„Wer noch sagt:
,Wehret den Anfängen’,
begreift nichts“
Sigmar Gabriel ist Sohn eines Nazis. Michel Friedman ist Sohn verfolgter jüdischer Eltern. Nun haben beide in Berlin über angemessenes Holocaustgedenken diskutiert – und über den Umgang mit der AfD.
Von Leonie Bartsch
Sigmar Gabriel und Michel Friedman im Berliner Ensemble
Copyright: Berliner Ensemble | welt.edition
Der linke Mann sagt: „Mein Vater war NSDAP-Mitglied und bis zu seinem Tod Holocaust-Leugner.“
Auf der Bühne sitzt links Sigmar Gabriel. Sozialdemokrat. Sohn eines Nazis. Rechts sitzt Michel Friedman. CDU-Politiker. Sohn von Eltern, die von den Nazis verfolgt wurden. Es beginnt ein Gespräch zweier Söhne über Opfer- und Täterseite.
Sigmar Gabriel durfte erst mit zehn Jahren zu seiner Mutter. Davor war seine Kindheit geprägt gewesen von einem jähzornigen Vater, einer lieblosen Erziehung. Das hat er erst vor wenigen Jahren öffentlich gemacht. „Ich habe meinen Vater mit 15 oder 16 auf Drängen meiner Mutter besucht, das wollte ich eigentlich nicht, weil er eine Kindesentführung mit mir gemacht hatte“, erzählt Gabriel mit ruhiger Stimme. „Ich guckte mir seinen Bücherschrank an und sah Literatur, von der ich wusste: das ist echte Naziliteratur. ,Auschwitz Lüge’ war eins der Bücher.“
Ist Emotion der Schlüssel zum Verständnis?
Wann immer Gabriel seitdem seinen Vater traf, versuchte dieser, ihn politisch umzudrehen. „Es ging nicht. Er schrieb mir Briefe mit der Unterschrift: ,Mit volkstreuen Grüßen, dein Vater.‘ Er war der Überzeugung, dass die Juden am Zweiten Weltkrieg Schuld sind.“
Michel Friedman nickt, hört aufmerksam zu. Noch ist er entspannt. Er kann, sagt er, nicht verstehen, warum so wenige Deutsche über die Vergangenheit, ihre Familiengeschichte, ausreichend Bescheid wissen. Warum die emotionale Komponente im Erinnern ausgeblendet wird. Denn sei nicht gerade diese emotionale Komponente der Schlüssel zum Verstehen?
Genau das ist es auch, was Mirna Funk alarmierend findet, die Autorin und Kuratorin der Veranstaltung „Connecting the Dots“ zum Gedenktag der Befreiung von Auschwitz. Sie hat Gabriel und Friedman ins Berliner Ensemble eingeladen. Sie hat dort auch einen Workshop organisiert, in dem Oliver von Wrochem, Leiter des Studienzentrums der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, den Teilnehmern mit Gästen wie der Großnichte von Heinrich Himmler erklärte, wie man mögliche Taten der eigenen Vorfahren recherchieren kann.
„Erinnerungspolitische Wende“?
„Ich bin fest davon überzeugt, dass die fehlende Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie auch ein Grund ist, wieso den meisten Deutschen der Holocaust wirklich total egal ist“, sagt Funk. „Er ist wahnsinnig weit weg, er ist wahnsinnig lange her, er hat überhaupt nichts mit mir zu tun. Das ist so das Grundgefühl. Das würde sich aber garantiert ändern, hätte ich schon in meiner Schulzeit Opa in SS-Uniform gesehen.“
Das Thema drängt. Auf deutschen Straßen werden in diesen Tagen israelische Flaggen angezündet. Die AfD fordert eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Schon jetzt wissen nur noch knapp sechzig Prozent der deutschen Schüler ab 14 Jahren, was Auschwitz war. Es gibt die Idee, dass jeder Schüler künftig verpflichtend eine KZ-Gedenkstätte besuchen sollte. Sigmar Gabriel wird im Berliner Ensemble gefragt, was er davon hält, vermeidet aber eine Antwort. Und Angela Merkel hat für das nächste Kabinett einen Antisemitismusbeauftragten angekündigt. Ob das reicht?
Michel Friedman sagt: „Wer bei den heutigen Ereignissen noch von ,Wehret den Anfängen‘ redet im Zusammenhang mit dem, was wir damals erlebt haben, hat überhaupt nichts begriffen. NPD, Wehrsportgruppe Hoffmann, NSU, Beteiligung von staatlichen Stellen, jetzt die AfD, da stelle ich die Frage: Haben wir wirklich den Anfängen gewehrt?“ Er fährt mit der Hand durch die Luft: „Und alle sagen überrascht, jetzt sei es wieder da, aber wann, frage ich, wann war es nicht da?“ Das Gefühl der Verzweiflung, der Antwortlosigkeit, schwebt im Saal wie die Großbuchstaben über der Bühne.
Die beiden verstummen, ihr Gespräch neigt sich dem Ende, das Publikum ist aufgewühlt. Friedman beendet den Dialog, indem er Paul Celans „Todesfuge“ vorträgt. Dann ist es vorbei. Das Licht geht aus. Die Menschen strömen in die dunkle Nacht. In vielen von ihnen dürften die Verse noch eine Weile nachklingen.
„Schwarze Milch der Frühe
wir trinken dich nachts wir trinken dich morgens
wir trinken dich abends und morgens.“
Berlins Straßen sind grell, überall Menschen.
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith
© WeltN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten
,Wehret den Anfängen’,
begreift nichts“
Sigmar Gabriel ist Sohn eines Nazis. Michel Friedman ist Sohn verfolgter jüdischer Eltern. Nun haben beide in Berlin über angemessenes Holocaustgedenken diskutiert – und über den Umgang mit der AfD.
Von Leonie Bartsch
Sigmar Gabriel und Michel Friedman im Berliner Ensemble
Copyright: Berliner Ensemble | welt.edition
Auf der Bühne steht ein rotes Sofa, bestehend aus zwei Hälften. Dahinter hängt eine schwarze Leinwand mit dem Schriftzug „AUSCHWITZ“. Die Buchstaben schweben wie eine wuchtige Mahnung über der Couch. Das Berliner Ensemble hat sich gefüllt, alle warten. Das Licht geht an und zwei Männer im Anzug betreten die Bühne. Sie setzen sich auf das Sofa, kein Blick zum Publikum, keine Begrüßung, kein Name fällt.Der rechte Mann sagt:„In meiner Familie wurden fast fünfzig Menschen ermordet. Meine Eltern und meine Großmutter haben nur überlebt, weil sie auf Oskar Schindlers Liste standen.“ Stille. Und dann: „Mein Leben ist geprägt von diesem Friedhof.“
Der linke Mann sagt: „Mein Vater war NSDAP-Mitglied und bis zu seinem Tod Holocaust-Leugner.“
Auf der Bühne sitzt links Sigmar Gabriel. Sozialdemokrat. Sohn eines Nazis. Rechts sitzt Michel Friedman. CDU-Politiker. Sohn von Eltern, die von den Nazis verfolgt wurden. Es beginnt ein Gespräch zweier Söhne über Opfer- und Täterseite.
Sigmar Gabriel durfte erst mit zehn Jahren zu seiner Mutter. Davor war seine Kindheit geprägt gewesen von einem jähzornigen Vater, einer lieblosen Erziehung. Das hat er erst vor wenigen Jahren öffentlich gemacht. „Ich habe meinen Vater mit 15 oder 16 auf Drängen meiner Mutter besucht, das wollte ich eigentlich nicht, weil er eine Kindesentführung mit mir gemacht hatte“, erzählt Gabriel mit ruhiger Stimme. „Ich guckte mir seinen Bücherschrank an und sah Literatur, von der ich wusste: das ist echte Naziliteratur. ,Auschwitz Lüge’ war eins der Bücher.“
Ist Emotion der Schlüssel zum Verständnis?
