burg

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dieser tage komme ich ja nicht umhin, einige worte zu luther und zur reformation vor 500 jahren auch hier zu veröffentlichen ... - und über jubilare und jubiläumsanlässe sagt man ja nur das beste - neben aller kritischen betrachtungen der feierlichkeiten aus diesem anlass (siehe vorangegangene posts) ...

luther war - wie gesagt - ein kind seiner zeit ... - und auch die reformation war ein zeitgebundenes ereignis, das aber große wirkungen und kulturelle umwälzungen nach sich zog ... 

das mittelalter wurde mit seinem dumpfen mief hinweggefegt - und es kam der hauch von "frischer luft" und "befreiung" - auch für alle bürger - männer und frauen - unterschiedlichster stände - und deren kinder ... sie sollten nun in den bürgerschulen lernen, selbstständig zu lesen ...

luther hatte ja just in der apostelgeschichte die stelle übersetzt, wo ein königlicher kämmerer aus äthiopien in einer kutsche im buch des propheten jesaja las - und philippus an die kutsche trat und fragte: "verstehst du auch, was du da liesest? er (der kämmerer) aber sprach: wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet?" - und philippus begann mit der biblischen unterweisung dieses mannes... (apg 8,26-40).

diese bildung aller menschen brach sich nun ab der reformation durch luther unaufhaltsam bahn - und das ist nach meinem dafürhalten die größte umwälzung ... - auch wenn nun 500 jahre allgemeinbildung heutzutage nicht immer nur zur vernunft geleiten - wie wir es ja heutzutage im alltag und in der großen politik erleben müssen ... 

ein aspekt dieser jubelfeier ist aber auch, welch eine mehrdimensional verändernde kraft mit langzeitwirkung von dieser reformation ausging für alle bereiche des "zivilisierten" lebens von damals bis heute: eigentlich aus einem begrenzten "klerikalen" randereignis - aus dem glauben an einen gott heraus... - in unserer derzeitigen gottfernen atheistisch-säkularisierten welt ist das kaum noch nachzuvollziehen - es fehlt auch vielleicht der nötige vom glauben getragene enthusiasmus - im wahrsten sinne des wortes einfach die dazu nötige anstachelnde "be-geisterung" ... ...

trotzdem einen schönen reformations-jubeltag - statt diesem blöden und unsäglichen "helloween" S!


Luthers Thesenanschlag: Der belgischen Historienmaler Ferdinand Pauwels stellte das Ereignis von Wittenberg 1872 dramatischer dar, als es sich wohl in Wirklichkeit abgespielt hatte - Quelle: S!|graphic nach picture-alliance / akg-images










Keiner entkommt Martin Luther

Von Matthias Heine | welt.de

Am 31. Oktober 1517 veröffentlichte Martin Luther seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel. Aber was geht uns das 500 Jahre später eigentlich noch an? 95 Gründe, warum die Reformation unser aller Leben immer noch beeinflusst


1. Weil sich aus der Einladung zu einer akademischen Diskussion, die ein Mönch in einer kleinen deutschen Provinzuniversitätsstadt veröffentlichte, rasch etwas entwickelte, das größer war als sein geringfügiger Anlass. Die Entwicklung der religiösen Strömungen, die man heute unter dem Begriff Protestantismus zusammenfasst, ging irgendwann über Deutschland hinaus und prägt immer noch die Welt, in der wir alle leben.

Deutschland

2. Ohne die Ereignisse des 31. Oktober 1517 gäbe es Deutschland in seiner heutigen Gestalt nicht.

3. Ein nicht-protestantisches Preußen ist undenkbar. Und damit die deutsche Einigung unter den Hohenzollern.

4. Die preußischen Tugenden sind protestantische Tugenden: Treue, Ehre, Pflichtbewusstsein, Verlässlichkeit, Aufrichtigkeit, Sachlichkeit, Diensteifer und Selbstzucht wurden durch evangelische Tradition legitimiert und verstärkt.

5. Die Mann, der Deutschland 1871 einigte, war durch sein protestantisches Denken und Fühlen geprägt. Katholiken empfand Bismarck bekanntlich als „Reichsfeinde“.

6. Der Kaiser, der das zweite deutsche Reich in den Ersten Weltkrieg führte und zerstörte, war leider auch ein Protestant. Ein ziemlich fanatischer dazu.

Kultur

7. Die Meisterdenker der deutschen Philosophie waren Produkte einer evangelischen Kultur: Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Nietzsche.

8. Die klassische deutsche Literatur wurde fast ausschließlich von Protestanten hervorgebracht. Die Reihe reicht von Gryphius über Lessing, Wieland, Goethe, Schiller, Mörike, bis hin zu Thomas Mann. Noch Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ ist in seinem Stolz auf die Affektkontrolle ein zutiefst protestantisches Werk und Bertolt Brecht nannte die Lutherbibel das für ihn wichtigste Buch.

9. Wie der Literaturhistoriker Heinz Schlaffer gezeigt hat, haben bis um 1900 nur die protestantischen Gebiete Deutschlands Weltliteratur hervorgebracht. Der Beitrag der katholischen deutschsprachigen Gebiete zur Weltliteratur beginnt erst mit der Wiener Moderne – und deren wichtigste Vertreter waren bezeichnenderweise auch noch fast ausschließlich Juden: Schnitzler, Freud, Roth, Kraus.

