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„Mir egal, wer hier reanimiert wird“

Von Thomas Schmoll | welt.de

Rettungseinsatz, Kampf um das Leben eines Kindes – und einer, der nur sein zugeparktes Auto sieht. Wer ist der Mann, der Sanitäter attackiert? Eine Spurensuche in Berlin

Leonard (1) kämpft noch immer um sein Leben - Foto: privat/rtl

Montagabend postet Thomas Funke im Internet, um genauer zu sein auf Facebook, ein Foto seines einjährigen Sohnes. Es zeigt den Jungen mit geschlossenen Augen in einem Krankenhausbett, umgeben von lebenserhaltenden, medizinischen Geräten und Schläuchen. Der dickste führt zur Nase des kleinen Patienten. Auf einen Text verzichtet der Vater. Zahlreiche Menschen wünschen „dem kleinen Mann“ und seinen Eltern alles Gute und versehen ihre Mitteilungen mit Herzen, Kleeblättern und Heul-Emojis.

Drei Tage zuvor veröffentlichte Funke, ebenfalls auf Facebook, ein anderes Foto seines Sohnes. Dieses Mal sitzt der Knabe auf einem gelben Kissen am Strand und schaut gut gelaunt in die Kamera. Seine Augen sind weit aufgerissen. Ein süßes Baby wie aus der Reklame. Ein Strahlemann, der das Leben noch vor sich hat.

Dazu schrieb der Vater: „Das ist Leonard, unser Schatz. Ich poste diese Bilder, damit jeder, der einen Retter blockiert oder attackiert, sieht, dass es immer um Menschleben geht. Etwas, was im Gegensatz zu materiellen Dingen nicht ersetzbar ist.“ Funke spricht aus eigener, überaus bitterer Erfahrung. Der Albtraum, den der 40-Jährige und seine Frau gerade erleben, beginnt am Freitagmorgen kurz vor 10 Uhr. Leonard befindet sich in der Obhut seiner Tagesmütter im Kinderladen Wilde 13 in der Melanchthonstraße in Berlin-Moabit, als er plötzlich bewusstlos zusammenbricht. Die Erzieherinnen, die in Erster Hilfe geschult sind, rufen den Notarzt herbei, der bei dem Jungen Herzkammerflimmern feststellt. Es ist eine lebensbedrohliche Situation. Die Rettungssanitäter sind schnell zur Stelle und holen Leonard mittels Herzdruckmassage und Sauerstoff zurück ins Leben. Sie stabilisieren das 18 Monate alte Kind so weit, dass es ins Krankenhaus transportiert werden kann. Dann passiert etwas, das viele Menschen über Tage beschäftigen wird.

Während Notarzt und Rettungskräfte um das Leben des Jungen kämpfen und die Tagesmütter versuchen, die übrigen Kinder zu beruhigen, wütet draußen ein 23-Jähriger, wahrscheinlich ein Anwohner der unmittelbaren Nachbarschaft. Er schimpft, weil der Rettungswagen in zweiter Reihe sein Auto zuparkt.

Nach Augenzeugenberichten schreit der junge Mann den Sanitäter an, der den Notfallkoffer mit Beatmungsmaske für Kinder holen will: „Verpisst euch, ich muss zur Arbeit!“ Zusätzlich tritt er einen Spiegel am Erste-Hilfe-Fahrzeug ab. Dann soll der Satz gefallen sein, der überall in Deutschland für Entsetzen sorgt und die Eltern von Leonard bis heute fassungslos macht: „Mir doch egal, wer hier gerade reanimiert wird.“

Inzwischen ist die Polizei vor Ort. Auch sie kann den wütenden Mann zunächst nicht bremsen. Die 93-jährige Herta Heckel, die neben dem Kinderladen wohnt, erzählt der WELT: „Die Feuerwehr fuhr hin und her. Alles war voll. Dazwischen lief ein Reporter.“ Brigitte Daniele – sie lebt im Haus gegenüber der Wilden 13 – hat die Szene von ihrem Fenster aus beobachtet. „Alles war dicht. Zwei Stunden ging nichts mehr“, sagt sie. Polizisten gingen ihren Angaben zufolge in einzelne Häuser, vielleicht um Zeugen oder den Pöbler zu suchen. Auf Nachfrage, ob der Mann bekannt sei, erklärt die Pressestelle der Polizei: „Wir haben ihn namhaft machen können.“

