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Fakten und Fiktionen mit Wörtern und Zeichen: Ein totes Pferd beatmen | J.M. Coetzee: Die Kindheit Jesu

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Besonders lesenswerte und liebenswerte Bücher, auf die ich stoße - bzw. zu denen ich - wie bei diesem hier - wie von selbst hingeführt werde - stelle ich in diesem Blog immer mal wieder gerne vor. J.M. Coetzees "Die Kindheit Jesu" ist so ein Buch: Für mich irgendwie überwältigend mit seinen zahlreichen Ebenen von Fakten, Fiktionen, Wörtern und Zeichen - bei allerknappster Sprache und nur 352 Seiten Umfang - "einfach"-  im wahrsten Sinne - "wunderbar" ... - ein "Meteor voller Intensität, Überraschung und Schönheit" ... Wer noch mehr vorab zu diesem "zauberhaften" Schatzkästlein erfahren will, sei auf folgenden Link hingewiesen mit seiner Buchbesprechungs-Netzschau  - und besonders auch auf dieses 3-sat-Video ...
Stoiker und Menschenfreund. Der 73-jährige Literaturnobelpreisträger J.M. Coetzee in Berlin. - Bearbeitung nach einem OriginalFOTO von HARTWIG KLAPPERT/LITERATURFESTIVAL | tagesspiegel.de



Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee

Der kleine Jesus bzw. David will ein totes Pferd beatmen ...


Der Heiland als neunmalkluges Kerlchen: In seinem neuen Roman "Die Kindheit Jesu" knüpft der südafrikanische Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee an sein Frühwerk an - er jongliert mit Fakten und Fiktionen, mit Wörtern und Zeichen. Ein großer intellektueller Spaß.

Da ist dieser rotzige Knilch, hat einen schwarzen Superman-Umhang um, Sonnenbrille auf der Nase und sagt: "Ich muss keinen Lebensunterhalt verdienen." Er will Zauberer werden, Entfesselungskünstler und Rettungsschwimmer.

Was zum Berufsbild eines Weltenretters eben so dazugehört. Der Junge heißt David, ist nervtötend altklug, er spricht eine Geheimsprache und glaubt, dass Zahlen mehr sind als Eins-plus-Eins. Also irgendwas zwischen hochbegabt und ADHS, der Alptraum aller Lehrer, die ihn am liebsten auf eine Sonderschule abschieben würden. Und er ist der Protagonist im neuen Roman des Literaturnobelpreisträgers J.M. Coetzee.

Der Südafrikaner ist bekannt dafür, sich jedes Mal im Schreiben neu zu erfinden, immer noch eins draufzusetzen. Er hat es wieder getan. Nun also: die unerzählte Geschichte aus dem Buch der Bücher - "Die Kindheit Jesu". Mal eben den Kern westlicher Kulturgeschichte dekonstruieren und die Lücke füllen, die die spärlichen Zeilen im Lukas- und Matthäus-Evangelium offenlassen.

Trotzdem sollte man sich hüten, den Romantitel als einzigen Schlüssel zum Buch zu nehmen. Es ist eine psychologische Finte für den Leser, das Wort "Jesus" taucht im ganzen Text nicht auf. Klar, es gibt hier und da biblische Anklänge, David und sein Begleiter Simon landen wie viele andere Flüchtlinge in einer fremden Stadt im abstrakten Nirgendwo namens "Novilla", halb "Neustadt", halb "Kein Haus", halb zukunftsträchtig, halb niederschmetternd; da sind die Namen David, Simon, Ana, ein Pferd namens "El Rey", "Der König"; und ja, da ist die Vaterfigur, die kein leiblicher Vater ist, und nach der Mutter des Jungen sucht. Und dann einfach irgendeine Frau zur Mutter erklärt, als sei ihm der Heilige Geist erschienen.

Elternschaft ist eine Frage der Definition

Aber man könnte auch sagen: Coetzee nimmt diese biblische Leerstelle als Anlass, um einmal ganz spielerisch durchzuexerzieren, was es heißt, Fakten mit Fiktionen zu ersetzen. Er hat noch immer jede Chance ergriffen, die vermeintliche Logik unseres Verständnisses von Authentizität zu unterlaufen, etwa die Beweiskraft von Naturgesetzen. Dass Elternschaft nur eine Frage der Definition ist, macht das Christentum ja selbst vor - diese Idee überspitzt Coetzee konsequent.

Vor diesem Hintergrund wirkt "Die Kindheit Jesu" gleich doppelt wie eine zwangsläufige Folge von Coetzees bisherigem Schaffen. Es ist, als hätte als nächstes nur diese Story kommen können, ein triumphaler Trumpf, ein großer Spaß.

Denn Coetzee hat es in all seinen Texten immer auf eines abgesehen: Er bricht Normen, vernebelt Gewissheiten in einem Ping-Pong aus Dialogen und unterläuft damit Definitionen jedes Mal so umfassend, dass man am Ende nicht mal mehr das Wort Definition selbst ernst nehmen kann.