10. Das protestantische Pfarrhaus hat auch seine zersetzendsten Kritiker hervorgebracht: Zwei so gottlose Seelen wie der Luther-Hasser Friedrich Nietzsche, der mit seinem „Zarathustra“ eine Art Antibibel schrieb, und Gottfried Benn waren Pfarrersöhne.

11. Johann! Sebastian! Bach!

Alphabetisierung

12. Volksbildung fängt in Deutschland erst mit Luther an. Seine Flugschrift „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ aus dem Jahre 1525 legt den geistigen Grundstein für das Volksschulwesen. Darin fordert der Reformator eine humanistische Schulbildung für alle Stände, vor allem mit dem Ziel, jedem eine eigene Bibellektüre zu ermöglichen.

13. Ein Beispiel für die Wirkung: Während es 1520 im Herzogtum Württemberg 89 Schulen gab, waren es um 1600 bereits über 400.

14. Der Historiker Robert A. Houston schreibt: „Tatsächlich war die Alphabetisierung in protestantischen Ländern im Allgemeinen weiter fortgeschritten als in katholischen und wo beide Glaubensrichtungen nebeneinander bestanden, wie etwa in Frankreich, Irland und in den Niederlanden, waren die Calvinisten meist gebildeter als die Katholiken.“

Wissenschaft

15. Auch auf dem Gebiet der Wissenschaftsfreiheit und der Universitätsqualität wirkte sich der Impuls Luthers langfristig aus. Neugegründete evangelische Universitäten in Deutschland mussten schon, um sich gegenüber der etablierten Konkurrenz katholischer und ausländischer Hochschulen zu behaupten, ein relativ größeres Maß an Freiheit der Lehre zulassen.

16. Hinzu kamen typisch protestantische Internalisierungen. Friedrich Wilhelm Graf schreibt: „Der reformatorischen Entdeckung einer Eigenwürde des Weltlichen entsprach es, dass die kirchliche Obrigkeit nicht mehr als die normative Instanz zur Beurteilung gelehrten Wissens galt.“

17. Protestantische Wissenschaftler entwickelten stärker als Katholiken ein Rollenverständnis, das an Traditionsbruch, Kritik, Innovation, Rationalisierung und individueller Wahrheitssuche orientiert war.

18. Dem widerspricht nicht unbedingt, dass Leute wie Kepler, Wolff oder Thomasius mit Autoritäten der lutherischen Orthodoxie in Konflikt gerieten, wenn sie Forschungsfreiheit tatsächlich in Anspruch nahmen. Sie durften sich mit einigem Recht als wahre geistige Nachfolger Luthers fühlen.

19. Der Schweizer Theologe Karl Rudolf Hagenbach vertrat daher, allen Einschränkungen zum Trotz, schon im 19. Jahrhundert die These, die meisten Protestanten sähen „das Princip der freien Forschung“ als „das eigentliche Princip des Protestantismus“.

20. Ein Beispiel dafür, dass dieses „Princip“ heute noch nachwirkt: Die wichtigsten Bücher über Luthers Judenhass sind von den protestantischen Theologen Peter von der Osten-Sacken und Thomas Kaufmann verfasst worden.

21. Pioniere der deutschen Wissenschaftssprache wie Leibniz, Thomasius oder Wolff waren nicht zufällig Protestanten oder wirkten an protestantischen Bildungsinstitutionen. Wenn man die Bibel dem Volk in seiner Sprache zugänglich machte, lag es nahe, auch die Ergebnisse der Wissenschaft für alle Menschen, nachvollziehbar zu machen. Christian Thomasius hängte seine Einladung zu einer ersten deutschsprachigen Vorlesung am Reformationstag, dem 31. Oktober 1687, ans Schwarze Brett der Universität Leipzig und wählte dieses Datum natürlich wegen seines symbolischen Gewichts. Diejenigen, die auf Latein als Wissenschaftssprache beharrten, empfanden das als Skandal – darunter waren ironischerweise die Vertreter der lutherischen Orthodoxie, die an der Hochschule im sächsischen Kernland der Reformation sehr mächtig war.

Frauenbildung

22. Luther war auch ein Pionier der Frauenbildung. Das Privileg, die Bibel selbst lesen zu können, sollte nicht auf Männer beschränkt sein. Bereits in seiner grundlegenden Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ schrieb er 1520: „Und wollte Gott, jede Stadt hätte auch eine Mädchenschule, in der die Mädchen täglich eine Stunde das Evangelium hören, es wäre auf deutsch oder lateinisch.“

23. In der bildungspolitischen Ermahnung an die Ratsherren vier Jahre später wurde Luther noch konkreter. Er ermahnte die Obrigkeiten deutscher Städte, „die allerbesten Schulen für Knaben und Mädchen an allen Orten aufzurichten.“

24. Der britische Historiker Andrew Pettegree beschreibt den Bildungsimpuls für Mädchen, der vom Protestantismus ausging: „Das gesamte Ausmaß dieser Leistung zeigt erst ein Vergleich deutscher Regionen mit einer Bestandsaufnahme der Schulen in Venedig von 1587. Dort gab es zahlreiche Schulen mit mehreren Tausend Schülern, aber der Anteil der Mädchen lag bei lediglich 0,2 Prozent. Laut späteren Erhebungen machten Mädchen in ländlichen Gegenden Deutschlands annähernd die Hälfte der Schüler aus. Luthers Pionierleistung auf diesem Gebiet findet kaum Anerkennung.“

Die Diktatur Griechenlands

25. Die konkrete Gestalt der deutschen Schulen wurde nachhaltig geprägt durch die Reformen von Luthers wichtigstem Weggefährten Philipp Melanchthon, einem Griechisch-Professor.

