feldhamster - Singdrossel |
eine mittlere Katastrophe“
Peter Berthold ist Ornithologe und Bestsellerautor.
Unser Autor Jürgen Roth hat mit ihm über die Chlorophyll-Krankheit, das langsame Sterben des Feldhamsters und die Idiotie der Monokulturen gesprochen.
Im ersten Stock des Instituts in Radolfzell werden zwei Balistare in einer Voliere gehalten. Von diesen Vögeln leben in freier Wildbahn nur noch etwa hundert Exemplare und Peter Berthold hofft, dass die zwei irgendwann einmal brüten. In seinem Arbeitszimmer nebenan unterhalten wir uns über die – nicht nur hierzulande – katastrophalen ökologischen Verhältnisse und Entwicklungen.
Ich habe mich auf unser Gespräch recht ordentlich vorbereitet, aber während der Herfahrt dachte ich: Vorbereitung schön und gut, doch man muss ja bloß schauen. Man fährt durch Landschaften, die nicht nur ausgeräumt, sondern geradezu gepeinigt, gequält wirken. Erst hinter Stuttgart wurde es ein wenig besser, hatte ich den Eindruck.
Ja. Wir haben viele Landstriche, die inzwischen wie ökologische Wüsten aussehen. Das einzige, was aus der Landschaft an, sagen wir mal: Natürlichkeit noch herausleuchtet, ist die Farbe Grün, weil wir Gott sei Dank noch keinen Chlorophyll-Zerfall oder keine Chlorophyll-Krankheit haben. Es ist gar nicht lange her, dass eine größere Abordnung einer großen Partei hier im Institut war, und die Leute sagten: „Sagen Sie mal, Herr Berthold, es ist doch bei uns alles grün!“ – Ja, grün ist es Gott sei Dank schon noch. Aber das ist nur die Tünche. Wir haben so viele Gebiete, in denen wir zwar noch grüne Wiesen haben, aber wenn Sie in die Struktur der Wiese hineinschauen, sehen Sie, dass das im Grunde nur noch eine Produktionsstätte entweder für Kuhfutter oder für Bioenergie ist. Mit Wiese hat das nichts mehr zu tun. Gott sei Dank ist das Grün noch da. Es würde uns eigentlich noch fehlen, dass wir eine Chlorophyll-Krankheit bekommen – was man nicht ausschließen kann.
Inwiefern könnte das passieren?
Zum Beispiel durch einen Gendefekt. Es könnte auch durch genetische Manipulationen von Pflanzen passieren. Dann könnte die Produktion von Chlorophyll zerstört werden. Über Transgene könnte diese Krankheit in andere Pflanzen hineingeraten. Man stelle sich beispielsweise mal vor, der Mais bei uns wäre nicht mehr homogen grün, sondern würde langsam panaschiert – bekäme also weiße Flecken –, und das Weiß nähme zu, zehn Prozent, zwanzig Prozent, dreißig Prozent, achtzig Prozent. Sie können sich vorstellen, was dann los wäre. Denn nur die grüne Blattmasse ist in der Lage, zu assimilieren und etwas Vernünftiges für uns zu produzieren. Das wäre schon ein heftiger Schlag ins Kontor. (Lacht.)
Warum lachen Sie da?
Wissen Sie, das, was bei uns im Lande zur Zeit, ja seit etlichen Jahrzehnten passiert, kann man ja nur mit viel Humor ertragen. Nähme man das alles ganz tierisch ernst, müsste man sich jeden Morgen vor dem Frühstück die Kugel geben.
Ich wollte Sie das tatsächlich fragen – und ich möchte Ihnen weiß Gott nicht zu nahe treten –: warum Sie offenbar nicht depressiv werden.
Das ist vielleicht eine glückliche Veranlagung. Und ich muss auch sagen, dass ich meine Lebens- und Überlebensangst im Hinblick auf das Leben auf der Erde, diese Befürchtungen, die ich früher hatte, abgestreift habe. Es gab eine schlimme Zeit, in der Politiker und auch der Papst sagten, dass der Mensch jetzt leider Gottes so mächtig geworden und so fehlgeleitet ist, dass er in der Lage ist, durch sein Atomwaffenarsenal das Leben auf der Erde zumindest theoretisch auszurotten. Ich habe mir das damals vorgestellt: dass so was möglich wäre. Wir waren ja mal nahe dran: Schweinebucht, Kubakrise, Säbelrasseln und so weiter. Damals war die gängige Meinung, dass, sollten all die Atomsprengköpfe gezündet werden, außer verbrannter Erde nichts übrigbliebe. Das hat sich inzwischen Gott sei Dank als absolute Spinnerei erwiesen.
