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Wenn der Krieg im Kopf bleibt
Bielefelder Psychologe entwickelte Traumatherapie für Flüchtlinge
Dietmar Kemper | WB
Der Teppich im Schaufenster ähnelt dem in der Folterkammer – schon ist die Erinnerung wieder da. In der »Tagesschau« wird der Diktator Assad gezeigt – und der syrische Flüchtling vor dem Fernseher in Bielefeld bekommt eine Panikattacke. Flüchtlinge mit einem Trauma kämpfen mit den Erinnerungen.
Ihnen hilft der Psychologe Frank Neuner (46) von der Universität Bielefeld. Mit den Kollegen Maggie Schauer und Thomas Elbert von der Universität Konstanz hat der Professor für klinische Psychologie und Psychiatrie die Narrative Expositionstherapie (NET) entwickelt. Weil auch Laien sie anwenden können, die von der von Neuner mitgegründeten Hilfsorganisation Vivo ausgebildet werden, konnten in den vergangenen 15 Jahren bereits hunderte Kindersoldaten, Kriegsflüchtlinge und Opfer politischer Gewalt ihre traumatischen Erlebnisse bewältigen – in Krisengebieten in Afrika genauso wie in Sri Lanka.
In der Narrativen Expositionstherapie rekonstruieren der Flüchtling und der Therapeut gemeinsam das Erlebte. »Es geht darum, traumatische Erlebnisse erzählbar zu machen«, erklärt Neuner. Auch grauenvollste Details wie der Anblick eines abgeschlagenen Kopfes werden an- und durchgesprochen. »Ich will endlich vergessen«, hört Neuner von seinen Patienten oft, aber er entgegnet ihnen: »Das funktioniert nicht, Sie müssen das Erlebte verarbeiten.« In der Therapie beschränkt sich der Experte aber nicht nur auf den Auslöser des Traumas wie eine Entführung, die Zwangsrekrutierung in eine Rebellenarmee oder die Beobachtung, wie auf dem Mittelmeer ein Schlauchboot kentert und Menschen ertrinken. »Wir betten die Erlebnisse in die Lebensgeschichte des Flüchtlings ein und fangen in der Kindheit an«, sagte Neuner.
Endprodukt der Therapie ist ein kleines Büchlein über das Leben des Menschen, das eben nicht nur aus dem Trauma besteht, das den Flüchtling gefesselt hält. »Er ist in der Vergangenheit verhaftet«, sagt Neuner. »Die Therapie sorgt für die Vergeschichtlichung des Erlebten. Die Erinnerung ist noch da, aber sie fühlt sich anders an.« Dem Patienten werde klar, dass es aktuell keinen Hinweis auf eine Bedrohung gibt. Ohne Behandlung gelinge es Flüchtlingen nicht, Distanz zu dem aufzubauen, was sie durchgemacht haben. Das sei der Unterschied zu gesunden Menschen, die schöne Ereignisse wie eine wunderbare Geburtstagsfeier und negative wie einen Autounfall zeitlich und räumlich einordnen können. Ein Mann erinnert sich später daran, wie er nach dem Autounfall mit seiner Frau darüber gesprochen hat und sie ihn beruhigte. »Der Mensch denkt in Form von Erzählungen«, sagt der Psychologe. Genau das gelinge Flüchtlingen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht. »Bei ihnen fehlt die Einordnung ins autobiografische Gedächtnis.«
Bei Flüchtlingen kehrt das Trauma emotional und bedrohlich in Form von Flashbacks, Bildern und Albträumen wieder. Wenn sie plötzlich hochkommen, fehlt die Distanz. »Ich habe hier und jetzt Todesangst«, gestanden Flüchtlinge Neuner während der Therapie in der Psychotherapeutischen Ambulanz der Universität Bielefeld. »Realistische Schätzungen gehen von bis zu 40 Prozent psychisch erkrankter Flüchtlinge aus«, erläutert der Psychologe und folgert daraus: »Für die Zeit seit 2015 sprechen wir also von mehreren hunderttausend Menschen, die eigentlich psychologische Unterstützung brauchen.«
Betroffene zeigen oft ein Rückzugsverhalten. Zum Beispiel werden Fernsehprogramme aus dem Heimatland gemieden. Andere wiederum versuchen mit aller Kraft, sich abzulenken. Konzentrationsmängel und Übererregung beeinflussen das Verhalten in der Familie negativ. Männer werden zu schlechteren Vätern, weil sie hauptsächlich mit sich selbst kämpfen. Wird ein Trauma nicht behandelt, kommt oft eine Depression hinzu.
Die Narrative Expositionstherapie habe in Feldstudien ihre Wirksamkeit bewiesen, sagt Neuner. Nach Angaben des Bielefelders besserte sich bei 70 Prozent der Patienten der Zustand. Die Therapie besteht aus zwölf bis 14 jeweils 90 Minuten langen Sitzungen. Patienten sind hauptsächlich junge Männer (15 bis 25 Jahre).
Aber nur die wenigsten Flüchtlinge werden in Deutschland eine Therapie machen können, denn es fehlt an Psychosozialen Zentren und an Dolmetschern.
WESTFALEN-BLATT, 6.11.2017
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im schlussatz dieses Artikels ist aber auch das ganze dilemma der trauma-interventions-therapien festgehalten: "aber nur die wenigsten flüchtlinge werden in deutschland eine therapie machen können, denn es fehlt an psychosozialen zentren und an dolmetschern."
im grunde genommen müsste wahrscheinlich jeder von einem trauma betroffene mensch eine solche therapie erhalten und durchlaufen - (stichwort: notfall-seelsorge) ...
in deutschland haben ja beispielsweise auch millionen menschen vor ca. 80 jahren solche traumen im krieg erlebt - und danach noch durch flucht- und gewaltsituationen - und mussten das irgendwie auch ohne den ausdrücklichen titel "narrative expositionstherapie" - quasi in "selbsthilfe" durch erzählungen am stammtisch und im familienkreis - bewältigen ("opa kommt garantiert immer wieder auf den krieg zu sprechen ...").
oder sie konnten das auch nicht verarbeiten - bzw. oft die ungeschriebenen "familien-scham- und tabu-gesetze" schnürten ihnen die narrative verarbeitung ab (... "mal alles von der seele reden"... - "ach, halt die schnauze" - ... "lass es endlich mal gut sein" ... - ... "man muss auch mal etwas so stehenlassen können" ... ) - und man flüchtete sich unbewusst in psychosomatische erkrankungen oder angstattacken - oft genug sogar anteilmäßig weitergegeben durch bewusst oder unbewusst übertragene nuancen von panikverhalten der bezugspersonen auf nachgeborene generationen - unbearbeitet und allenfalls "erahnt" und be-"albträumt" - ja, oft werden "die missetaten der väter heimgesucht bis ins dritte und vierte glied" (link) ...
auch aus der familientherapie und bei der aufarbeitung solcherart "familiengeheimnisse" werden derartige traumaverarbeitungs-strategien wie in der "narrativen expositionstherapie" angewandt - doch die hürde der jeweiligen sprache und der familiären, kulturellen und damit auch innerpsychischen andersartigkeiten zu den derzeitigen flüchtlingen aus den oft arabischen bzw. muslimischen krisenherden ist sehr hoch ... - und da kann man durch falsche "übertragungen" und "setzungen" vielleicht auch viel kaputtmachen und zusätzlich ungewollt traumatisieren - auch wenn es noch so gutgemeint ist ...
man muss sich die eigene angst - verständlich und empathisch begleitet - von der seele reden können - denn "angst fressen seele auf" (filmtitel von r.w. fassbinder). - S!