26. Die intensive Beschäftigung mit den alten Griechen an deutschen Schulen hatte Auswirkungen auf die Klassik – ohne Melanchthon kein Winckelmann, keine „Iphigenie“ Goethes, keine „Götter Griechenlands“ von Schiller, kein Nietzsche. Die englische Germanistin E. M. Butler hat ein Buch geschrieben, in dessen Titel sie geradezu von einer „Tyrannei Griechenlands über Deutschland“ sprach.

27. Gerade die „Iphigenie“, dieses Musterbeispiel der Entsagung, Selbstüberwindung und Affektkontrolle hat natürlich mit den realen Griechen viel weniger zu tun als mit protestantischen Tugendidealen.

Unsere Muttersprache

28. Auch wenn Luther unser Deutsch nicht „erfunden“ hat, so hat doch kein einzelner Mensch mehr Einfluss auf die deutsche Sprachgeschichte gehabt als er.

29. Mit seiner Bibelübersetzung, aber auch mit seinen Kirchenliedern, mit dem Katechismus und mit seinen Predigten, die von weniger kreativen Pfarrern lange Zeit immer wieder vorgelesen wurden, schuf er die Grundlage für eine überregional verständliche Form des Deutschen.

30. Auf der Basis dessen entwickelten Dichter und Grammatiker zur Zeit des Barock und später in der Epoche der Klassik eine Literatursprache, die in allen deutschsprachigen Gebieten anerkannt war – seit den Bildungsreformen Maria Theresias und ihres Sohnes Joseph II. auch im katholischen Österreich.

31. Die Zahl der Wörter, die Luther erfand oder zumindest in die Schriftsprache einführte, ist Legion: Feuereifer, Herzenslust, Bubenstück, Denkzettel, Rotzlöffel, Rüstzeug, Schandfleck und viele mehr.

32. Die Luthersprache hatte aber auch subtilere Wirkungen auf den Satzbau und sogar die Wortformen.

33. Ohne die Lutherbibel hätten sich die heute nur süddeutschen Wortformen Kron, Sonn, Seel wohl durchgesetzt. Das unbetonte e war in solchen Wörtern um 1500 in fast allen deutschen Dialekten verschwunden – nur nicht im Ostmitteldeutschen, das Luther als Grundlage seiner Bibelsprache nahm. Durch das hohe Prestige der Luthersprache und den Einfluss protestantischer Sprachtheoretiker wie Opitz und Gottsched kehrte das e schließlich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auch im katholischen Schrifttum zurück. Vorher war es jahrhundertelang als lutherisch empfunden worden.

34. Der hohe Stellenwert, den Arbeit in Deutschland hat, ist von Luther begründet. Vor ihm bedeutete Arbeit „Not, Leid, Entbehrung“. Er verhilft der Bedeutung „sinnvolles, gottgefälliges Tun“ zu Durchbruch. Heute ist Arbeit eines der global verbreitetsten deutschen Wörter, man kennt es auch in Korea, auf Samoa und Belize.

Globale Wirkung

35. Die Bewegung, die mit Luthers Thesen begann, löst sich relativ rasch von ihm und der Beschränkung auf Deutschland. Wenn Luther Deutschland verändert hat, hat Jean Calvin die Welt verändert. Aber: „Alle Protestantismen beziehen sich auf den Protest eines Wittenberger Universitätstheologen gegen eine tendenziell allmächtige Institution“, schreibt Friedrich Wilhelm Graf in seinem Buch „Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart“.

36. In den letzten 400 Jahren hat es nach- und nebeneinander drei protestantische Weltmächte gegeben, von denen die neuzeitliche Globalisierung vollendet wurde: Holland, Großbritannien und die USA.

Holland

37. Das calvinistische Holland wurde die erste globale kapitalistische Handelsmacht.

38. Dass die Holländer sich von den Spaniern lossagten und bereit waren, 100 Jahre um ihre Unabhängigkeit zu kämpfen, liegt natürlich auch daran, dass sie es als Protestanten nicht mehr im doktrinär-katholischsten Land der Welt aushielten.

England

39. Das anglikanische England trat schließlich in Hollands Fußstapfen und übertraf den Vorgänger noch an Macht und Reichtum. Den Anstoß dafür gab der puritanische Militärdiktator Oliver Cromwell mit der „Navigationsakte“.

Die USA

40. Die Grundsteine der britischen Kolonien in Nordamerika sind von protestantischen Sekten gelegt worden. Die Pilgerväter gehören dazu und auch der Quäker William Penn, der das nach seinem Vater benannte Pennsylvania als „Heiliges Experiment“ gründete, und zum Zufluchtsort für anderswo verfolgte christliche Gruppierungen machte.

41. Die Lossagung der britischen Kolonien in Amerika erfolgte im Geiste eines aufmüpfigen Protestantismus. Der König in London war für die amerikanischen Revolutionäre der „Pharao“, eine Metaphorik, die überhaupt erst möglich wurde, weil im evangelischen Christentum das Alte Testament eine viel größere Rolle spielte, als zuvor im Katholizismus.

42. Die Bürger der neu gegründeten USA empfanden sich als neues auserwähltes Volk, ihr Land als „God’s Own Country“ oder „New Zion“.