Wirklich? Erklären Sie’s mir bitte.
Tschernobyl zum Beispiel. Das war natürlich ein Hammerschlag. Ich war damals gerade an der ungarischen Grenze, auf einem Kongress. Zum Glück war die Frau des Biologen, bei dem ich wohnte, Physikerin. Die hat sofort einen Geigerzähler besorgt und gemessen, und sie hat gesagt: „Oh, wir haben ein Riesenglück! Das zieht alles obendrüber. Wenn du nach Hause kommst, wird es bei dir allerdings schaurig aussehen.“ So war es auch. Hier, in Oberschwaben und so weiter, war der ganze Fallout runtergekommen, dort war gar nichts passiert. Forscher vom Centre national de la recherche scientifique in Paris haben sofort nach der Katastrophe damit begonnen, in Tschernobyl biologische Untersuchungen durchzuführen. Denn die haben gesagt: Das ist eine einmalige Chance. Das war natürlich schon ein mutiger Einsatz, in diesem verstrahlten Gebiet zu forschen. Aber auf Grund dieser Forschungen wissen wir seit einiger Zeit, dass dort eine der vitalsten Mäusepopulationen lebt, die man sich nur vorstellen kann.
Und wie ist die zustande gekommen?
Natürlich hat es auch die Mäuse erwischt, so, wie es im inneren Bereich die Ortsansässigen erwischt hat – bis auf einige ältere Omas, die bis heute dort leben und sagen: „Nee, ich geh’ nicht weg.“ Die sind zum Teil gut beieinander und essen jeden Tag ihr verstrahltes Gemüse. Ab einem bestimmten Alter, wenn man Glück hat, passiert da ja nicht allzuviel. Und Gendefekte kann man vernachlässigen, die alten Leute pflanzen sich eh nicht mehr fort. Die Mäuse haben vielleicht mehr gelitten als einige der Einwohner. Aber es sind einzelne Mäuse übriggeblieben. Und von den Rändern her sind natürlich neue Mäuse eingewandert. Die wussten ja nicht, was da drinnen los ist. Von denen hat es ebenfalls wieder viele erwischt, aber andere eben nicht. Daraus ist im Laufe der Zeit eine Mäusepopulation entstanden, die, erstens, gegen die Strahlung weitgehend unempfindlich ist und, zweitens, die höchstmögliche genetische Diversität aufweist. Weil jede Maus, die da reinkommt, kommt aus einer anderen Population und bringt Gene mit, die hier gar nicht oder kaum vertreten waren. So kommt eine wilde Mixtur von Genen zustande, die es da vorher nicht gegeben hat. Das ist eine unglaublich interessante Geschichte! Und den Mäusen geht es gut, die pflanzen sich fort, inzwischen auch Wildschweine und Hirsche und so weiter. Also, wenn wir sämtliche Atomwaffen, die wir haben, gleichzeitig zünden würden – vielleicht passiert’s ja demnächst, kann heute Nachmittag noch passieren, weiß man ja nicht –, dann würde das beispielsweise die Algen und Bakterien und Seegurken im Atacamagraben vor Chile überhaupt nicht interessieren. Bis dort, in achttausend Meter Tiefe, mal irgendwas hinkäme, wäre hier oben inzwischen das meiste abgebaut. Und außerdem hätten wir den Mäuseeffekt. Das heißt, für die Evolution würde sich eine unglaubliche, interessante neue Basis ergeben. Das einzige wäre: Wir wären da sicherlich nicht dabei.
Was vielleicht kein Schaden wäre.
Das wäre für das Gesamtgebilde Leben auf der Erde sehr wahrscheinlich kein Schaden. Denn im Augenblick muss man schon sagen … Ich habe nicht gezögert, in meinem neuen Buch vom „Homo horribilis“ und vom „Homo suicidalis“ zu sprechen, obwohl „suicidalis“ noch relativ bescheiden ist, denn das wäre ein Mensch, der einsieht, dass er eigentlich weg sollte, um keinen weiteren Schaden anzurichten, der nähme sich vornehm zurück. Wenn das viele machen würden, würden wir sozusagen für den Rest der Evolution unter Aspekten der Biodiversität rosigen Zeiten entgegengehen, um es mal ganz sarkastisch zu formulieren.
Sie zitieren auch Elizabeth Kolbert aus deren Buch 'Das sechste Sterben': Der Mensch sei „der Affe mit dem Wahnsinnsgen“. Wir beobachten ein Artensterben im Zeitraffer, unendlich viel schneller als in der Kreidezeit geht das vonstatten.
