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Holocaust-Überlebender trifft 25-jährigen | Auschwitz heute - Bundeszentrale für Politische Bildung und 360°Video WDR

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ESSAY

Meine Generation weiß alles und nichts

Wie ist es, als junger Mensch einem KZ-Überlebenden gegenüberzusitzen? Man ist sprachlos ob des Leidens dieses Menschen und reflektiert die eigene Existenz. Eine Begegnung in Kalifornien.

Von Sebastian Gubernator | welt.de


Ben Stern (r.) und Sebastian Gubernator lernten sich in Berkeley kennen - Copyright: Tim Osing


Ben ist 96, ich bin 25. Menschen in meinem Alter posten ständig Urlaubsfotos auf Instagram und fragen sich, ob sie weiter studieren oder endlich mal arbeiten sollen. Als Ben in meinem Alter war, hatte er neun Konzentrationslager, zwei Gettos und zwei Todesmärsche überlebt.

An diesem Samstag jährt sich die Befreiung von Auschwitz zum 73. Mal. Auf der ganzen Welt gedenkt man der Opfer des Nationalsozialismus, und ich denke darüber nach, wie das so ist, ein junger Mensch zu sein und einen Holocaust-Überlebenden zu treffen.

Ben habe ich in Berkeley kennengelernt, zwei Kollegen und ich haben ihn für ein Projekt unserer Journalistenschule interviewt, der Axel Springer Akademie. Wir trafen ihn in einem Kinosaal. Er saß dort, zweite Reihe, und wartete darauf, an einer Podiumsdiskussion teilzunehmen über die Frage, ob die Meinungsfreiheit für Nazis gelten darf. Ein Thema, auf das in Amerika anders geschaut wird als in Deutschland.

Dort ist das Tragen von Hakenkreuzen ja erlaubt. Nur ein Beispiel, aber ein vielsagendes. Ich hatte Zeitungsartikel über Ben gelesen, mich online in sein Leben eingearbeitet. Jetzt saß er da, ein kleiner Mann mit Schirmmütze, neugieriger Blick hinter großen Brillengläsern. Ich stellte mich auf Englisch vor.

„Sprichst du Deutsch?“, fragte er auf Deutsch und lächelte.

„Ja.“ Ich lächelte auch.

Schon vorher habe ich Holocaust-Überlebende kennengelernt. Frauen, die Theresienstadt überstanden, einen Mann, der in den 30ern mit seiner Familie aus Österreich in die USA floh, zersplitterte Biografien. Die Treffen ähneln sich, weil sich die Geschichten ähneln. Am Ende bleiben Sätze zurück, die man nicht vergisst, bei Ben Stern war es dieser: „Wir wurden befreit, aber wir waren nicht frei.“

Er stammt aus Polen. Nachdem die Nazis ihn von einem Konzentrationslager ins nächste getrieben und zu zwei Todesmärschen gezwungen hatten, erst im Januar, dann im April 1945, wurde er nahe der österreichischen Grenze von den Amerikanern gerettet. Er wog, erinnert er sich, 78 Pfund.

Ich gebe „78 Pfund“ bei Google ein. 35 Kilo. Ben muss, ganz am Ende, eine Hülle gewesen sein, nicht ganz tot, nicht wirklich am Leben.

Das alles erzählt er mir. Macht mit zittriger Hand seinen Manschettenknopf auf, zieht ungefragt den Ärmel hoch, Nummer 129592. Eine blass gewordene Erinnerung an den Holocaust. Es ist schwer, über so eine Begegnung zu schreiben, weil die Formulierungen immer nach Klischee riechen, nach Phrase.

Ja, es treibt mir Tränen in die Augen, es geht mir nicht aus dem Kopf, es verursacht Gänsehaut, wenn ein 96-Jähriger sagt, dass Gott erst die Engel geschaffen habe und dann die Holocaust-Überlebenden, damit sie erzählen können, was nie wieder passieren darf.

