Diese Entwicklung stellt die EU-Agrarpolitik und die konventionelle Landwirtschaft infrage
Von Markus Dobstadt | Publik-Forum
Die Studentin Antonia Leonie Müller-Ruff ist noch immer entsetzt. Die angehende Umweltingenieurin hat mit einem weiteren Studenten der Technischen Hochschule Bingen im Frühjahr in einem 400 Hektar großen Gebiet bei Sprendlingen in Rheinland-Pfalz die Vogelwelt untersucht. Die Ergebnisse waren »unterirdisch«, wie sie sagt. Die Studenten haben in acht Tagen und zwei Nächten lediglich 36 Brutvogelarten gefunden. Schon noch Amsel, Drossel, Star, aber nur eine Dorngrasmücke, einen Sperber und keine Eulen: »Es sind noch Vögel da, aber nicht so viele, wie man denkt«, berichtet sie. Auf eine Anfrage der Bündnisgrünen zum Vogelbestand in Deutschland hatte die Bundesregierung im Sommer geantwortet, dass 13 Vogelarten inzwischen ausgestorben, 29 Arten stark bedroht, 19 stark gefährdet und 27 Arten gefährdet sind. Ein schleichender Schwund. Folgt auf diesen Herbst und Winter ein Frühling ohne Vogelgezwitscher und Bienengesumme?
Darauf will Lars Lachmann, Leiter Ornithologie beim Naturschutzbund (Nabu), der wie Müller-Ruff zu einer Tagung der Evangelischen Akademie nach Loccum gekommen ist, »nicht mit Ja oder Nein« antworten. Aber deutlich macht er: »Gerade die häufigen Vogelarten gehen stark zurück.« Beim Star, Vogel des Jahres 2018, ist der Bestand in Deutschland zwischen 1998 und 2009 um 2,6 Millionen oder 42 Prozent zurückgegangen, auch Buchfink, Feldlerche oder Grünfink sind bedeutend seltener geworden, Rebhühner und Kiebitze, früher Allerweltsvögel, sind vom Aussterben bedroht, und das Braunkehlchen ist stark gefährdet. Lachmann meint: »Es gibt tatsächlich einen Vogelschwund. Nicht unbedingt, was die Zahl der Arten, aber was die Gesamtzahl der Vögel angeht.« Rund 12,7 Millionen und damit 15 Prozent des Gesamtbestandes gingen laut Nabu in nur zwölf Jahren in Deutschland verloren. Andererseits nehmen dank spezieller Programme manche seltenen Arten zu, Schwarzstorch oder Seeadler etwa.
Betroffen vom Rückgang sind vor allem die kleinen Vögel, die Menschen durch ihren Gesang erfreuen und insbesondere in landwirtschaftlich geprägten Gebieten leben. Am gefährdetsten sind die Vögel, die Insekten fressen. Sie finden nicht mehr genügend Nahrung, um ihren Nachwuchs großzuziehen. Denn viele Fliegen, Tagfalter oder Schmetterlinge sind verschwunden.
Insektenforscher vom Entomologischen Verein in Krefeld haben in diesem Jahr nicht nur die Fachwelt aufgeschreckt. Sie fingen zwischen 1989 und 2016 an 63 Standorten in deutschen Naturschutzgebieten Insekten mit sogenannten »Malaise-Fallen«. Diese sehen aus wie Zelte aus Fliegenschutznetzen, die nach oben hin immer enger werden. Die Insekten fliegen hinein und landen in einer Flasche mit einer Alkohollösung, die sie tötet und konserviert. Der Fang wird gewogen und mit der Menge aus früherer Zeit verglichen. Die Forscher fanden 76 Prozent weniger Tiere als 27 Jahre zuvor. Und sie stellten einen Rückgang bei allen Insekten fest, nicht nur bei einigen Arten. Hummeln, Libellen, Schmetterlinge, Falter oder Mücken sind demnach drastisch weniger geworden. »Einen Datensatz dieser Qualität gibt es nirgendwo sonst in der Welt«, sagt Wolfgang Wägele, Direktor des Forschungsmuseums Alexander Koenig in Bonn. Was sind die Gründe für diese Entwicklung? »Wir müssen Ursachenanalyse betreiben«, sagt Wägele, aber die »Wahrscheinlichkeit«, dass es die »Gifte aus der Landwirtschaft« sind, die den Schwund verursachen, meint er, ist »sehr groß«.