Ja. Das ist eine galoppierende Schwindsucht. Das, was wir im Augenblick erleben, ist beispiellos. Deshalb fängt jetzt auch ein großer Teil der Bevölkerung an, mindestens unruhig zu werden. Die Menschen spüren, dass etwas im Gange ist, allein durch die Häufung entsprechender Meldungen. Eigentlich hört man tagtäglich vom Artensterben, vom Bienensterben, von fehlenden Bestäubern, der Obstbau ist infrage gestellt und so weiter. Bisher waren die Hiobsbotschaften eher mit Themen wie Altersarmut und Gesundheitswesen verknüpft, aber jetzt erfahren die Leute, dass der ganze Garten Eden zu bröckeln beginnt. „Hach, solange es so schön grün ist, ist alles Ordnung“ – das verfängt nicht mehr.
Eine Fichtenmonokultur ist auch schön grün.
Natürlich. In der sehen viele Menschen auch gar nichts Schlimmes. Viele würden sagen: „Ha! Da hat’s schöne Christbäum‘ drin! Und da isch Holz drin für die Fensterrahme‘ von meine‘ Enkel. Und auch a gute‘ Verdienscht! Des is‘ im Augenblick die beste Geldanlage. So ‚ne Fichtenschonung is‘ viel besser, als Geld auf die Sparkasse bringe‘.“ Man muss schon ziemlich viel Waldökologie betreiben, um jemandem klarzumachen, dass eine Fichtenmonokultur auch eine mittlere Katastrophe ist.
Kiebitz |
Ich wollte mit Ihnen am Anfang eigentlich über den Kiebitz reden.
Ah ja!
Der Kiebitz ist aus meiner Sicht einer der anrührendsten und fürsorglichsten Vögel der Flur, also unter den sogenannten Offenlandbewohnern. Anfang der achtziger Jahre hat man im Sommer auf dem Land überall Kiebitze gesehen.
Überall!
Ich habe seit fünfzehn Jahren keinen mehr gesehen. Können Sie anhand des Kiebitzes erklären, was gerade geschieht?
Sicher. Der Kiebitz war zum Beispiel hier in der Bodenseeregion ein Alltagsvogel. Um den hat man sich nicht groß geschert, denn der hat fast überall gebrütet. Wenn ich ins Auto gestiegen bin, standen im Frühjahr die Kiebitze in den Pfützen auf den Äckern, das waren die Durchzügler. Kaum waren die weg, hat man diese Papierfetzen gesehen, das waren die balzenden Brutvögel – ein Vogel, der wie selbstverständlich zur Landschaft gehörte. Natürlich hat man schon damals alte Leute getroffen, die gesagt haben: „Früher hat’s viel mehr gebe‘!“ Das wusste man. Das war das Goldene Zeitalter, in dem alles, in Anführungszeichen, noch in Ordnung gewesen war. Doch uns – auch mir – haben die Kiebitze gereicht, die wir hatten – während jetzt ein Frühjahr verstreicht, ohne dass ich, wenn ich nicht gerade mit dem Zug nach Nord- oder Ostdeutschland fahre, einen einzigen Kiebitz sehe oder höre. Ich nehme den Kiebitz nicht mehr wahr – außer, dass er fehlt. Das ist einer dieser großen Schreckensmomente, in denen sich die riesigen Verluste zeigen.
Natürlich wissen wir, warum die Kiebitze weg sind. Wir haben ja erlebt, wie das passiert ist. Hier zum Beispiel, in der Nähe des Instituts, haben wir eines der großen alten Naturschutzgebiete, schon 1938 eingerichtet, der größte Teil der Gemeinde Möggingen ist ja Naturschutzgebiet. Da hinten im Ried haben immer Kiebitze gebrütet. Vor ungefähr zwanzig Jahren, ich könnte nachgucken, wann genau, haben sie aufgehört zu brüten. In diesem Gebiet ist früher im Winter mal ein einzelner Bauer zu Fuß unterwegs gewesen, mit einer Handsäge über der Schulter und einer Axt, und der hat an einer Hecke ein bisschen Brennholz geschnitten und geschlagen, das er später mit dem Pferdefuhrwerk heimgeholt hat. Das war alles. Wenn Sie heute im Januar, Februar, März an einem schönen Sonntag rausgehen, sind in demselben Gebiet, in dem früher dieser einzelne Mensch gelaufen ist, unter Umständen zweihundertfünfzig Leute unterwegs und mindestens fünfzig Hunde in allen Größen und Schattierungen, die sich fast alle unangeleint im Naturschutzgebiet herumtreiben. Wenn da ein einziger Kiebitz noch irgendwo sitzt, der sich vielleicht überlegt, ob er hier brüten könnte, dann steigt der auf, macht seinen „Whääähh! Whääähh!“-Warnruf, fliegt weiß Gott wie weit, hat fast keine Möglichkeit, irgendwo zu landen, weil überall Leute unterwegs sind, und verlässt das Gebiet. Der wird nie und nimmer in diesem Gebiet anfangen zu brüten. Denn freilaufende Hunde, das heißt für ihn: Das ist Wolfsgebiet, das regelmäßig bestrichen wird, und wenn er dort ein Gelege hat, wird das von den Viechern gefunden und aufgefressen. Das ist für ihn völlig indiskutabel. Das Nächste ist: Er findet kein Futter. Alles, was an größeren Insekten und Larven notwendig wäre, um einen Kiebitz zu ernähren, gibt es ja nicht mehr. Die Flur ist im Grunde genommen eine nahrungsarme Wüste geworden, in der keinerlei Futter mehr vorhanden ist. Beides zusammen ist für den Kiebitz dermaßen lebensfeindlich, dass er überall flächendeckend verschwunden ist.