43. George Washington sagte: „It is impossible to rightly govern the world without God and the Bible.“ Und natürlich verstand er Gott als einen protestantischen Gott.

44. Der White Anglo-Saxon Protestant galt fast 200 Jahre lang als der archetypische Amerikaner. Es dauerte bis 1961, bis die USA erstmals einen katholischen Präsidenten bekamen: John F. Kennedy. Es gibt ein faszinierendes Buch des Kulturhistorikers Michael Hochgeschwender namens „Amerikanische Religion“ – darin geht es nur um typische Formen des Protestantismus in den USA.

45. Die Eroberung des amerikanischen Westens wurde auch als eine protestantische Kulturmission verstanden. Nicht umsonst ist der „circuit rider“, der berittene Wanderprediger, eine archetypische Figur der Westernfolklore. Seine idealtypische Verkörperung war der Methodist Francis Asbury (1745–1816), der 270.000 Meilen durch das Land ritt und über 16.000 Mal vor Weißen, aber auch vor Native Americans predigte.

Revolution

46. Auf die Idee, man könnte einem König den Kopf abschlagen, kamen 140 Jahre vor der französischen Revolution schon die Vertreter einer protestantischen Bewegung: die Puritaner in England.

47. Die Idee kam ihnen, weil vor allem calvinistische Theologen den Bürgern ein Recht auf Widerstand gegen eine Obrigkeit, die Gott missachtete, zustanden.

48. Die französischen Revolutionäre von 1789 haben Luther als einen ihrer Vorgänger angesehen. 1802 stellte die Académie Française die Preisfrage: „Welches ist der Einfluss der Reformation Luthers auf die politische Lage der verschiedenen Staaten und den Fortschritt gewesen?“ Es gewann der Privatgelehrte Charles de Villers, der antwortete: „Die Reformation, welche anfangs nichts als eine Rückkehr zur Freiheit in Religionssachen war, wurde auch eine Rückkehr zur Freiheit in Absicht auf Politik.“ Deshalb sei die Gründung der französischen Republik „ein entferntes aber notwendiges Corollar der Reformation.“

Freiheit

49. Solche Theorien knüpfen vor allem an Luthers Schrift: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ aus dem Jahre 1520 an. Friedrich Wilhelm Graf schreibt, die Botschaft dieses Werks, „erlaubte unterschiedlichen sozialen Gruppen, ihre jeweiligen Freiheitsforderungen durch die Wittenberger Kirchenerneuerung legitimiert zu sehen.“

50. Es spielt keine Rolle, dass Luther seine keineswegs als Anleitung zum Ungehorsam verstanden wissen wollte. Sein Freiheitsbegriff wurde ihm bald aus den Händen genommen und radikalisiert, zuerst im Bauernkrieg der 1520er-Jahre.

51. Der Zusammenhang von Protestantismus und Freiheit wurde im 19. Jahrhundert noch ganz klar gesehen. Hegel hielt die Reformation für die „Hauptrevolution“ der Neuzeit. Weil die Unmittelbarkeit des einzelnen Christen zu Gott durchgesetzt wurde, habe sie „das Prinzip des freien Geistes zum Panier der Welt gemacht“.

52. Der jungdeutsche Schriftsteller Heinrich Laube nannte 1833 die politischen Emanzipationsbewegungen der Vormärzzeit, die die Revolutionen von 1848 vorbereiten, den „Protestantismus der Völker“.

53. Zwölf Jahre zuvor hatte König Friedrich Wilhelm III. den öffentlichen Gebrauch des Begriffes Protestantismus in Preußen verboten, weil er ihm zu sehr nach Revolution und Aufruhr schmeckte. Nach einer Kabinettsorder von 3. April 1821 sollte „darauf gehalten werden, die Benennung: evangelisch statt protestantisch – Evangelische, statt Protestanten zu gebrauchen.“

Recht

54. Die deutsche Staatslehre ist eine Schöpfung von Protestanten. Weil sie, anders als die Katholiken, ihre Rolle im politischen Gefüge des Deutschen Reichs immer rechtfertigen mussten, begründeten evangelische Theoretiker wie Samuel von Pufendorf und Veit Ludwig von Seckendorff im 17. Jahrhundert die Reichspublizistik.

55. Seckendorffs Buch „Der deutsche Fürstenstaat“ ist auch der Beginn aller wirtschaftswissenschaftlichen Literatur in Deutschland.

56. Die moderne Völkerrechtstheorie wurde zwar vom spanischen Jesuiten Francisco Suárez mitbegründet, etabliert und ausformuliert wurde sie aber im 17. Jahrhundert von Protestanten wie dem Holländer Hugo Grotius und den Deutschen Samuel von Pufendorf und Christian Wolff.

Pazifismus

57. Der neuzeitliche Pazifismus ist mit protestantischen Glaubensgemeinschaften wie den Mennoniten, den Hutterern oder dem Amischen in die Welt gekommen. Sie waren die ersten, die bereit waren, lieber ins Gefängnis zu gehen, ihr Land zu verlassen oder gar zu sterben, als Soldat zu werden und eine Waffe anzufassen.

Sklavenbefreiung

58. Die Abschaffung der Sklaverei in Amerika ist von religiös inspirierten protestantischen Aktivisten vorbereitet worden und durchkämpfen ließ sie ein tiefgläubiger protestantischer Präsident.