Laut Nabu-Experte Lars Lachmann kamen Mitte der 1990er-Jahre Insektenvernichtungsmittel auf den Markt, die neue Wirkstoffe, sogenannte Neonikotinoide, enthielten. Diese Pestizide töten Schädlinge viel effektiver als alles, was zuvor auf dem Markt war. Zugleich nehmen sie jedoch Vögeln damit eine wichtige Nahrungsgrundlage. Ungefähr zur gleichen Zeit nahm der Einsatz von Unkrautvernichtungsmitteln mit dem Wirkstoff Glyphosat »massiv« zu, berichtet Wolfgang Wägele. Weltweit ist es das am häufigsten verkaufte Herbizid und zugleich sehr umstritten.
Bürgerinitiative gegen Glyphosat
Rund 6000 Tonnen des Wirkstoffes Glyphosat werden nach Angaben des Umweltinstituts München jährlich in Deutschland auf Felder, aber auch in Privat- und Kleingärten gespritzt. Es bleibt jedoch nicht in den Böden, es verteilt sich großflächig. Rückstände des Stoffes wurden im Bier, im Urin von Menschen, in der Muttermilch gefunden. Derzeit tobt ein Kampf um das Herbizid in der EU. Denn die Zulassung läuft Mitte Dezember aus. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft das Mittel als »wahrscheinlich krebserregend« ein, europäische Behörden sehen in ihm hingegen kein Risiko, wenn es sachgemäß angewendet wird. Naturschutzverbände sind gegen die weitere Zulassung.
1,3 Millionen Menschen haben eine entsprechende Petition einer Europäischen Bürgerinitiative für ein Glyphosat-Verbot unterschrieben. Die EU-Kommission schlägt eine Verlängerung der Zulassung um fünf Jahre vor, findet dafür bislang unter den EU-Mitgliedern aber keine Mehrheit. »Die Kommission hat bis heute keinerlei Vorkehrungen gegen die katastrophalen Auswirkungen auf die Artenvielfalt vorgesehen«, begründet Noch-Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) ihr Nein zu Glyphosat. Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) will das Mittel jedoch zulassen, Deutschland enthält sich daher bei der Abstimmung.
Für den Agrarkonzern Monsanto, den der deutsche Bayer-Konzern übernehmen will, geht es um viel Geld. Dieser und weitere Glyphosat-Hersteller drohen der EU-Kommission nach Medienberichten mit Schadensersatzklagen in Milliardenhöhe, sollte die Zulassung nicht verlängert werden.
Bei dem Streit geht es aber nicht nur um den umstrittenen Wirkstoff Glyphosat. Dahinter verbirgt sich die Frage: Wie soll Landwirtschaft künftig betrieben werden? Wer bekommt wie viel Geld? Jedes Jahr fließen etwa vierzig Prozent des EU-Haushaltes, rund sechzig Milliarden Euro, in die Agrarförderung. Erste Weichen für die neue EU-Förderperiode von 2021 bis 2027 sollen im kommenden Jahr gestellt werden.
Bislang erhalten die Betriebe Mittel je nach Größe ihrer Fläche. Der Naturschutzbund etwa fordert, sie stattdessen für tatsächliche Naturschutzleistungen zu zahlen. Das würde das bisherige System weitgehend auf den Kopf stellen. Die Bauern fürchten um ihr Einkommen.
Eine andere Agrarpolitik ist nötig
»Die Fronten zwischen Naturschutz und Landwirten sind unglaublich verhärtet«, sagt der Professor für Ornithologie an der TH Bingen, Michael Rademacher. »Man spricht eigentlich nicht miteinander.« Es brauche einen Dritten, um zu vermitteln. Das könnten die Hochschulen sein. Doch dort fehlt es wie auch in den Behörden inzwischen an Fachleuten. Für Genetik und Mikrobiologie sei Geld da, dorthin fließen Drittmittel, »wir Wald- und Wiesenbiologen nehmen im akademischen Olymp den Platz unterm Tisch ein«, sagt Rademacher.
Deutlich wird: Es braucht eine Neuausrichtung der Agrarpolitik, die den Pestizid- und Herbizideinsatz stark eindämmt, ohne den Bauern Einkommen wegzunehmen. Doch wie kann sie gelingen? Sie müsste eine jahrzehntelange Entwicklung umdrehen, bei der kleine Höfe verschwanden und durch landwirtschaftliche Großbetriebe ersetzt wurden. Mit gravierenden Folgen für die Natur. Bis 2007 waren in der EU sieben Prozent der Felder Brachflächen, seither nahmen der Raps- und Maisanbau stark zu, die brachliegenden, ökologisch wertvolleren Flächen fielen weg. Auch das artenreichere Grünland wurde von Mais verdrängt, der oft in Monokultur angebaut wird. Die dicht geschlossenen, hohen Bestände bieten keinen Platz mehr für andere, insektenfreundliche Pflanzen. Der Boden wird überdüngt mit stickstoffreicher Gülle.