Sie sprechen in Ihrem Buch von der „Verunruhigung der Landschaft“, von dieser pestilenzialischen Freizeitgesellschaft. Die Menschen haben keinerlei Gespür mehr dafür, dass es Ruheräume geben muss. In Naturschutzgebieten kann man ja im Grunde alles machen. Und dazu kommt, dass massiver Holzeinschlag erlaubt ist, intensive Landwirtschaft …
Ganz genau. Vieles von dem, was ich im Buch beschreibe, geht auf Beobachtungen in diesem Gebiet hier zurück. Ich habe extra Zählungen machen lassen, wie viele Leute und Hunde hier herumlaufen. Die Zahlen, die ich genannt habe, sind der Normalfall.
Wenn Sie das Wort „Hunde“ in den Mund nehmen, muss ich natürlich auch das Wort „Katzen“ in den Mund nehmen. Ich habe bei Ihnen gelesen, und ich war sehr beeindruckt, dass hierzulande nach – wohlgemerkt vorsichtigen – Schätzungen jedes Jahr dreißig Millionen Vögel von freilaufenden Hauskatzen gemeuchelt werden. Das entspricht der Zahl der Vögel, die pro Jahr im gesamten Mittelmeerraum zuzüglich Ägypten gefangen und verspeist werden. Das ist ein Riesentabu. Früher wurden Katzen nur auf Bauernhöfen gehalten, damit sie die Mäuse und Ratten fressen.
Natürlich. Bis in die fünfziger Jahre war die Katze überlebensnotwendig. Auf den Kleinbauernhöfen hielt man rund um die verschiedenen Tennen für den Hafer, die Gerste, den Weizen fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn Katzen, die die Mäuse kleinhielten. Die hätten nämlich die Hälfte der Ernte vernichtet. Die Katzen waren ständig beschäftigt – und zwar ausschließlich auf dem Hof! Die mussten nicht rausgehen, um Rotkehlchen zu jagen. Für die war es viel einfacher, die Massen von Mäusen zu fangen. Und jetzt hockt die Katze in einem Einfamilienhaus, das so steril ist, dass in hundert Jahren keine Maus reinkommt, und wenn je eine reinkäme, müssten fünf Handwerker anrücken und das letzte Loch suchen, bevor die Leute das Haus überhaupt wieder betreten würden. Eine Maus im Haus ist für manche Leute schlimmer als ein geordneter Einbruch. „Die Maus! Um Gottes willen, wo ist die denn reingekommen?!“
Hier im Institut halten Sie ein Paar Balistare. Der Balistar ist eine der am stärksten gefährdeten Vogelarten der Welt. Sie haben Ihre Dissertation über den Star geschrieben. Der Star ist ein Allerweltsvogel, der in den vergangenen zwanzig Jahren unter Bestandsrückgängen außerordentlich gelitten hat.
Insgesamt ist der Star seit 1800 um etwa siebzig Prozent zurückgegangen, im gesamten Verbreitungsgebiet von Mittelfinnland bis Norditalien. Beim Star fällt’s besonders auf, weil wir früher gerade hier am Bodensee massenhafte Ansammlungen hatten: drei große Schlafplätze mit jeweils bis zu über einer Million Vögeln. Da hielten abends die Autos, und die Leute stiegen aus und haben angesichts dieser gewaltigen Starenwolken nur noch Bauklötze gestaunt. Vögel, Vögel, Vögel, wie bei Hitchcock. Und heute fliegen da noch ein paar hundert Vögel in kleinen Pulks, die niemand mehr wahrnimmt. Nicht umsonst ist der Star Vogel des Jahres 2018 geworden. Wenn ein Vogel Vogel des Jahres wird, steht es nicht gut um ihn.