59. Dieser Präsident, Abraham Lincoln, trug, wie so viele Amerikaner des Westens, einen Namen aus dem Alten Testament. Der Antiheld des größten amerikanischen Romans heißt Ahab, der zwiespältige Sucher mit der Winchester im größten aller Western heißt Ethan. Die Hochschätzung des Alten Testaments im Protestantismus beginnt mit Luther.

Rock ‘n‘ Roll

60. Die klassische amerikanische Popmusik hat eine protestantische Wurzel: Hank Williams, Elvis Presley, Jerry Lee Lewis, Little Richard und Johnny Cash waren Sprösslinge des tiefgläubigen ländlich-evangelischen Milieus des Südens und sie alle haben religiöse Lieder gesungen.

61. Noch greifbarer ist der protestantische Einfluss in Blues und Gospel, den traditionellen Musikstilen der Schwarzen.

Nordeuropa

62. Man kann mit dem Finger jedes Land West- und Mitteleuropas und Amerikas auf der Landkarte zeigen und sagen, auf welcher Seite es im Zeitalter der Glaubensspaltung gestanden hat.

63. Die nordischen Länder sind bis heute die protestantischsten Staaten der Welt und alles, was wir mit skandinavischer Liberalität verbinden, rührt aus ihrer lutherischen Tradition her.

64. Den Staat Finnland würde es gar ohne Martin Luther vermutlich gar nicht geben. Das Luthertum war hier, noch mehr als in den Nachbarstaaten, ein Mittel, sich geistig und kulturell vom großen Nachbarn Russland abzugrenzen, der sich das Gebiet Finnlands immer gerne einverleiben wollte. René Nyberg, ein ehemaliger finnischer Botschafter in Moskau und Berlin, hat kürzlich in der „FAZ“ geschrieben: „Der wichtigste Finne, der je gelebt hat, war Martin Luther.“

Nationalkulturen

65. Auch Länder, in denen die Mehrheit der Einwohner keinen aktiven Christen mehr sind, sind natürlich von ihrer religiösen Vergangenheit kulturell geprägt. Die Nationalkulturen Großbritanniens, Deutschlands, den Niederlanden, der USA, der skandinavischen Länder und der Schweiz sind vom jahrhundertelangen Einfluss protestantischer Eliten bestimmt.

66. Beispiel Skandinavien: Weder Strindberg noch Ibsen, weder Ingmar Bergman noch Astrid Lindgren waren glühend evangelisch, die meisten waren Skeptiker und Agnostiker, aber in den Werken dieser skandinavischen Weltkünstler ist das Protestantische natürlich überall mit den Händen zu greifen.

67. Sogar der DDR-Atheismus war ein sehr protestantischer und der Staat war – jenseits aller sowjetischen Einflüsse – natürlich ein groß angelegter Versuch, den preußischen Zaubertrick zu wiederholen und sich durch Konsumverzicht (um nicht zu sagen Austerität) hinaufzuhungern. Im Westen sprach man ironisch von den „roten Preußen“.

Tod und Jenseits

68. Unser modernes Verhältnis zum Tod ist vom Protestantismus geprägt. Friedrich Wilhelm Graf spricht von einer „Entzauberung des Todes“. Von Luther sind erstaunlich wenige Aussagen über das Jenseits überliefert. Er, Zwingli und Calvin unterbanden die bis dahin selbstverständliche Kommunikation mit den Toten, die etwa im Heiligenkult und bei Totenmessen üblich war. Für Protestanten ist der Tod vor allem eine Mahnung, das diesseitige Leben gottgefällig zu führen und das kostbarste aller Güter, die knapp bemessene Zeit, nicht zu verschwenden. Michael Hochgeschwender erklärt die Entstehung frühkapitalistischer Effizienzsteigerungsmethoden, die man Taylorismus und Fordismus nannte, aus dem Geist typisch evangelischen Zeitgewinnstrebens.

Andere Religionen

69. Bis heute beziehen sich Reformbewegungen in anderen Religionen immer auf das Vorbild Luthers.

70. Der Zionismus wurde bei seiner Entstehung als „jüdischer Protestantismus“ interpretiert.

71. Reformströmungen innerhalb des Islam fordern immer mal wieder eine „islamische Reformation“. Man sieht von außerhalb offenbar schärfer, dass Luther bei aller berechtigten Kritik an seinem Dogmatismus und Fanatismus, ein großer Befreier war.

72. Mönche in Sri Lanka forderten in den 1950er-Jahren die Erneuerung ihrer Religion im Sinne eines „buddhistischen Protestantismus“.

Katholizismus

73. Auch der Katholizismus sähe heute ohne Luther anders aus. In seiner gegenwärtigen Gestalt ist er ein Ergebnis der Gegenreformation, mit der das Konzil von Trient 1545 auf den Siegeszug des Protestantismus reagierte.

74. Der 1534 von Ignatius von Loyola gegründete Jesuitenorden ist das bekannteste Produkt einer innerkatholischen Reformbewegung, die auf die „Häresien“ der Lutheraner und Reformierten reagierte, indem sie eigene neue Wege zu Gott suchte.

Kapitalismus

75. Spätestens seit Ernst Troeltsch und seit Max Webers epochaler Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ ist wissenschaftlich belegt, dass die Reformation die Entstehung der modernen Wirtschaftsform förderte. Selbst Autoren, die Weber in Details widersprechen, zweifeln nicht an seiner Gesamtthese.

