So sieht es in den Nebenstraßen unserer Städte aus: Waisenhausstraße in Herford | s!NEdi|photography |
Bundesregierung legt umstrittenen Armuts- und Reichtumsbericht vor
Die deutsche Wirtschaft brummt, die Zahl der Arbeitslosen schrumpft - doch jeder siebte Bürger ist von Armut bedroht. Das sind die Fakten des herrschenden Merkelismus un der von ihr begründeten "marktkonformen Demokratie". Denn nun belegt ein umstrittener Bericht der Bundesregierung die ungleiche Vermögensverteilung im Land. Es ist ein paradoxer Trend. Trotz insgesamt guter Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt ist die Kluft zwischen Vermögenden und Mittellosen in Deutschland weiter gewachsen. Das geht aus dem neuen Armuts- und Reichtumsbericht hervor, der koalitionsintern heftig umstritten war. Am Mittwoch billigte ihn das Bundeskabinett nach monatelanger Diskussion.
Von Armut bedroht sind unverändert zwischen 14 und 16 Prozent der Bundesbürger. Laut Bericht verfügen die reichsten zehn Prozent der Haushalte über 53 Prozent des gesamten Nettovermögens. Die gesamte untere Hälfte der Haushalte besitzt dagegen nur gut ein Prozent - im Jahr 2003 waren es noch rund drei Prozent gewesen.
Vorwurf der Schönfärberei
Dies wird im Bericht aber nicht mehr explizit ausgesprochen. Grund ist die Intervention von Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP). Dieser setzte in der Ressortabstimmung Änderungen am Entwurf von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) durch. Dabei entfiel auch der Satz: "Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt." Stattdessen findet sich diese Aussage sich nun auf Seite 343 in abgewandelter Form. Auch Aussagen zum Mindestlohn und zu Niedriglöhnen wurden abgeschwächt. Kritiker werfen der Regierung deshalb "Schönfärberei" vor.
So hat SPD-Chef Sigmar Gabriel der Bundesregierung Fälschung vorgeworfen. Mit der Streichung von mehreren Passagen in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht habe die Regierung "einen der wichtigsten bürgerlichen Werte" mit Füßen getreten - die Wahrhaftigkeit, sagte Gabriel am Donnerstag im Bundestag. Bislang sei es eher in totalitären Staaten üblich gewesen, dass die Wirklichkeit "gefälscht, Statistiken verändert, retuschiert und Zensur ausgeübt" worden sei. In diesem Fall habe die Bundesregierung aber "kosmetische Berichtschirurgie" betrieben.
Gabriel bezog sich auf den Armuts- und Reichtumsbericht, dessen erste Fassung im September für erheblichen Streit innerhalb der Bundesregierung gesorgt hatte und daraufhin an mehreren Stellen verändert worden war. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) habe mit dem ursprünglichen Bericht Mut bewiesen, sei aber "mundtot" gemacht worden, sagte Gabriel. "Die Wirklichkeit, die kann man nicht ressortabstimmen", fügte er hinzu,.
Der SPD-Vorsitzende kritisierte die Sozialpolitik der Bundesregierung. Deutschland sei längst "auf dem Weg in die Zwei-Klassen-Gesellschaft". Gabriel machte sich vor allem für einen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro stark. Es gehe nicht nur um die Höhe des Lohns, sondern "um den Wert und die Würde von Arbeit". "Sozial ist nicht, was Arbeit schafft. Sozial ist, was Arbeit schafft, von der man leben kann."
Der Vize-Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Hubertus Heil, kritisierte: "Auf Druck der FDP frisiert die Merkel-Regierung den Armuts- und Reichtumsbericht. Damit verkennt sie die sozialen Realitäten in Deutschland und verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen."
Rösler verteidigte die Änderungen und wies den Vorwurf zurück: "Ich halte das schlichtweg für Wahlkampfrhetorik", sagte er in München. Jeder wisse, dass es Deutschland so gut gehe, wie schon lange nicht mehr. Das zeigten auch die guten Arbeitsmarkt- und Wachstumszahlen. Dies müsse auch dargestellt werden.
Weniger Kinder in Notlagen
Der 548 Seiten starke Report trägt den Titel "Lebenslagen in Deutschland" und erscheint zum vierten Mal. Am Mittag stellte von der Leyen die Ergebnisse in einer Pressekonferenz vor. Und zeichnete, ungeachtet der Kritik, ein positives Bild: "Wir stehen heute im internationalen Vergleich sehr gut da."
Erfreulich sei, dass die real verfügbaren Einkommen sich seit 2005 insgesamt positiv entwickelt hätten, heißt es in dem Bericht. Als Erfolg wertete es von der Leyen, dass eine Viertelmillion Kinder weniger in Hartz-IV-Haushalten lebten. Das sei ein Hinweis darauf, "dass im Berichtszeitraum die Dinge besser geworden sind". Allerdings nahmen der Niedriglohnsektor und atypische Beschäftigungsverhältnisse wie Leih- und Zeitarbeit oder befristete Jobs weiter zu.
Deutschland ist auf dem Weg zur Klassengesellschaft
Das meint Jakob Augstein in seiner neuesten SPIEGEL-Kolumne in Bezug auf den Armuts- und Reichtumsbericht.
Wir sollten uns an den Begriff "Klassengesellschaft" wieder gewöhnen. Die Zeiten, in denen ein sozialpolitisch eingehegter Kapitalismus "Wohlstand für alle" (Ludwig Erhard) zumindest möglich erscheinen ließ, sind vorbei. Die Ära der sozialen Marktwirtschaft ist beendet.
Eine große Enteignung hat stattgefunden. Aber in Deutschland sind nicht die Reichen enteignet worden. Sondern das Volk.
Der "Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung", der jetzt vorgelegt wurde, legt davon Zeugnis ab. Man muss genau hinsehen, um die traurige Botschaft des Berichts zu entziffern. Die Regierung hat sich in den vergangenen Monaten viel Mühe gegeben, die Lage zu schönen und zu manipulieren.
Deutschland ist ein ungerechtes Land. 1970 besaß das oberste Zehntel der (West)-Deutschen 44 Prozent des gesamten Nettogeldvermögens. 2011 waren es 66 Prozent. Die - von der Masse der Menschen getragenen - Lohn-, Umsatz- und Verbrauchsteuern ergeben 80 Prozent des gesamten Steueraufkommens, die Unternehmens- und Gewinnsteuern machen nur zwölf Prozent aus. Fast acht Millionen Menschen in Deutschland arbeiten für Niedriglöhne. Etwa zwölf Millionen leben an oder unter der Armutsgrenze. 25 Prozent der Beschäftigten in Deutschland haben sogenannte prekäre Jobs: Leiharbeit, Zeitarbeit, Werkverträge, Praktika. Jeder zweite neu zu besetzende Arbeitsplatz ist befristet.
Die Industrie, die regierenden Parteien, große Teile der Medien, willfährige Forscher und Institute - sie alle helfen, diese Tatsachen zu leugnen, zu relativieren, zu ignorieren. Das Kartell der Profiteure ist so stark, dass es auf die Wirklichkeit keine Rücksicht mehr nehmen muss. Es schafft sich seine eigene Wirklichkeit.
System der Lüge
Währenddessen können wir den Niedergang dieser Gesellschaft längst mit eigenen Augen sehen. Die Schulen verfallen, die Städte verrotten, die Straßen verkommen, an den Kreuzungen klauben Menschen Pfandflaschen aus den Mülleimern. Aber man hat uns beigebracht, unseren Augen nicht mehr zu trauen und Ungerechtigkeit für Notwendigkeit zu halten und Unsinn für Vernunft. Alles dient dem Zweck, die Erträge, die unten erwirtschaftet werden, nach oben fließen zu lassen und gleichzeitig zu verschleiern, dass es sich so verhält. Die Gesetze, das Steuergefüge, die Werte - das System.
s!NEdi|photo|graphy: Jeder siebte Bürger ist von Armut bedroht ... |
Die sozialpolitischen Ziele wurden verfehlt. Die wirtschaftspolitischen wurden erreicht. Die Agenda-Politik, die Schröder erfunden hat und die Merkel fortsetzt, hat Deutschlands Wirtschaft gestärkt, aber die Deutschen geschwächt.
An seiner erschütterndsten Stelle zeigt der Armutsbericht, wie wenig Illusionen sich die Menschen über die deutsche Wirklichkeit machen. Wenn man sie nach den Gründen für Reichtum in der Gesellschaft fragt, nennt gerade mal ein Viertel besondere Fähigkeiten oder harte Arbeit. Eine viel größere Anzahl dagegen führt die Herkunft an (46 Prozent) oder das soziale Netzwerk (39 Prozent). Die ganz Enttäuschten halten gleich Unehrlichkeit (30 Prozent) oder die Ungerechtigkeit des Wirtschaftssystems (25 Prozent) für die Wurzeln des Wohlstands.
Was ist erschreckender: der Realismus der Menschen oder ihre Passivität?
Mit Materialien von: SPIEGEL-ONLINE: jok/dpa/AFP / der S.P.O.N.-Kolumne | Im Zweifel links: "Armutszeugnis für Deutschland" von Jakob Augstein - und welt.de/dapd