Rebhuhn |
Das Rebhuhn.
Oje.
Das Rebhuhn ist im Grunde der Grubenvogel der Kulturlandschaft. An keinem anderen Vogel kann man deutlicher zeigen, wie die agrarischen Räume runtergewirtschaftet, planiert und von den letzten Resten an Kleinhabitaten befreit worden sind. Das Rebhuhn ist praktisch vom Aussterben bedroht.
Das wird demnächst aussterben, keine Frage. Die paar Restbestände, die wir haben, sind nicht zu halten. Gerade dieses Projekt bei Göttingen, das ich in meinem Buch lobend erwähne und ein bisschen als Hoffnungsträger herausstelle, das klingt auf dem Papier alles ganz gut, aber wenn Sie es vor Ort ansehen, muss man sagen: Pfffffft. Demnächst vorbei. Nichts zu machen. Diese paar kleinen Eckle und Streifle. Die haben da oben hervorragende Böden, von der Kategorie der Magdeburger Börde, das sind mit die besten Böden in Deutschland, und es werden auf jedem Quadratmeter Zuckerrüben und Weizen und anderes angebaut. Da ist kaum ein Landwirt bereit, regelmäßig Streifen, Brachen übrigzulassen. Der sieht sofort, wie viele Euro im Geldbeutel fehlen. Und die meisten sagen sich auch: Damit werden wir das Rebhuhn eh nicht retten. Womit sie recht haben. Es gibt eine zweite Art bei uns, der es ähnlich miserabel geht, die aber nicht so stark in den Gemütern verankert ist: Das ist der Feldhamster. Der Feldhamster kam früher überall vor.
In Nordrhein-Westfalen ist er ausgestorben.
Wir haben noch einige ganz winzige Restpopulationen. Eine ist in der Gegend von Heidelberg, wo man versucht, die Feldhamster auf einigen geschützten Äckern durch Umsetzen und andere Stützmaßnahmen zu erhalten. Der Feldhamster wird wahrscheinlich auch nicht zu retten sein. Das Rebhuhn war natürlich immer ein Sympathieträger, ein nettes Vögelchen, schmeckt gut und war hübsch anzusehen, während beim Feldhamster viele gesagt haben: „Ha! Um den isch eigentlich net schad‘.“
Braucht’s den? Braucht’s den Feldhamster?
„Der hat uns g’nug wegg’fresse‘.“ Dem trauert eigentlich niemand nach. Dem Rebhuhn schon. Also, wenn ich jetzt ein Rebhuhn sehen wollte, bis zum Jahresende, müsste ich die nächsten Tage mit verschiedenen Leuten telefonieren und mir einen detaillierten Plan machen, wo ich dann hinfahren würde, um dort hoffentlich tatsächlich ein Rebhuhn zu sehen. Man hätte sich niemals vorstellen können, dass es mal soweit kommt.
Ich habe mir die aktuelle Rote Liste der Brutvögel ausgedruckt. Die wird von der Bundesregierung und nicht von einer Naturschutzorganisation veröffentlicht, wobei Sie schreiben, dass die Roten Listen wie die Arbeitslosenstatistiken mittlerweile von amtlicher Seite geschönt werden.
Das ist so. Das ist seit geraumer Zeit ein Riesenproblem, weil da immer das Bundesamt für Naturschutz (BfN) mit drinhängt, also das Merkel-Amt. Früher war das eine selbständige Einrichtung, die Bundesforschungsanstalt für Naturschutz und Landschaftsökologie, ein großes Gebilde, besetzt mit hochkarätigen Leuten. Das wurde in der Merkel-Ära, als sie Bundesumweltministerin war, runtergestuft auf das heutige BfN. Das ist für die Roten Listen zuständig. Ich war lange in diesem Rote-Listen-Gremium. Wenn wir gesagt haben: „Diese Art muss in die Rote Liste rein, der geht es schlecht“, dann hieß es ständig: „Ja, aber die Datenlage gibt das eigentlich noch nicht her. Wir würden vorschlagen, wir lassen sie diesmal noch draußen. Und die in Nordrhein-Westfalen haben noch gar keine Mitteilung gemacht, dass es Rückgänge gibt.“ Es wurde immer versucht, die Zahlen an der Obergrenze des Möglichen zu halten. Die Wirklichkeit ist wesentlich schlechter als das, was die Roten Listen wiedergeben. Die werden aus politischen Gründen frisiert.
