Doch, kann man!
Der Jesuit KLAUS MERTES widerspricht Jens Spahns Politik der Herzenshärte
Mit der Bergpredigt könne man kein Land regieren, behauptete in der vergangenen Woche der designierte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Stimmt das? Muss sich Politik gegen Einsprüche des Herzens hart machen, um regieren zu können?
Zunächst: Die Bergpredigt ist Jesu Beitrag zur Auslegung der Thora. Allein schon deswegen ist sie ein politischer Text. Denn die Thora einschließlich der Zehn Gebote ist keineswegs nur eine moralische Handreichung für das Verhalten von Einzelpersonen, sondern ein Verfassungsentwurf. Die Bergpredigt wendet sich auch nicht gegen die Thora, etwa um sie zu ersetzen, sondern interpretiert sie. Zum Beispiel die Entschädigungsregelung im jüdischen Gesetz – ein Quantensprung gegenüber dem Blutrache-Prinzip. Sie verpflichtet Täter zu angemessenem Schadensersatz gegenüber dem Opfer: »Du sollst geben: Auge für Auge, Zahn für Zahn.« Aus der Perspektive der Opfer kann daraus ein Recht auf Vergeltung konstruiert werden. Die Bergpredigt bestreitet eine solche Auslegung. Ich wüsste kaum ein politisches Thema, das heute aktueller wäre.
S!|art: nach arbeiten jati putra pratama - nach einem foto von: united nation relief and works agency/dpa/taz |
Oder das Gebot der Feindesliebe: »Liebet eure Feinde und tut Gutes denen, die euch verfolgen.« Dieses Gebot verschweigt nicht, dass Menschen einem zum »Feind« werden können. Wer sich in der Bibel umschaut, wird sehen, dass Gewalt ohne Empathie für die Gewalttäter dargestellt wird. Deswegen bedeutet das Wort »Liebe« in diesem Kontext – und auch sonst in der Bibel – nicht: jemanden sympathisch finden. Vielmehr meint Feindesliebe: »Auch dein Feind hat Rechte. Achte sie!«
Antoine Leiris, der seine Frau bei den Pariser Terroranschlägen im November 2015 verlor, schrieb an ihre Mörder: »Meinen Hass bekommt ihr nicht.« Das ist eine Übersetzung eines Bildes, das Jesus in der Bergpredigt benutzt: »Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte auch die andere Wange hin.« Feindesliebe ist nicht nur eine Chance für den Feind, den »Feind« anders zu sehen und ihn so zu »entfeinden« (Pinchas Lapide), sondern sie ist auch ein Weg aus dem eigenen Hass, dessen Existenz der Witwer Leiris ja bei sich selbst nicht bestreitet. Hass ist aber momentan Teil des politischen Diskurses.
Spahn arbeitet sich am Begriff der Barmherzigkeit ab. Ein Staat müsse gerecht sein und nicht barmherzig, sagte er. Barmherzigkeit steht als Überschrift über der Bergpredigt: »Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist.« Das wird am Ende des Textes wieder aufgegriffen: »Was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen. Darin besteht das Gesetz und die Propheten.« Barmherzigkeit und Nächstenliebe-Gebot umrahmen die Bergpredigt. Sie sind also der Schlüssel zum Verständnis des gesamten Textes.
Auch dein Feind
hat Rechte.
Achte sie!
Gibt es Grenzen für die Barmherzigkeit? Diese Frage wird im berühmten Gleichnis vom barmherzigen Samariter verhandelt. Ein Mann liegt, von Räubern ausgeplündert, am Wegesrand. Ein Priester und ein Levit aus Judäa sehen ihn und gehen weiter. Ein Mann aus Samarien sieht ihn, bleibt stehen und hilft ihm. Hier werden zwei Dinge klargestellt: Barmherzigkeit besteht darin, sich konkret von der Not des anderen berühren zu lassen. Und sie räumt die Grenzen zwischen »wir« und »die« ab, in diesem Falle die zwischen den verfeindeten Bewohnern von Judäa und Samarien. Ein Gegensatz zum Anliegen der Gerechtigkeit besteht nicht. Vielmehr ist Barmherzigkeit sensibel für Ungerechtigkeit und setzt sich für ihre Überwindung ein. Barmherzigkeit ist politisch. Sie nimmt Anstoß an Verhältnissen, die dazu führen, dass Menschen am Wegesrand liegen – und verändert sie.
Im Sommer 2015 konnte Deutschland konkret miterleben, wie es ist, wenn Politik auf einen geschlagenen Menschen am Wegesrand trifft. Das Mädchen Reem Sahwil aus Rostock brach während einer Veranstaltung mit der Bundeskanzlerin in Tränen aus. Reem hatte Angst vor ihrer anstehenden Abschiebung. Die Reaktion von Angela Merkel wirkte unsicher. Sie war gewissermaßen wie der Priester im Gleichnis des Evangeliums, der jetzt trotz seiner drängenden Aufgaben festgehalten wurde und stehen bleiben musste – eingeklemmt zwischen der spontanen Herzensregung (das Mädchen streicheln) und den Zwängen verantwortlicher Politik (»Wenn wir jetzt sagen, ihr könnt alle kommen ... das können wir auch nicht schaffen«).
Der konkrete Einzelfall kann nicht der alleinige Bezugspunkt für Entscheidungen staatlicher Repräsentanten sein. Es gibt komplexe Abwägungen in Hinblick auf Konsequenzen für das Allgemeinwohl. Aus der Erschütterung über den Einzelfall folgt auch nicht zwingend eine bestimmte politische Konsequenz. Das alles zu bedenken stellt hohe Anforderungen an die politische Klugheit – und Herzensbildung.
Sie sehen,
aber sie
erkennen nicht
Barmherzigkeit ist eine weiche Stärke – weich, weil sie sich nicht abschottet gegen die in der Erschütterung liegende Erkenntnis. Das Gegenteil von ihr ist die Herzenshärte – sie ist nur scheinbar stark und schützt sich selbst gegen Verunsicherung durch die fremde Not, da sie diese nicht aushält. Sie hängt im Tunnelblick ihrer »Realpolitik« fest und verliert dabei den Blick für die Realität, einschließlich des Unheils, das »Realpolitik« anstellt, die wie ein Elefant im Porzellanladen der Wirklichkeit herumtrampelt. Der biblische Kommentar dazu lautet: »Sie sehen, aber sie erkennen nicht.« Herzenshärte führt eben zu Wahrnehmungsstörungen. Und die sind besonders gefährlich. Also: Regiert das Land mit der Bergpredigt im Kopf und im Herzen!
🙏Klaus Mertes
63, ist Jesuit, Gymnasiallehrer und Autor. Er war Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin. Seit 2011 führt er das Kolleg St. Blasien in Baden-Württemberg
Quelle: DIE ZEIT - 11/2018 - S.3
das ist ja irgendwie ein skandal: wie der olle bismarck meint auch der designierte cdu-gesundheitsminister (!) jens spahn, mit der bergpredigt jesu sei in der politik kein staat mehr zu machen ...
ich finde, das ist eine ethische bankrotterklärung - und ich finde auch, wer so etwas sagt und meint, der habe in einem regierungs-kabinett mit zwei apstrophiert "christlichen" parteien (cdu und csu) im vielbeschworenen "christlichen abendland" eigentlich nichts mehr verloren - schon gar nicht als gesundheitsminister.
im zeitlichen zusammenhang mit dem deutschen evangelischen kirchentag 2017 rügte spahn doch tatsächlich die kirchen dafür, dass sie zu oft zu gesellschaftspolitischen fragen stellung beziehen würden. sie sollten sich mehr auf „ihre kernthemen“ konzentrieren – also seelsorge, glaubensvermittlung oder auch "das karitative"
.
während also die kirchen von spahn einen platz abseits des politischen "mainstreams" zugewiesen bekommen, erklärt uns spahn als politiker, was von der bergpredigt heutzutage zu halten sei.
nachtijall - ick hör dir trapsen: da weht jetzt ein ganz eisiger konservativer wind im gesundheitswesen - das ja auf mitmenschliche barmherzige zuwendung geradezu angewiesen ist ...
spahn ist von haus aus ein münsterländer banker, der bereits als bundestagsabgeordneter dann im fernstudium in 14 jahren politikwissenschaft studiert hat ... (liebe plagiats-fahnder - schaut doch mal nach ...)
von 2006 bis 2010 war jens spahn zudem über eine gesellschaft bürgerlichen rechts (gbr) an einer lobbyagentur für pharmaklienten namens „politas“ beteiligt, während er gleichzeitig mitglied im gesundheitsausschuss des deutschen bundestages war. seine abgeordnetentätigkeit und seine arbeit als gesundheitspolitiker in verbindung mit seinen bezahlten nebentätigkeiten für die pharmaindustrie wurden in diesem rahmen als „interessantes geschäftsmodell“ bezeichnet, und es wurde ihm ein möglicher finanzieller interessenkonflikt vorgeworfen, schreibt "wikipedia".
ist klar, dass spahn mit einer solchen rein faktischen denke nichts von der bergpredigt wissen will - und die kirche mit ihrem moralischen zeigefinger in eine ecke abschieben will, die seinen geschäften nicht zuwider läuft. solch ein typ sitzt nun direkt als ehemaliger lobbyist im gesundheitsministerium ...
und sagt allen ernstes als "konservativer katholik", ein staat müsse gerecht sein, nicht barmherzig, er sollte die menschen nicht glücklich machen wollen, sonst werde er ideologisch, wenn nicht gar totalitär. „für mich ist nicht der staat die stütze der gesellschaft, sondern gemeinschaften wie die ehe sind es.“ - apropos ehe: seit april 2013 ist spahn mit dem journalisten und leiter des berliner hauptstadtbüros der zeitschrift "bunte", daniel funke liiert. am 22. dezember 2017 heiratete er seinen lebenspartner auf schloss borbeck.
als nachhilfeunterricht in sachen "politik und bergpredigt" sei herrn spahn ein aufsatz in der "zeit" anbefohlen von günter bransch, dem damaligen generalsuperintendent des sprengels potsdam (also noch zu ddr-zeiten), in dem der die bedeutung der bergpredigt beispielsweise für heinrich albertz und c.f. von weizsäcker herausstellt - und sogar eine bedeutung des textes für die die damalige ddr-führung annimmt.
bransch schreibt u.a.: "wer unterwegs ist zum reiche gottes in der nachfolge jesu, gewinnt ein Vertrauen zur offenheit der zukunft für gottes walten, das ihm die freiheit gibt, angstfrei und furchtlos, aber nicht leichtfertig und unbedacht, nach dem heute des willens gottes, der wahrheit, der gerechtigkeit, dem frieden zu fragen und entsprechende schritte zu gehen" ... - das sollten wir herrn spahn mit ins poesiealbum schreiben. S!
als weitere lektüre dem herrn spahn dringend ans herz (!) gelegt:
- franz alt: frieden ist möglich - die politik der bergpredigt
- alexander christian pape: kann man mit der bergpredigt politik betreiben?: eine politische haltung für frieden im rahmen eigener verantwortung