türen zu, fenster zu, licht aus - verbissen ... | S! |
MILLENIALS
Die neue Prüderie
„Fack ju Göhte“ ist angeblich sittenwidrig. Ein Gedicht über Blumen soll weg, Dornröschen verboten werden, schlechter Sex am besten gleich auch. Ist uns vielleicht einfach ein bisschen langweilig?
Von Leonie Bartsch
Alle sind sehr aufgebracht.
Alle sind sehr aufgebracht und sehr schockiert.
Alle sind sehr aufgebracht und sehr schockiert
und sehr jung.
Zumindest die, die sich von einem Gedicht belästigt fühlen. Die Dornröschen als Märchen des Patriarchats verbieten wollen. Die schlechten Sex unter #MeToo-Anklagen abladen. Die sich als Polizei der politischen Korrektheit im Netz aufgebaut haben und – statt dort gegen rechte Polemik zu kämpfen – lieber über gendergerechte Artikelchen, Dobrindt und vulgäre Markennamen debattieren.
Antreibender Motor des im Netz ausgefochtenen Kulturkampfes sind wir Jungen, denn wenn wir schon bei vielem nicht mitreden können, dann wenigstens bei den Twitter-Hashtag-Trends. Irgendwie muss man die Zeit während der Vorlesung ja rumkriegen.
Doch wenn eine Onlinehysterie in die reale Welt überschwappt, bis hin zum Gericht der Europäischen Union, bis hin zu Eingriffen in die Kunstfreiheit, ist es endlich an der Zeit für Vernunft. So im wahren Leben, nicht nur bei Twitter.
Sex, Körper, Sex
Das spanische Gedicht Gomringers ist die Inkarnation der Prüderie verglichen mit der Mehrheit anderer spanischer Texte. Die Lyrics der aktuell populärsten Musikrichtung, Reggaeton, handeln von nicht viel mehr als Sex, Frauen, Sex, Gefühlen, Sex, Körpern, Sex. Und werden von dreijährigen Kindern auf dem spanischen Wochenmarkt gesungen.
All jene, die also in der Universität fleißig die Hand gegen einen „Admirador“ gehoben haben, sollten „Despacito“ schnell von ihrer Wochenend-Party-Playlist löschen und sich stattdessen der Schönheit der spanischen Sprache widmen, zum Beispiel mit diesem Gedicht.
Dabei verstehe ich die Sehnsucht nach Extremen. Nach politischem Pathos.
Wir haben nichts Unmittelbares mehr, für das wir kämpfen müssen. Hier herrscht kein Krieg. Die Demokratie funktioniert bisweilen. Da ist keine Mauer, die uns einsperrt. Alles, was wir bekämpfen, ist der Kater am Sonntagmorgen.
Also suchen wir uns Alternativen. Wir tanzen nicht einfach nur hedonistisch fünf Tage auf Technofestivals, sondern machen das aus antikapitalistischen Gründen. Wir verzichten nicht einfach auf Fleisch, sondern missionieren die halbe Welt. Wir wollen nicht in der Mitte rumdümpeln, sondern politischen Pathos in Extremen. Die Mitte ist halt Mainstream. Und Mainstream geht gar nicht. Für Mainstream bekommt man keine Retweets, keine Hashtags, keine Demonstrationen.
Der Studientest im Internet hat uns ein Ergebnis ausgespuckt, das ganz hübsch klang.
Also studieren wir. Und reden uns ein, dass uns das, was wir da auswendig lernen, auch wirklich interessiert. Dass das universitäre Bildungssystem nicht realitätsfern ist, sondern theoretisch. Wir machen ein bis einhundert Praktika, arbeiten in diesem einen Job, versuchen uns in diesem anderen.
Wir ersetzen Marx durch den Motivationstrainer
Dann lesen wir ein bisschen Marx, merken, dass wir uns in Private-Equity-Fonds plötzlich unwohl fühlen, wollen nicht länger Humankapital, sondern Humanisten sein, also Neuorientierung. Nicht so einfach, die Auswahl ist groß, die Ahnung ist klein. Wir ersetzen Marx durch den Motivationstrainer.
Der sagt: „Man kann alles werden, wenn man nur will.“ Hört sich gut an, und wie? „Lächeln Sie einfach, und die Welt lächelt mit“. Aha. Die Welt hat aber gar keine Zeit zum Lächeln, ist zu beschäftigt mit dem Erwärmen. Außerdem kann man mit penetrantem Lächeln viel falsch machen. Gekränkt steigen wir zurück ins Bett und verschanzen uns vor dem Alltag. Wir hören uns Podcasts an von Menschen, die miteinander reden, damit wir das nicht machen müssen.
Gerade schlecht, schreien wir zurück
Eine Woche später liegen wir immer noch da, haben nichts geschafft, dafür sind wir sieben Tage älter. Wir fühlen uns schlecht, also posten wir ein Foto, auf dem wir fröhlich einen Mojito in Malibu schlürfen, und fühlen uns danach noch schlechter, weil der Mojito echt lecker war und Malibu echt schön, aber eben ein Jahr her. Die Zukunft klopft an, fragt, ob wir reden könnten.
Gerade schlecht, schreien wir zurück und gucken weiter Netflix. Wir verschieben die Selbstverwirklichung auf morgen und die Schuld an allem auf den Studientest. Hätte der mal ein anderes Leben ausgespuckt.
Das Leben ist ohne Grund zum kollektiven Kämpfen ein bisschen langweilig. Ein bisschen grau und unwichtig.
Aber wenn ein vernunftverlassener Kulturkampf als Ablenkung von der alltäglichen Tristesse dient, ist es Zeit für neue Hobbys. Ist es Zeit für Eingeständnisse, Distanz und vielleicht auch mal eine Runde Digital-Detox, in der man das Netzminenfeld verlässt und sich eingesteht, dass man sich verrannt hat und dass politischer Mainstream okay ist. In der man sich eingesteht, dass man jugendlichen Pathos auch in die politische Mitte einfließen lassen kann, wie Kevin Kühnert momentan elegant zeigt.
Und vor allem ist es an der Zeit zu begreifen, dass Political-Correctness-Kampagnen gegen die Kunstfreiheit den Zielen der ursprünglichen feministischen Bewegung und der Demokratie mehr schaden als jeder Admirador.
© WeltN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten