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bleibt alles in der familie ...

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kirche im dorf



FAMILIENGESCHICHTE

Opa, wo warst du 1968?

Von Sebastian Gubernator |  welt.de


Die Studentenbewegung von 1968 protestierte gegen angeblich verkrustete Gesellschaftsstrukturen im Deutschland. Doch abseits der Uni-Städte ging es geruhsam zu. Wie wurde dort gelebt? Ein Enkel hat im Jubiläumsjahr nachgefragt.

Neulich habe ich Opa nach Rudi Dutschke gefragt. Nicht dass er Dutschke persönlich gekannt hätte, aber er kannte zumindest die damalige Zeit, und das kann auch spannend sein. Wer mit Zeitzeugen in der Familie spricht, lernt ja immer etwas über sich selbst. Früher erzählten die Opas vom Krieg, heute von den Achtundsechzigern.

Über die wird im Moment viel diskutiert, 50 Jahre danach. Es ist ein Jubiläumsjahr, in den Fernsehstudios und Zeitungskommentarspalten werden die Achtundsechziger verklärt und verteufelt, oft von Leuten, die selbst Teil der Bewegung waren. Die einen wollen die Vergangenheit verteidigen, die anderen blicken beschämt zurück. Und jeder glaubt, die eine, unumstößliche Wahrheit zu kennen.

Also, Opa, wie war das so?

Opa klingt überrascht. Er muss nachdenken, tief im Gedächtnis kramen, und das wiederum überrascht mich: Waren die Proteste der Achtundsechziger nicht eine Zäsur? Haben sie nicht das Volk gespalten, jeden und jede dazu veranlasst, sich eine Meinung zu bilden? Opa lacht, wie er immer lacht, leise und lang. Er könne gar nicht viel dazu sagen, sagt er, das sei ja alles so lang her.

Opa wurde ein paar Jahre nach Franz Josef Degenhardt geboren und ein paar Jahre vor Rudi Dutschke. Ulrike Meinhof wäre, würde sie noch leben, heute ungefähr so alt wie er. 1968 war er 33. Etwas zu alt, um sich mit Studenten und Oberschülern in Wasserwerferschlachten zu stürzen, jung genug, um Fragen an die NS-Generation zu haben, an „die Verhältnisse“ oder „das System“. Aber er hatte keine Fragen. Er hatte Sorgen, und zwar ganz andere als die Demonstranten in Bonn und West-Berlin. Er musste eine Familie ernähren, seine Frau und drei Kinder. Das Wirtschaftswunder hatte vieles besser gemacht, aber die Erinnerung an die Armut der Nachkriegsjahre saß.

Opa war kein Achtundsechziger. Er wohnte in einer sehr kleinen, sehr katholischen Stadt, in der er noch heute wohnt, zwischen Eifel und Mosel. Als Benno Ohnesorg erschossen wurde, war er gerade mit seiner Familie umgezogen, sie hatten ein Reihenhaus am Ende einer langen Straße bekommen. Während andere gegen die Notstandsgesetze demonstrierten, nahm er Fahrstunden. 1969 kaufte er sein erstes Auto, einen VW Käfer. Er sah seine Kinder mit Schultüte. Opa wollte keine Revolution, er wollte Zukunft.

Montag bis Freitag arbeitete er in einem Amt. Morgens um 8 Uhr kam er dort an. Um 13 Uhr, in der Mittagspause, holte er die Kinder von der Schule ab und ging nach Hause. Um 14 Uhr saß er wieder am Schreibtisch. Rechnungen prüfen, Dokumente unterschreiben. Den Haushalt eines ganzen Landkreises kontrollieren. Um 17.30 Uhr ging er heim, dort las er oft noch, was er für die Arbeit so zu lesen hatte. „Bundesgesetzblatt“. „Ministerialblatt“. „Die Kommunale Steuer-Zeitschrift“. Er schaute Nachrichten, meistens ARD.

Opa arbeitete für den Staat, den andere infrage stellten.

In den Nachrichten sah er, was weit entfernt schien. Die Proteste in den Studentenstädten. Den Rücktritt des Regierenden Bürgermeisters Heinrich Albertz. Die Osterunruhen. „Man hat darüber gesprochen“, sagt er, „aber man hatte wirklich andere Sorgen als die Dinge, die sich irgendwo in der Republik abspielten.“ Wenn er sich doch mal darüber Gedanken machte, dann war er skeptisch. „Wir wollten unsere Ruhe und unseren Frieden. Was sollten diese Krawalle?“ In seiner Stadt gab es keine Aufstände, keine Menschen, die „anders“ waren. Zumindest kannte er keine. Man ging zur Kirche und wählte die CDU. Am 1. Mai ging man wandern.