Eine Frau, die ihren Namen nicht nennen will und den Tumult nach eigener Aussage zufällig erlebt hat, berichtet später: „Der Typ hat krakelt, war böse und aggressiv. Ich habe mich gefragt: Ist der nicht ganz bei Trost?“ Sie beschreibt ihn als „normal gekleidet“. Immerhin: „Als der Rettungswagen mit Blaulicht davonfuhr, war klar: Zum Glück lebt der Patient.“

Das tut er. Leonard befindet sich im Virchow-Klinikum, das zur Humboldt-Uni gehört. Dort entstand die Aufnahme, die sein Vater auf Facebook veröffentlichte. Seine Eltern sind die ganze Zeit an seiner Seite und hoffen auf baldige Besserung seines Zustandes. Bei Kammerflimmern hört das Herz auf, Blut zu pumpen. Betroffene sterben rasch, wenn sie unversorgt bleiben.

Bei Kindern ist es extrem selten, wie jüngere wissenschaftliche Untersuchungen belegen. Herbert Ulmer schrieb in seiner Zeit als Professor an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg 2003 von einer „erschreckend“ hohen Zahl an Herzrhythmusstörungen. „Eins von 100 Kindern“ habe chronische Probleme. Doch eine Herzrhythmusstörung bedeutet längst nicht Kammerflimmern. Noch ist unklar, warum Leonard, der als Folge der Rettungsaktion nach Angaben der Eltern eine Lungenentzündung bekam, das Herzleiden hat und ob er wieder so lachen wird wie früher. Die Funkes rätseln genauso wie die Ärzte.Sein Schicksal bewegt die Menschen überall in Deutschland. Das Verhalten des 23-Jährigen auch. Ein Arzt, der sich zu dem Fall nicht mit Namen äußern möchte, verweist auf den „riesigen Stress, dem jeder Profi bei der Reanimation eines Kindes ausgesetzt ist. Das Verhalten dieses Typen ist gerade in solch einer Hochstresssituation völlig indiskutabel.“

„Wie kann man so was machen? Wie kann man nur an sich selbst denken und so rücksichtlos sein?“, fragen sich die Eltern des Jungen – und mit ihnen viele, die von dem Vorfall gehört oder gelesen haben. Der Vater des kleinen Patienten spricht von „absolut unmenschlichem Verhalten“. Auch Dutzende Menschen äußern sich in sozialen Medien ähnlich oder schärfer. Fast immer im Fokus: der Autofahrer.

Eine Anwohnerin aus der Melanchthonstraße begreift nicht, „woher die Aggressivität in diesem Land kommt, und warum sie sich gegen Menschen richtet, die helfen wollen“. Tatsächlich häufen sich bundesweit die Fälle, bei denen Rettungskräfte und andere Amtspersonen angepöbelt oder gar angegriffen werden. Der Berliner Feuerwehrmann Paul Böhm schrieb auf Facebook zu dem Fall: „Leider Alltag, so extrem zwar nicht. Aber die Leute denken, wir ‚parken‘ da aus Spaß.“ Seiner Darstellung nach werden die Einsatzkräfte gefragt: „Warum suchen sie sich nicht eine Lücke? Oder parken dahinten?“ Seine Antwort: „Weil es manchmal um Sekunden geht und wir keine Zeit dafür haben!“ Herta Heckel, die 1945 aus Schlesien nach Berlin kam und seit gut sieben Jahrzehnten in der Melanchthonstraße wohnt, meint: „Das muss schwer sein für die Eltern. Ich hoffe, dass der Fall aufgeklärt wird.“ Die alte Frau bringt das Gefühl auf den Punkt, das nicht nur sie umtreibt: „Man kriegt immer mehr Angst bei dem, was man so liest.“ Vor ihr liegt eine Ausgabe der Zeitung „BZ“, in der Thomas Funke erklärt, dass er gegen den Autofahrer juristisch vorgehe und hoffe, dass „er mit der vollen Härte des Gesetzes bestraft wird“.

Laut Polizei liegen gegen den Mann diverse Anzeigen vor. Leonards Vater beschuldigt ihn der unterlassenen Hilfeleistung und der fahrlässigen Körperverletzung. Die Einsatzkräfte werfen ihm Sachbeschädigung und Beleidigung vor. Das Ordnungsamt prüft, ob ein Führerscheinentzug möglich ist. Ein relativ neues Gesetz als Konsequenz aus der Häufung von Gafferei und rücksichtlosem Verhalten an Unfallorten sieht für die Behinderung und den Angriff auf Rettungskräfte eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren vor. Juristen diskutieren bereits, was den Mann erwartet. Möglicherweise kommt er mit einer Geldstrafe davon.

© WeltN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

Die Situation vor Ort: Foto: Beurich/BILD



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