76. Der Zusammenhang zwischen Protestantismus und Wohlstand fiel nicht erst Weber und Troeltsch auf. Bereits im 18. Jahrhundert antwortete der katholische Autor Johann Adam von Ickstatt auf die Frage „Warum ist der Wohlstand der protestantischen Länder so gar viel größer als der catholischen?“ so: „Ausser den Werktagen haben sie gar wenige Feyertage und also auch wenig Versäumnis. Von besonderen Andachtsübungen wissen sie nichts, sie werden daher von Jugend auf zur Arbeit der Werktage und nicht zum Müßiggang der Feyertage gewöhnt.“

77. Was Adam von Ickstatt beobachtete, ist die besondere Auffassung des „Berufs“ bei Evangelischen. Im Mittelalter nannte man „Beruf“ eine geistliche Tätigkeit. Unter dem Einfluss Luthers wurde es zur Bezeichnung für jegliche Tätigkeit, die in Verantwortung Gott gegenüber geschieht – die bürgerliche Arbeitswelt eingeschlossen.

78. Die Sphären des Profanen und des Heiligen waren nicht mehr getrennt. Man konnte Gott auch dienen, indem man gute Schuhe machte oder als Kaufmann ehrlich handelte.

79. Weitere mit der protestantischen Glaubenspraxis verbundene Tugenden wie Affektkontrolle, Disziplin, Beharrlichkeit, höhere Wertschätzung von Bildung, Individualisierung, größere Wissenschaftsfreiheit förderten ebenfalls die Entstehung des Kapitalismus.

80. Aufgrund der vor allem bei den Reformierten ausgeprägten Prädestinationslehre, wonach jeder Mensch schon vor der Geburt von Gott entweder erwählt oder verworfen sei, konnte man Wohlstand als Zeichen der eigenen Erwähltheit ansehen. Das motivierte zum Gelderwerb über die konkreten Bedürfnisse hinaus.

81. Steve Jobs war zwar der Sohn eines Syrers und er wurde später Buddhist. Aber erzogen wurde er von lutherischen Großeltern, die ihm ein strikt protestantisches Arbeitsethos einpflanzten. Seine minimalistisch schwarze Kleidung kann man als Hommage an asiatisch reduziertes Design betrachten – aber im Grunde ist es der Look eines modernen lutherischen Weltpriesters.

Rassismus und Antirassismus

82. Die Prädestinationstheorie konnte einerseits zur Rechtfertigung von Rassismus dienen. In der Vorstellungswelt der weißen Pfingstler (eine im 19. Jahrhundert entstandene protestantische Unterströmung) des amerikanischen Südens sind die Schwarzen von Gott verworfen. Auch der Ku-Klux-Klan ist nicht nur rassistisch, sondern aggressiv antikatholisch.

83. Andererseits ist die Emanzipation der amerikanischen Schwarzen und ihr Kampf um Bürgerrechte bis in die jüngste Zeit vorrangig von protestantischen Geistlichen betrieben worden. Nicht zufällig trägt der größte aller US-Bürgerrechtler die Vornamen Martin Luther.

Emanzipation

84. Apropos Emanzipation: Protestantische Kirchen waren die ersten in der Neuzeit, in denen Frauen als Priesterinnen zugelassen wurden. Allen voran, die Heilsarmee, in der bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts Frauen den gleichen Status haben wie Männer. Der Typus des weiblichen jungen Heilsarmeeoffiziers („Offiziere“ sind hauptamtliche Geistliche) war noch für die Dramatiker wie George Bernhard Shaw und Bertolt Brecht ein Faszinosum, das sie in den Mittelpunkt großer Dramen stellten.

Individualität

85. Unsere moderne Hochschätzung von Individualität und Subjektivität ist ein Ergebnis der Reformation. Im Protestantismus steht der Einzelne ohne Vermittlungsinstanz Gott und Christus gegenüber. Am großartigsten hat es Thomas Mann in seinen „Buddenbrooks“ formuliert: „Obgleich Thomas Buddenbrook in seinem Leben hie und da mit einer kleinen Neigung zum Katholizismus gespielt hatte, war er doch ganz erfüllt von dem ernsten, tiefen, bis zur Selbstpeinigung strengen und unerbittlichen Verantwortungsgefühl des echten und leidenschaftlichen Protestanten. Nein, dem Höchsten und Letzten gegenüber gab es keinen Beistand von außen, keine Vermittlung. Absolution, Betäubung und Tröstung! Ganz einsam, selbstständig und aus eigener Kraft mußte man in heißer und emsiger Arbeit, ehe es zu spät war, das Rätsel entwirren und sich klare Bereitschaft erringen oder in Verzweiflung dahinfahren …“

86. Die dem Protestantismus eigene Kultur individualisierter religiöser Reflexivität förderte über den Glauben hinaus Tendenzen subjektiver und individueller Weltanschauung in der neuzeitlichen Psyche.

Psychologie

87. Die moderne Neigung, sich selbst und andere psychologisch zu analysieren, hat eine ihrer Wurzeln in der Seelenzergliederung und kritischen Selbstbeobachtung, der sich vor allem die Pietisten, eine protestantische Reformbewegung im 18. Jahrhundert, unterwarfen. Nicht zufällig wurde die erste psychologische Fachzeitschrift, „Das Magazin für Erfahrungsseelenkunde“ ab 1783 von dem pietistisch geprägten Schriftsteller Karl Philipp Moritz herausgegeben.