Für viele war es ein normales Jahr

Opa war wirklich kein Achtundsechziger. Er weiß nicht mal viel über die Achtundsechziger, erinnert sich „nur dunkel“ an die Nachrichten, die „man so konsumiert hat“, Schlagzeilen vom anderen Ende des Landes. Für mich, einen Mittzwanziger, ist Rudi Dutschke ein Mann aus Geschichtsbüchern, ein ewig junges Gesicht auf Schwarz-Weiß-Fotos. Er ist auch eine Straße, durch die ich zur Arbeit gehe, die Rudi-Dutschke-Straße in Berlin. Mehr nicht. Für meinen Opa, einen Zeitzeugen, ist Dutschke noch weniger. Eine längst verblasste Erinnerung an hornbebrillte „Tagesschau“-Moderatoren, die Nachrichten aus West-Berlin vortrugen. Er bekam das mit, aber es bestimmte nicht seinen Alltag.

Wenn dieser Tage über 1968 diskutiert wird, wird oft vergessen, dass es für viele ein ganz normales Jahr war. Opa ging zur Arbeit, machte seine Steuererklärung, mähte den Rasen. Es war ein fundamental anderes Jahr als das, das ich aus Dokumentarfilmen kenne. Sicher war es langweiliger, weniger politisch. Aber es war, das wird oft vergessen, das 1968 der Mehrheit.

In der Welt, in der mein Opa lebte, gab es keine Frankfurter Schule und keine Hörsaalbesetzungen, nicht mal Hörsäle gab es. Die Achtundsechziger waren, auch das wird gern vergessen, eine Bildungselite. Mein Opa hat einen Volksschulabschluss gemacht und sich dann hochgearbeitet. Natürlich hätte er sich trotzdem einmischen können. Er hätte Flugblätter schreiben können, aber seine Familie war ihm wichtiger. Er hätte gegen die Springer-Presse sein können, gegen die „Bild“, aber er wusste nicht mal so genau, was drinstand. Opa las die „Trierische Landeszeitung“.

War er ignorant, weil er ignorierte, was schieflief in Deutschland? Davon gab es ja genug: Studenten wurden von Polizisten verprügelt. Professoren führten sich auf wie Götter. Ehemalige NSDAP-Mitglieder saßen im Bundestag. Benno Ohnesorg wurde erschossen, Rudi Dutschke lebensgefährlich verletzt. Opa nahm das zur Kenntnis, ohne etwas zu unternehmen. Das mag bequem gewesen sein. Aber waren diejenigen, die Ho Chi Minh verehrten und vom Kommunismus träumten, besser?

Wenn dieses Jahr diskutiert wird, dann wird es auch um die Deutungshoheit gehen. Darum, wer mit letzter Sicherheit sagen kann, wer die Achtundsechziger waren und was sie erreicht haben. Ich glaube, viel zu viele waren radikal. Sie waren fehlgeleitet, wenn sie kommunistische Diktatoren hochleben ließen. Sie waren weltfremd, wenn sie dachten, mit Karl Marx die Probleme der Bundesrepublik lösen zu können.

Auf der anderen Seite stießen sie die Tür auf für Wichtiges und Richtiges, was nach ihnen kam: Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt, die Friedensbewegung, die Frauenbewegung, die Umweltbewegung, die Lesben- und Schwulenbewegung wuchsen im Windschatten der Achtundsechziger – und machten Deutschland zu einem besseren Ort.

Egal wie man sie bewertet, eines sollte man in diesem Jubiläumsjahr im Kopf behalten: Die Achtundsechziger waren eine Minderheit. Mein Opa war sicher nicht repräsentativ, aber im Kern waren die meisten Deutschen wie er. 1968 war nicht nur das Jahr der Revolution, es war auch das Jahr des Rasenmähens und Kindergroßziehens.

DIE WELT © Axel Springer SE. Alle Rechte vorbehalten.