Wenn man in den Vögeln Bioindikatoren sieht, zu Recht – bahnt sich da ein Ökozid an?
Wenn die nächsten zwanzig Jahre nicht ganz gewaltig gegengesteuert wird, wird ein Biozid, ein Ökozid eingetreten sein. Dann werden wir das allermeiste verloren haben, und das wird irreversibel sein. Ich versuche ja zusammen mit der Heinz-Sielmann-Stiftung gegenzusteuern, mit dem Biotopverbund Bodensee. Wir haben ganz gute Fortschritte gemacht, fast hundert Biotope haben wir angelegt, und wir kriegen dort viele interessante Arten rein, Teichrohrsänger und Sumpfrohrsänger und Teichhuhn und Wasserralle, die alle noch einigermaßen gut vertreten sind. Aber es ist schon jetzt so, dass wir in ein solches Biotop beispielsweise keinen einzigen Kiebitz mehr reinkriegen, weil die Population in ganz Baden-Württemberg inzwischen so ausgedünnt ist, dass nirgendwo mehr Restpopulationen sind, die sagen könnten: „Mensch, das ist ein Klas sehabitat! Da gehen wir hin.“ Gibt’s nicht mehr. Das gilt für den Kiebitz, das gilt unterdessen für das Braunkehlchen – keine Chance, irgendwoher ein Braunkehlchen zu bekommen und davon zu überzeugen, dass da ein schönes Habitat ist, in das es reingehen könnte. Das gilt für die Bekassine – keine Chance. Das gilt für den Großen Brachvogel – überhaupt kein Gedanke daran! Man kann froh sein, wenn man in so einem neueingerichteten Gebiet irgendwann mal sagen kann: Es sind ein paar Rastvögel für zwei, drei Tage da. Das ist schon eine Seltenheit. Und diese Arten, die wir auch mit Renaturierungsmaßnahmen nicht mehr zurückholen können, nehmen laufend zu. Wenn wir so weitermachen, werden wir in zehn oder zwanzig Jahren sagen: Wir können so viele Schutzgebiete einrichten, wie wir wollen, dort werden wir nur noch ganz wenige Arten ansiedeln können, weil der Rest derart dezimiert ist, dass er verschwindet oder bereits verschwunden ist.
Jüngst sind die einschlägigen Studien abermals publik geworden: Insektensterben – ein Rückgang der Biomasse in den vergangenen dreißig Jahren um achtzig Prozent; exponentieller Anstieg des Vogelschwunds seit den sechziger Jahren.
Richtig. Von 1800 bis Ende der Fünfziger schleichend, um zirka fünfzehn Prozent, von da an sturzbachartig.
Eine amerikanische Studie hat ermittelt, dass die Seevogelbestände in den vergangenen sechzig Jahren um siebzig Prozent eingebrochen sind. Und es geht nicht nur um die Vogel- und Insektenbestände, sondern um Amphibien, Reptilien, Fische und sämtliche Wirbeltiere, von Algen et cetera gar nicht zu reden. Es ist ein flächendeckendes, rasendes Artensterben im Gange, das mit Sonntagsreden, ein paar Verordnungen und Kongressen politisch verwaltet wird. Zugleich wird allerorten permanent die Wachstumsideologie blindwütig weiterpropagiert. Wachstum ist ein Mordauftrag.
Das ist es letztlich. Aber (lacht) nicht nur in Bezug auf die Gesamtheit der wildlebenden Pflanzen und Tiere, sondern auch auf uns. Zweifellos. Früher war es so: Mein Nachbar hatte Bienen, mein Vater hatte Bienen, überall waren Bienen. Wenn so einen Baum am Nachmittag nach einer Frostnacht die Sonne zwei Stunden lang beschienen hat, war in null Komma nix der ganze Baum mit Bienen bereichert, und die haben alle Blüten bestäubt, die gerade offen waren. Wenn heute die Sonne scheint, eine Stunde, zwei Stunden, und Sie stehen unter dem Baum und gucken, dann kann es sein, dass Sie plötzlich feststellen: „Jessas Gott! Der Herrgott hat eine Biene geschickt!“ Und die ist jetzt grad da oben drin und geht da rüber und da hinten durch.
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Äpfel!