Die Entwicklung veränderte auch die ländlichen Gegenden. Der Frankfurter Landwirt Matthias Mehl sagt: »Das ist nicht mehr die Landschaft von vor dreißig, vierzig Jahren.« Der konventionell wirtschaftende Bauer sieht im Wegfall der früheren Lebensräume den eigentlichen Grund für den Artenschwund, nicht in der Chemie. Straßen durchschnitten die Gemarkung, Neubaugebiete seien entstanden. Die Höfe würden heute blank gekehrt, große Hallen hätten die Scheunen ersetzt, in denen früher Schwalben rein- und rausflogen. Die Fenster seien heute wegen der Vogelgrippe geschlossen. Offene Misthaufen, über denen die Fliegen schwirrten, gebe es nicht mehr. Auch unbewirtschaftete Ecken wie Feldraine, Gräben, Hecken oder Vogelgehölze, Rückzugsgebiete und Nahrungslieferanten für zahlreiche Tiere, sind vielerorts verschwunden. All das ging zulasten der Artenvielfalt. Manche Landwirte wie Matthias Mehl versuchen gegenzusteuern. An vier Stellen hat der Frankfurter Landwirt Blühstreifen gesät, um Insekten und Vögeln Nahrung zu bieten. Solche Streifen, eine blühende Untersaat unter dem Getreide oder Pufferflächen zu Gewässern oder Waldrändern sowie Grünland, das nicht chemisch gedüngt und nur selten gemäht wird, das alles seien einfache Maßnahmen, die EU-weit zum Einsatz kommen könnten, um die Biodiversität wieder zu beleben, meint Rainer Oppermann, Leiter des Instituts für Agrarökologie und Biodiversität in Mannheim.
»Unseretwegen können bereits Tausende Arten nicht mehr ihre Botschaft vermitteln. Dazu haben wir kein Recht.
Papst Franziskus, Enzyklika »Laudato Si’«
Es sind Rezepte, die Biobauern kennen. Tim Keller, der im Osten Hessens einen großen Bioland-Hof betreibt, schwärmt vom biologischen Wirtschaften. In seinem Maisfeld summe und brumme es im Sommer. Bei ihm wachsen dort am Boden Wildkräuter. Eigens angelegte Blühstreifen braucht er nicht. Während konventionelle Bauern die Distel auf dem Acker stört, ärgert er sich, »wenn die Distel fehlt, weil sie Schmetterlinge anzieht«. Insekten und Vögel sind für ihn »wichtige Bausteine« in der Natur, denn sie bestäuben, halten Schädlinge in Grenzen, sorgen für Vielfalt. »Wenn wir uns als Mensch herausnehmen, dort einzugreifen, hat das gravierende Folgen«, meint er. Sein Ertrag sei um die Hälfte niedriger als bei konventionellen Bauern. Doch er bekomme vieles, was mit Geld nicht aufzuwiegen sei.
Was wäre, wenn die Insekten komplett verschwinden würden? Das hätte gravierende Folgen auch für die Menschen. Immerhin sind sie wichtige Bestäuber. Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle sagt, die Tiere erbrächten weltweit kostenlose Dienstleistungen im Wert von 153 Milliarden Euro. Müssten Menschen diese Arbeit erledigen, würden Kosten von mehreren Hundert Milliarden Euro entstehen.
Papst Franziskus sagt in der Uwelt-Enzyklika »Laudato Si’«, der Mensch habe »kein Recht« die Natur so zu verändern: »Unseretwegen können bereits Tausende Arten nicht mehr mit ihrer Existenz Gott verherrlichen, noch uns ihre Botschaft vermitteln«. Es ist Zeit zu handeln. Und nicht allein EU, Politik und Landwirte können etwas tun. Verbraucher können insektenfreundliche Saatgutmischungen im Garten aussäen, Bioprodukte kaufen, den ökologischen Fußabdruck verringern. Es ist noch nicht zu spät.
Publik-Forum, Nr. 22 | 2017, S. 12-15