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ich bin 12 jahre jünger wie "opa" - und in bielefeld sammelten sich abspaltungen des harten kerns der 68er. in bethel gab es viele zivildienstleistende, die den 68ern nahestanden oder sogar ein teil von ihnen waren. insofern erinnere ich mich anders an 68 als "opa". es war eine äußerst spannende zeit - und natürlich war ich "links" - und natürlich wählte ich nicht cdu, und natürlich war mir die springer-presse ein gräuel, die verschmäht wurde. und meinen schwiegervater damals habe ich überredet, keine "bild"-zeitung mehr zu lesen - und gemeinsam schauten wir das interview mit rudi dutschke in der ard von günter gaus - am 3.12.1967.


schwiegervater und ich - wir waren damals "genossen" in der spd - also gemäßigter als der harte kern damals. aber schwiegervater war ja schon in der spd, als das noch eine echte "sozialistische" partei war - so von "arbeiterklasse" redete und "brüder zur sonne - zur freiheit" voller insbrunst sang - und am 1. mai die kundgebung der ig metall besuchte. von daher waren ihm die ziele des sds und rudi dutschke durchaus geläufig ... schwiegervater war infolgedessen in der "volksfürsorge", in der gewerkschaft sowieso - und mitglied in der geg-konsumgenossenschaft - und las morgens die FREIE PRESSE bis sie dann zur NEUEN WESTFÄLISCHEN (zeitungen mit direkter spd-beteiligung) zusammenschrumpfte - alles ganz selbstverständlich  damals...

und ich verweigerte damals meinen "kriegsdienst mit der waffe" - nach 9 monaten wehrdienst: das war schwierig damals - besonders als gefreiter der bundeswehr und ausgebildeter funker - so richtig noch mit anhörung vor dem "untersuchungsausschuss" - und das muss man sich mal vorstellen - so schwachsinnige "fangfragen":
"sie gehen mit ihrer frau durch einen park. plötzlich springt ein russe aus dem gebüsch - und will ihre  frau vergewaltigen - was machen sie?" 
und wenn man dann nicht die richtige antwort gab, wurde man nicht anerkannt als kriegsdienstverweigerer ... - die richtige antwort lautete in etwa: man muss unterscheiden zwischen einer persönlichen natürlichen gefahrenabwehr - der persönlichen notwehr - und der ausbildung an einer feuerwaffe, mit der man auf befehl eines dritten - ohne direkte persönliche betroffenheit - jemanden für eine "höhere idee" töten konnte oder töten musste.

im alltag damals - in der grundausbildung bei der bundeswehr - gab es durchaus hier und da schon bzw. noch "braunes gedankengut" - besonders der ganz alten "lametta-träger" aus adolfs freiwilligenheer - oberstleutnante - oder so etwas ...

ich erlebte da so einen oberstleutnant als fahrlehrer, der - fast 60 jahre alt damals - vor jeder fahrprüfung erst 2-3 schnäpse trinken musste - "zur beruhigung" ...

mein kompaniechef damals, vor dem ich meine verweigerung "bekunden" musste, war ein gewisser hauptmann von oldenburg - vielleicht verwandt mit der heutigen afd-abgeordneten frau von storch, geb von oldenburg - wer weiß ...

auf alle fälle habe ich seitdem ja ein staatlich geprüftes gewissen - und leistete in den letzten 9 monaten von meiner insgesamt 18-monatigen dienstzeit (!) meinen zivildienst in bethel ab - was ich dann auch zum einstieg in einen neuen beruf genutzt habe - mein alter lehrberuf des schriftsetzers war ja da allmählich passé - in der ersten welle der industriellen "revolution"...

diese massiven umbrüche in der arbeitswelt damals werden heutzutag in der diskussion um die zielsetzungen und notwendigkeiten der 68er kaum bedacht. 68 war aber der vorabend einer ab dann immer stärker werdenden arbeitslosigkeit aufgrund der automatisierungen und der allmählich einsetzenden digitalisierungen und der freisetzung menschlicher arbeit dadurch - bis tief in die 80er jahre hinein - so war das damals nämlich auch - aber davon hat "opa" als finanzbeamter in einer landgemeinde ja sooooviel nicht mitbekommen - er wollte ja seine ruhe haben - und musste für die familie sorgen ...

zum schluss: hoffentlich fragen in vielen familien junge menschen ihren opa oder ur-opa: "wie war das damals ?" - 1968 - aber auch: wie war das damals von 1933 - 1945: wo warst du, opa, damals ... - und wo ist damals onkel willi geblieben - und warum wurde in den 60er jahren plötzlich der dorfarzt in den einstweiligen ruhestand befördert ... 

denn wenn nicht die 68er doch einiges in gang gesetzt hätten, was heute noch von belang ist, dann würde doch über diese zeit davor auch der mantel des schweigens gedeckt - wie das bei "opa" ja schon ansatzweise stattfindet ...  - S!

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