Und dann kommen Wolken. Sonne geht weg. Biene fliegt zurück zu ihrem Stock. Und da oben sind fünf oder sieben Blüten bestäubt, von denen nachher zwei abfallen, und Sie haben keinen Ertrag mehr. Und genau das ist dieses Jahr passiert. Die Schäden, die wir hier heuer hatten, sind dem Spätfrost nur zu einem ganz geringen Teil anzulasten. Die Hauptgründe sind, ad eins, die Idiotie dieser Monokulturen und, ad zwei, der inzwischen gravierende Insektenmangel. Wenn wir mit diesen Monokulturen so weitermachen wie jetzt, werden die Bäume im Zuge der Klimaerwärmung sukzessive früher blühen, und die Chance, dass da Spätfröste reinfahren, wird jedes Jahr einen Zacken größer. Das haben mittlerweile sogar die hiesigen Obstbauern kapiert. Und wenn noch weniger Insekten vorbeikommen als bisher, ist irgendwann Schluss. Manche Bauern haben bereits gesagt, noch ein solches Jahr, dann hören sie auf. Es gibt Obstbauern, die haben ihr Gut mit 500.000 Euro Schulden belastet. Einen hundertprozentigen Ernteausfall wie dieses Jahr können die einmal wegstecken, aber kein zweites Jahr. Dann werden alle Bäume rausgerissen, dann machen die was anderes. Und jetzt kommt das Nächste: Weil es selbstverständlich immer zu einem Befall mit Schädlingen kommen kann, der auf den Äpfeln Flecken oder sonstwas zur Folge hat, werden unsere Obstbaukulturen am Bodensee in der Regel im Mittel mindestens fünfundzwanzig Mal pro Jahr gespritzt. Fünfundzwanzig Spritzungen, vom Januar bis zum Juli, August. Fünfundzwanzig Spritzungen. Bei diesen Spritzungen werden alle Insekten – Schwebfliegen, Hummeln und dergleichen mehr – umgebracht, so dass in diese Obstanlagen auch keine Meisen mehr reingehen. Früher haben die Bauern noch Nistkästen reingehängt. Heute machen sie’s nicht mehr. Da kommt nie ein Vogel. Was soll der Kram? Der hat ja nichts zu fressen. Sie haben also keinen einzigen Vogel mehr zur Schädlingsbekämpfung, Sie bringen nach den Bienen auch noch die letzten bestäubenden Arten um, und dadurch wird diese Obstanlage immer unproduktiver. Wir haben zwei Ecken in der Welt, in denen das Ende der Fahnenstange bereits erreicht ist: China und Kalifornien. Da sitzen jetzt die Leute in den Bäumen und bestäuben die Blüten von Hand, mit einem Pinsel. Für den Bodensee droht deshalb das Schreckgespenst, dass in zehn bis zwanzig Jahren der Obstanbau beendet ist. Schluss. Aus. Fertig. Mit der Art von ökologischer Misswirtschaft, die wir hier betreiben. Und dasselbe gilt natürlich für alles andere. Das gilt für die Böden, auf denen wir Mais anbauen.
Erosion pro Hektar im Jahr: zehn Tonnen.
Genau. Wir haben heute auf Maisfeldern zehn, zwanzig Tonnen Abtrag pro Jahr! Und hier haben wir inzwischen siebzig Prozent Mais. Das sind alles Böden, die demnächst der Versteppung und der Winderosion anheimfallen. Wenn wir da nicht Humus aufbringen, nützt der Kunstdünger gar nichts mehr. Und dann sind die Weißpflanzen halt nur noch zwanzig Zentimeter hoch. Die kann man vergessen. Damit kann man keine Biogasanlage mehr betreiben. Und so weiter und so fort.
Es laufen Agrartechnologen herum – Sie beschreiben das in Ihrem Buch –, die sagen, wir brauchen total entleerte Vier-fünf-Komponenten-Zuchtlandschaften. Der Boden wäre ein Substrat, eine Art Nährlösung, der Rest wäre scheißegal. Es gibt Schwein, Rind, Huhn, Mais …
Das hat man unter Mao in China versucht.
Das ist interessant. Denn unter Mao sind ja die Sperlinge planmäßig ausgerottet worden. Ich hatte mir notiert: Was Mao schaffte, sind wir im Begriff zu schaffen.
Da sind wir dabei. Wir sind dicht dran.
Das ist doch ein Wahnsinn. Das ist doch auch ökonomischer Wahnsinn.
Absolut. Gar keine Frage.
Wie reagiert die Politik?