Wann immer Gabriel seitdem seinen Vater traf, versuchte dieser, ihn politisch umzudrehen. „Es ging nicht. Er schrieb mir Briefe mit der Unterschrift: ,Mit volkstreuen Grüßen, dein Vater.‘ Er war der Überzeugung, dass die Juden am Zweiten Weltkrieg Schuld sind.“
Michel Friedman nickt, hört aufmerksam zu. Noch ist er entspannt. Er kann, sagt er, nicht verstehen, warum so wenige Deutsche über die Vergangenheit, ihre Familiengeschichte, ausreichend Bescheid wissen. Warum die emotionale Komponente im Erinnern ausgeblendet wird. Denn sei nicht gerade diese emotionale Komponente der Schlüssel zum Verstehen?
Genau das ist es auch, was Mirna Funk alarmierend findet, die Autorin und Kuratorin der Veranstaltung „Connecting the Dots“ zum Gedenktag der Befreiung von Auschwitz. Sie hat Gabriel und Friedman ins Berliner Ensemble eingeladen. Sie hat dort auch einen Workshop organisiert, in dem Oliver von Wrochem, Leiter des Studienzentrums der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, den Teilnehmern mit Gästen wie der Großnichte von Heinrich Himmler erklärte, wie man mögliche Taten der eigenen Vorfahren recherchieren kann.
„Erinnerungspolitische Wende“?
„Ich bin fest davon überzeugt, dass die fehlende Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie auch ein Grund ist, wieso den meisten Deutschen der Holocaust wirklich total egal ist“, sagt Funk. „Er ist wahnsinnig weit weg, er ist wahnsinnig lange her, er hat überhaupt nichts mit mir zu tun. Das ist so das Grundgefühl. Das würde sich aber garantiert ändern, hätte ich schon in meiner Schulzeit Opa in SS-Uniform gesehen.“
Das Thema drängt. Auf deutschen Straßen werden in diesen Tagen israelische Flaggen angezündet. Die AfD fordert eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Schon jetzt wissen nur noch knapp sechzig Prozent der deutschen Schüler ab 14 Jahren, was Auschwitz war. Es gibt die Idee, dass jeder Schüler künftig verpflichtend eine KZ-Gedenkstätte besuchen sollte. Sigmar Gabriel wird im Berliner Ensemble gefragt, was er davon hält, vermeidet aber eine Antwort. Und Angela Merkel hat für das nächste Kabinett einen Antisemitismusbeauftragten angekündigt. Ob das reicht?
Michel Friedman sagt: „Wer bei den heutigen Ereignissen noch von ,Wehret den Anfängen‘ redet im Zusammenhang mit dem, was wir damals erlebt haben, hat überhaupt nichts begriffen. NPD, Wehrsportgruppe Hoffmann, NSU, Beteiligung von staatlichen Stellen, jetzt die AfD, da stelle ich die Frage: Haben wir wirklich den Anfängen gewehrt?“ Er fährt mit der Hand durch die Luft: „Und alle sagen überrascht, jetzt sei es wieder da, aber wann, frage ich, wann war es nicht da?“ Das Gefühl der Verzweiflung, der Antwortlosigkeit, schwebt im Saal wie die Großbuchstaben über der Bühne.
Die beiden verstummen, ihr Gespräch neigt sich dem Ende, das Publikum ist aufgewühlt. Friedman beendet den Dialog, indem er Paul Celans „Todesfuge“ vorträgt. Dann ist es vorbei. Das Licht geht aus. Die Menschen strömen in die dunkle Nacht. In vielen von ihnen dürften die Verse noch eine Weile nachklingen.
„Schwarze Milch der Frühe
wir trinken dich nachts wir trinken dich morgens
wir trinken dich abends und morgens.“
Berlins Straßen sind grell, überall Menschen.
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith
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