S!|art: tagpfauenauge |
Der Wert der Insekten
Bielefelder Tagung zur Biodiversität soll die Krabbeltierlobby stärken
Markus Poch | WB
Obwohl sie wegen ihrer Bestäubungstätigkeit von unschätzbarem Wert für die Ernährung der Welt sind, sieht die Gesellschaft die Insekten überwiegend lieber tot als krabbelnd.
Eine erschütternde Statistik und ausgerechnet ein Unternehmer aus Bielefeld, der Insektenvernichtungsmittel herstellt, könnten die Lobby dieser Tiere nun nachhaltig stärken.
120 Entscheider aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Umweltschutz haben gestern in Bielefeld den »Wert von Insekten« diskutiert. Die Tagungsteilnehmer aus vielen Teilen Deutschlands, darunter Ex-Bundesumweltminister Prof. Klaus Töpfer (79), kennen das Ergebnis einer aktuellen Studie, mit dem Insektenkundler aus Krefeld jüngst an die Öffentlichkeit gegangen waren: Demnach hat die Biomasse der Insekten in Deutschland seit 1989 um fast 76 Prozent abgenommen.
Diese alarmierende Zahl, auch Ursache für immer weniger Vögel, Amphibien und Reptilien, spielt dem Unternehmer Hans-Dietrich Reckhaus in die Karten: Seine Firma produziert zwar seit 1956 Tötungsmittel gegen Fliegen, Motten, Ameisen und viele mehr. Doch vor fünf Jahren begann das Umdenken. Inspiriert von zwei Schweizer Künstlern kam der heute 51-Jährige auf die Idee, Insekten auch zu retten, statt sie nur zu töten. Daraus erwuchs der Plan, die ersten ökoneutralen Biozide der Welt herzustellen. In deren Kaufpreis sollte ein kleiner Betrag zur Schaffung und Unterhaltung von Kompensationsflächen enthalten sein, auf denen Insekten sich in dem Maße vermehren können wie sie durch die Produkte getötet werden. Anfangs verkaufte Reckhaus die neuen Produkte mit dem Logo »Insect Respect« testweise in wenigen Bioläden. Doch seit Frühjahr 2017 vertreibt eine deutsche Drogeriemarktkette die Artikel bundesweit. 2018 werde ein zweites Handelsunternehmen in die Vermarktung einsteigen; neue Ausgleichsflächen stünden vor der Eröffnung, sagt Reckhaus, der sich zunehmend eher als Anbieter ökologischer Dienstleistungen sieht, als als Insektizidfabrikant.
Der Unternehmer ist inzwischen vielfach mit Umwelt- und Innovationspreisen ausgezeichnet worden. Erst im Frühjahr 2017 gab es den Preis »Mein gutes Beispiel« der Bertelsmann-Stiftung. Statt einer Prämie erhielt Reckhaus die Chance, sein Konzept auf der gestrigen Tagung einem Fachpublikum zu präsentieren. »Wir wollen Lust darauf machen, gemeinsam etwas gegen das Insektensterben zu unternehmen«, sagte er. Auf einer solchen Tagung könnten Kooperationen entstehen, die mehr bewirkten, als wenn jeder sich einzeln engagiert. Reckhaus: »Hier sitzen die sonstigen Konkurrenten von Aldi, DM und Rewe im Publikum. Das ist doch großartig.«
Klaus Töpfer sagte unter Beifall: »Die jahrelange Flurbereinigung hat plötzlich negative Konsequenzen. Wir brauchen jetzt Maßnahmen zur Flurbereicherung.« Prof. Christoph Scherber von der Universität Münster empfahl eine »bunt durchmischte Landwirtschaft« statt Monokulturen.
Text: WESTFALEN-BLATT, 10. November 2017