Von der Bundesregierung kommt wenig bis nichts. Was glauben Sie, was die Frau Hendricks machen könnte? Nichts. Das einzige, was sie machen kann, sind solche Geschichten wie diese an der Macht der Agrarlobby sofort krachend gescheiterte Plakataktion. „Steht das Schwein auf einem Bein, ist der Schweinestall zu klein.“ Sie hatte ja vor, für zwei Millionen Euro solche Plakate zu drucken, um die Landwirtschaft aufzuschrecken und die Bevölkerung zu sensibilisieren. Was soll die arme Sau sonst machen? Erstens ist sie von der SPD, die sowieso nichts zu sagen hat, und, zweitens, wenn sie was macht, sagen die Länder: „Halt amal! Naturschutz ist Ländersache! Da lassen wir uns vom Bund nicht reinreden.“ Und wenn sie in Berlin um Geld nachfragt, sagt der Schäuble: „Mir habe’ nix! Mir brauche’ die schwarze Null.“ Die hängt in allen Seilen drin. Die wird froh sein, wenn sie den Job los ist. Das ist eine der undankbarsten Aufgaben, die es gibt. Jetzt hätte die Bundesregierung die Möglichkeit, über diese Misere des Artensterbens, des Rückgangs an Biodiversität, des Zerfalls unserer Böden, der Verseuchung des Grundwassers – das alles ist so weit fortgeschritten – eine breite Diskussion zu beginnen. Das würde ein so gewaltiger Dialog, ja Polylog! Da träten immer mehr Probleme zutage. Und zum Schluss würde natürlich die große Frage auftauchen: Was kann man dagegen machen, und was kostet das? Und da kämen Beträge raus, die würden in die Hunderte von Milliarden gehen. Und die Bevölkerung wäre so was von aufgeschreckt und alarmiert und auf der anderen Seite wütend und frustriert, weil natürlich, wollte man da wirklich drangehen, einschneidende Maßnahmen unvermeidbar wären. Das einzige, was wirklich was bringen würde, ist: Wir brauchen mittlere Katastrophen. Mittlere Katastrophen. Eine ganz große Katastrophe würde natürlich auch alles erledigen, aber die wäre für uns das Unangenehmste. Wir brauchen mittlere Katastrophen. Nehmen wir zum Beispiel noch mal Tschernobyl. Da ging ja doch ein heftiger Ruck durchs Land, da ist doch manchem siedend heiß unterm Arsch geworden. Damals wusste zum Beispiel fast jeder, was ein Becquerel ist. Fragen Sie mal heute, was ein Becquerel ist. Da würden manche sagen: „Ou, ich glaub’, das ist irgendeine Hefe zum Zopfbacken.“
Das ist eine Margarine.
Becel, Bececerel, genau. Längst weg. Alles den Bach runter. Heute macht man höchstens Witze im Gasthaus: „Ha, da gibt’s noch so Wildschweine aus der Pfalz, die sind noch hochgradig angereichert.“ – „Ojo, do hascht den Vorteil, die muss ma’ net so lang brate‘, die sin’ schneller gar als die andern.“ Fukushima war schon etwas kräftiger und hat immerhin dazu beigetragen, die Energiewende einzuleiten. So, und wenn jetzt Fessenheim oder einer der belgischen Schrottreaktoren in die Luft flöge, wäre das zwar für Europa natürlich nicht besonders angenehm, aber dann würde vieles passieren. Und bevor das nicht der Fall ist, wird wenig passieren.
Sie sehen schwarz.
Ich sehe nicht schwarz, sondern ich sehe das ganz realistisch. Es ist immer dann etwas in die Wege geleitet worden, wenn es irgendwo richtig geklemmt hat. Vorher sind altbekannte verschiedene Mentalitäten verbreitet. Die Älteren sagen: „Ich seh’s ja, aber für uns reicht’s noch.“ Und viele andere sind einfach ignorant oder haben einfach noch nicht den Durchblick. Die glauben noch, sie leben in einer einigermaßen intakten Welt, und man wird’s schon richten können, wenn Not am Mann ist.
Zur Person
Peter Berthold ist einer der renommiertesten Ornithologen weltweit. Vor allem seine Forschungen zum Vogelzug sind bahnbrechend.
Von 1981 bis 2005 war Berthold Professor für Biologie an der Universität Konstanz, von 1998 bis zu seiner Emeritierung leitete er das Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell.
galore.de
Seit 2005 arbeitet er in enger Kooperation mit der Heinz-Sielmann-Stiftung an der Schaffung des Biotopverbunds Bodensee. Er sieht in solchen engmaschigen Renaturierungen die einzige Möglichkeit, das rasante Arten- und Vogelsterben möglicherweise doch noch aufzuhalten. Sein aktuelles Buch heißt „Unsere Vögel – Warum wir sie brauchen und wie wir sie schützen können“ (Berlin 2017).