Ich glaube, als junger Mensch viel über den Holocaust zu wissen. Sicher nicht alles, aber genug, um im Kopf zu haben, was längst abgedroschen klingt und doch wahr ist: So etwas darf nie wieder passieren, weder in Deutschland noch im Rest der Welt.

Meine Generation ist aufgewachsen damit, dass die Erinnerung an den Holocaust eine Selbstverständlichkeit ist. Die Auschwitz-Prozesse, die in den 60ern die Deutschen wachrüttelten, fanden Jahrzehnte vor unserer Geburt statt.

Wir waren als Schüler in Dachau oder Buchenwald, haben das Tagebuch der Anne Frank gelesen, wurden von unseren Lehrern in Dorfkinosäle geschleppt, um Filme wie „Am Ende kommen Touristen“ zu sehen. Wir verstehen uns als Europäer und Kosmopoliten, auch wenn wir nicht genau wissen, was das heutzutage eigentlich bedeuten soll.

Wir haben Freunde in Tel Aviv. Wir sind aufgewachsen in dem Bewusstsein, dass in den 30er- und 40er-Jahren furchtbare, unvergleichliche, nicht gutzumachende Verbrechen verübt wurden. Und es ist gut, dass wir sensibilisiert sind.

Natürlich hatte ich auch Mitschüler, die fanden, dass in Deutschland zu viel an die Vergangenheit erinnert wird. Sie verdrehten die Augen, wenn es im Geschichtsunterricht und in Sozialkunde um Nazis ging und dann noch der Deutschlehrer mit der „Blechtrommel“ um die Ecke kam.

Ich sah das immer anders. Aufarbeitung ist essenziell. In einem Land, das sechs Millionen Juden in den Tod getrieben hat, kann es kein zu viel an Aufarbeitung geben.

Außerdem habe ich eine Erfahrung gemacht, sie mag nicht repräsentativ sein, aber so nehme ich es wahr: Diejenigen, die am lautesten rufen, sie wollen nichts mehr vom Holocaust hören, wissen oft nicht mal, wie viele Juden im Dritten Reich getötet wurden. Oder was am 9. November 1938 passiert ist. Oder was Treblinka war.

Das Deutschland, in dem ich aufgewachsen bin, hat keine Schuld. Aber es hat eine Verantwortung. Wer als Schüler „nichts mehr davon“ hören will, ist unreflektiert. Wer als Erwachsener ein Ende der Aufarbeitung fordert, ist ein menschenverachtender Idiot.

Meine Lehrer haben nie einen Holocaust-Überlebenden in den Unterricht eingeladen. Vielleicht, weil in unserem Ort in der rheinland-pfälzischen Provinz keine wohnten. Vielleicht, weil ihnen nicht klar war, wie wichtig solche Begegnungen sind.

Es macht eben einen Unterschied, ob der Lehrer einen dieser rollbaren Röhrenfernseherschränke aufmacht und „Schindlers Liste“ zeigt oder ob man einen Menschen wie Ben Stern trifft, der Auschwitz überlebt hat.

Schüler sollten ihre Lehrer auffordern, Zeitzeugen einzuladen. Und zwar jetzt, in den nächsten Tagen, in den kommenden Wochen, denn es gibt eine Wahrheit, die nicht immer offen formuliert wird, weil sie als pietätlos gilt: Die Holocaust-Überlebenden sind alt, sehr alt, und bald werden die letzten sterben.

Die Generation, die zurzeit Schminkvideos auf YouTube schaut und im Schulklo heimlich die erste Zigarette raucht, wird die letzte sein, die noch Holocaust-Überlebende treffen kann.

Der Autor ist Volontär der Axel Springer Akademie. Die Reportage entstand im Rahmen des Snapchat-Projekts „sachor jetzt!“: Die Geschichte des Holocaust für die Smartphone-Generation neu erzählt. Sebastian Gubernator und seine 15 Team-Kollegen wurden mit dem Henri-Nannen-Preis für das beste Web-Projekt 2017 ausgezeichnet und gerade vom „Medium Magazin“ unter die „Journalisten des Jahres“ gewählt

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