Politik

88. Die hohen moralischen Ansprüche, die gerade in Deutschland und anderen protestantischen Ländern an die Politik gestellt werden, sind eine Folge evangelischer Theologie. Wenn jeder Gläubiger Priester und jede Tätigkeit gelebter Gottesdienst ist, muss Berufstätigkeit immer ethischen Richtlinien folgen. Das gilt auch für den Beruf des Politikers.

Sozialstaat

89. Der moderne Sozial- oder Wohlfahrtsstaat ist eine ferne Nachwirkung Luther’scher Ideen.

90. Wie der Theologe Hans-Richard Reuter schreibt, fiel schon länger auf, „dass in den Staaten des angelsächsisch-liberalen Typs, in denen sich eine sozialstaatliche Verantwortung nur ansatzweise (USA) oder verspätete (England oder Niederlande) durchgesetzt hat, calvinistische oder freikirchliche Strömungen prägend gewesen sind, während Länder mit früher wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung wie Deutschland und Skandinavien unter dem Einfluss des lutherischen Staatskirchentums standen“.

91. Luther hat der weltlichen Obrigkeit die Aufgabe zugewiesen, die destruktiven Elemente der menschlichen Sündhaftigkeit – Selbstsucht, Neid, Hass und Gewalt – notfalls mit Zwangsmitteln zu zügeln.

92. Hans-Richard Reuter schreibt: „Während in der katholischen Frömmigkeit die Armut geradezu als religiöse Institution galt – der Wohltäter half dem Bedürftigen und dieser betete für das Heil des Spenders – sagte Luther dem Bettel den Kampf an.“

93. Der Reformator propagierte den „gemeinen Kasten“, eine öffentliche Kasse, aus der die lokale Armenfürsorge finanziert werden sollte.

94. Als im 19. Jahrhundert die Grundlagen des deutschen Sozialstaats geschaffen wurden, standen die Protagonisten – allen voran Reichskanzler Otto von Bismarck – in der dem Luthertum entstammenden ideenpolitischen Tradition, die dem Staat eine zentrale Rolle bei der Lösung der sozialen Frage zusprach.

Ja, klar, aber …

95. All das hat Luther nicht geplant, nicht kommen sehen und manches davon hätte ihn sicher entsetzt. Dennoch beginnt es mit der Veröffentlichung der 95 Thesen am 31. Oktober 1517.


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In einer 3D-Animation rekonstruierte die Hallenser Firma MotionWorks auf die Idee des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie hin den Kopf Martin Luthers.
Quelle: S!|graphic nach der Animation vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt – Landesmuseum für Vorgeschichte/MotionWorks GmbH/Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt mbH








Martin Luther – die Freiheit, die er meinte

Von Antje Vollmer | welt.de

Vor 500 Jahren veröffentlichte Luther seine 95 Thesen: Beginn der Reformation, die Europa veränderte. Was fangen wir heute mit einem Menschen an, der mittelalterlich und zugleich so modern war?

Die Protestanten tun sich schwer mit ihm, weil ihnen seine Attacken gegen die „mörderischen Rotten der Bauern“ und seine antisemitischen Ausfälle peinlich sind, die sich leider in nichts von denen seiner Zeitgenossen unterschieden. Die Katholiken kultivieren schon aus Tradition ihr Desinteresse an dem Werk ihres verlorenen Sohnes, obwohl er vermutlich mehr für die innere Reform des Katholizismus und damit dessen Befreiung aus der „babylonischen Gefangenschaft“ getan hat als viele Kirchenväter, Päpste und Kardinäle.

Den Deutschen ist er äußerst fremd geworden, weil er so lange als teutonisches Muster-Mannsbild dienen musste, dass er geradezu zum Inbegriff dessen wurde, wovon sich die Nation endlich befreien will, um in der modernen Welt ihren politisch korrekten Platz zu finden.

Und doch war mit ihm, mit Martin Luther, ein „Weltaugenblick der Rebellion“ (Willi Winkler) verbunden, ohne den die Geschichte der letzten 500 Jahre in Europa ganz anders verlaufen wäre. Das weiß sogar Heinrich Heine: „Die Feinheit des Erasmus und die Milde des Melanchthon hätten uns nimmer so weit gebracht wie manchmal die göttliche Brutalität des Bruder Martin.“ Wenn nichts sonst von ihm bliebe als seine Sprache, er hätte für immer seinen Platz in der Weltliteratur sicher.

Luther hat nicht nur die Bibel ins Deutsche übersetzt und damit einen sinnlichen Ausdruck dafür gefunden, dass für jeden Christenmenschen das Wort Gottes „Fleisch“, tägliche Seelenspeise, werden konnte. Er hat die kreative Methode schlechthin erfunden, dass man ihm beim Schreiben, Sprechen, Denken und Wortbilder finden, staunend zuschauen konnte. Er hat viel riskiert und alles gewagt beim Denken und Reden und Urteilen. Seine Irrtümer nahmen diesem Willen zur absoluten existentiellen Redlichkeit nichts, sie erhöhten nur den Preis für solche Art von Existenz.

Nach dem Reichstag für vogelfrei erklärt

Diese Freiheit lebte nur in seinem Kopf und weil er sie sich nahm. Persönlich war er nie frei. Ihm gehörte keines der modernen Menschenrechte. Er war exkommuniziert und damit von der Ausübung seiner Glaubensfreiheit ausgeschlossen. Er war nach dem Reichstag zu Worms für vogelfrei erklärt, also bis zu seinem Tod seiner Staats-und Bürgerrechte beraubt und der willkürlichen Gewalt von jedermann preisgegeben.

Eigentumsrechte, die man ihm hätte nehmen können, besaß er von vornherein nicht. Seine Bewegungsfreiheit beschränkte sich von da an bis ans Ende seiner Tage auf das Territorium seines Landesfürsten, das sich in wenigen Tagen leicht durchwandern ließ. Als er auf der Wartburg festgehalten wurde, war er als „Junker Jörg“ seiner Identität und seines Namens beraubt und versammeln konnte er sich dort auch nur mit seinen Gespenstern, seinen Tag- und Nachtträumen und mit seinem Teufel, der ihn sein Leben lang verfolgte.

Was fangen wir heute mit so einem Menschen an, der mit seiner einen Hälfte – mit seinen Angstneurosen, Leidenschaften und seiner inbrünstigen, mystischen Sehnsucht nach Gottesnähe, Gerechtigkeit, Erlösung – noch ganz und gar ins Mittelalter gehörte, mit seiner anderen aber moderner, freier, radikaler, individueller lebte als alle unsere heutigen Freiheitsikonen?

Man kann nicht gerade behaupten, dass die Kirche, die er geschaffen hat (hatte er je diese Absicht? Da sind große Zweifel erlaubt) fortan ein Hort der Freiheit und der freien Geister geworden ist. Sie legte sich nach dem Augsburger Religionsfrieden freiwillig und dankbar in den Schatten ihrer jeweiligen Landesfürsten und begann damit ein Bündnis von Thron und Altar, das selbst zunehmend unfreie Züge annahm.

Die Unfähigkeit zum Frieden

Für die Christenheit und den europäischen Kontinent hatte die Euphorie der großen Glaubensfreiheiten schon gegen 1525 geendet, nach kaum sieben köstlichen Jahren. Dann kam das neue Arrangement zwischen den weltlichen und kirchlichen Mächten und die Zeit eines militanten Konfessionalismus, der mehr zur Intoleranz als zu einer neuen europäischen Ordnung führte.

Der große dreißigjährige Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts brachte schließlich eine Verwüstung und allseitige Verrohung, deren Brutalität fast die Hälfte aller Einwohner zum Opfer fiel. Die heutige Eskalation der Machtkämpfe und der großen Glaubenskriege im arabischen Raum haben also ihre Vorbilder.

Das „christliche Abendland“ ist kleinmütig geworden, narzisstisch, rechthaberisch und selbstgenügsam. Die Frage nach Gott und einer möglichen Gerechtigkeit für alle fesselt nur noch wenige. Moral und Ethik haben sich säkularisiert und dienen mehr zur Moralkeule gegen wöchentlich wechselnde Bösewichter und Sündenböcke als zur selbstkritischen Überprüfung der eigenen Haltung zur Welt.

Alarmierend ist die Unfähigkeit zum Frieden – und das sowohl in äußeren wie in inneren, ja sogar in innerkirchlichen Angelegenheiten.

Reformationsjubiläum als letzte Chance

„Ich bin hindurch! Ich bin hindurch!“ jubelte Martin Luther, als er in Worms der Konfrontation mit dem Kaiser standgehalten hatte. Die Kirchen, die diesem Schockerlebnis folgten, sind längst noch nicht „hindurch“.

Wo ist das ökumenische Feuer eines Philip Potter, des ersten farbigen Generalsekretärs des Weltkirchenrates, geblieben? Wo eine heutige Theologie der Befreiung aus alten Fesseln? Das Jahr 2017, 500 Jahre nach dem Beginn der großen Kirchentrennung, ist vermutlich das letzte symbolträchtige Datum zur Überwindung der gewaltgetränkten Spaltungsgeschichte der Christenheit.

Man kann diese Chance nur verpassen, wenn man schon mutlos akzeptiert hat, dass es mit der weltgeschichtlichen Rolle einer Christenheit, in deren Zentrum die Bergpredigt steht, sowieso schon vorbei ist.

Realistisch gesehen werden die Kirchenleitungen aller Schattierungen, die Theologen und Kirchenordnungshüter, alle nicht rechtzeitig „hindurchkommen“ durch ihre Bedenken, Regeln und theologischen Differenzen.

Kirchen stehen in der Pflicht

Das Neue kann nur von den Gemeinden kommen, die endlich selbstbewusst die magische Trennungslinie überschreiten, indem sie die notwendige Gemeinsamkeit einfach leben, sich praktisch gegenseitig akzeptieren und anerkennen in ihren Sakramenten, Traditionen und Ritualen. Neben der Taufe ist die gegenseitige offene Einladung zum gemeinsamen Abendmahl dabei unverzichtbar – und zwar ohne konfessionelle Einschränkungen.

Der jetzige Papst, Franziskus, wartet offenbar längst auf solche Schritte aus den Basisgemeinden, auf die er dann reagieren kann. Wenn von unten nichts kommt, kann auch von oben nichts Gutes kommen. Die Brücke zu einer neuen Praxis des innerkirchlichen Friedens- und Einheitsangebotes ist leicht zu finden.

Sola scriptura - sie steht im Neuen Testament: Jesus feierte sein letztes Abendmahl gemeinsam mit allen seinen Jüngern ( und vermutlich auch Jüngerinnen). Niemand war damals ausgeschlossen, nicht einmal sein Verräter.

Dr. Antje Vollmer ist Theologin und war von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Im September 2016 erschien ihr neues Buch „Ökumene in Zeiten des Terrors“.




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