Trauen konnte man ihm noch nie. Egal ob er wie zuletzt in "Sommer des Lebens" das Genre Autobiografie auf den Kopf stellt, ob er seit seinem ersten Werk vor knapp 40 Jahren immer wieder einen Erzähler namens "Coetzee" einschleust und so die Grenzen zwischen Fiktion und Realem zerreibt oder ob er die Chronologie von Erzählung ad absurdum führt, indem er in "Tagebuch eines schlimmen Jahres" (2007) einen Roman lang die Buchseiten aufteilte und oben eine andere Geschichte erzählte als unten. Und nun also liefert Coetzee, entgegen dem erzählerischen Drang zu schauen, was als nächstes kommt, die Story vor der Story.

Anknüpfen an frühe Werke

Zum anderen knüpft Coetzee dieses Mal an sein Werk vor "Schande" 1999 an, jenem Roman, der ihn letztlich weltbekannt gemacht hatte, seinem ersten über die Zeit nach der Apartheid in Südafrika und dem ersten, bei dem man das Gefühl hatte, dass es in der gleichen Realität wie der unseren spielt. "Die Kindheit Jesu" dagegen lebt von jener an Fabeln erinnernden Atmosphäre der frühen Werke "Warten auf die Barbaren" oder "Leben und Zeit des Michael K.": Zeit und Ort sind abstrakt, hier und da gibt es Verweise auf die Moderne, Bagger etwa, Comics, die Sonnenbrille, Pancakes. Aber diese Elemente sind eher wie Brosamen im Wald ausgestreut, um Vertrautes zu simulieren, wo ansonsten alles im Ungefähren hängt. Wovor David und Simon und die anderen fliehen, warum, bleibt ungesagt. Und auch die babylonische Sprachverwirrung von Spanisch, Englisch, Deutsch macht alles nur noch ungewisser.

Coetzees Duktus ist wie immer so karg wie die Umgebung, in der Simon und David landen. Aber so wie sich Simon darüber beschwert, dass dieses Leben in Novilla und die Haltung der Menschen so gleichmütig "blutleer", ohne Wollen, ohne Hunger auf was anderes ist, und damit Funken schlägt, so zündet auch Coetzees feiner Humor, wenn seine nüchternen Sätze aufeinandertreffen. Und auf den enormen Resonanzboden des Neuen Testaments prallen.
Da ist etwa die Sache mit den Broten. David will wissen, warum man Geld braucht, um Lebensmittel zu kaufen, warum der Laden bald leer sein würde, wenn man Brot einfach so bekäme. Simon sagt: "Weil du, wenn du x Brote hast und sie alle für umsonst weggibst, dann keine Brote mehr hast und kein Geld, um neue Brote zu kaufen. Weil x minus x gleich null ist. Gleich nichts ist. Gleich Leere ist. Gleich ein leerer Magen ist." Coetzee schafft es, dass man an die Speisung der Fünftausend denkt und sich zugleich amüsiert.

Das Lieblingsbuch von Jesus, also David, ist übrigens "Don Quijote", das andere größte Werk aller Zeiten. Noch so eine Superman-Geschichte, in der der Held ins Schleudern gerät, im Wald zwischen Fakten und Fiktionen.

Buchbesprechung von Anne Haeming | SPIEGEL-ONLINE


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"El Rey" auf der "großen Pferdefarm" im Jenseits ... (S!NEDi|photography)



Leseprobe: 
Er klettert auf die Rampe hinauf. »Armer, armer El Rey!«, murmelt er. Dann bemerkt er das Blut, das im Pferdeohr geronnen ist, und das dunkle Einschussloch darüber und verstummt.
  »Es ist gut«, sagt der Junge. »Er wird in drei Tagen wieder gesund.«
  »Hat dir das der Pferdearzt gesagt?«
  Der Junge schüttelt den Kopf. »El Rey.«
  »Hat dir das El Rey selbst gesagt - drei Tage?«
  Der Junge nickt.
  »Aber es ist nicht nur Pferdegrippe, mein Junge. Das siehst du doch bestimmt selbst. Er wurde mit einem  Gewehr erschossen, als Gnadenakt. Er muss gelitten haben. Er hat gelitten und sie haben beschlossen, ihm zu helfen, seine Schmerzen zu lindem. Er wird nicht wieder gesund. Er ist tot.«
  »Nein, er ist nicht tot.« Tränen laufen dem Jungen die Wangen hinab. »Er kommt auf die Pferdefarm, um sich zu erholen. Das hast du gesagt.«
  »Er kommt auf die Pferdefarm, ja, aber nicht diese Pferdefarm, nicht auf die Pferdefarm hier; er kommt auf eine andere Pferdefarm, in einer anderen Welt. Wo er kein Geschirr tragen und keinen schweren Wagen ziehen muss, sondern auf den Wiesen im Sonnenschein herumlaufen und Butterblumen fressen kann.«
  »Das ist nicht wahr! Er kommt auf die Pferdefarm, um wieder gesund zu werden.  Sie legen ihn auf den Wagen und bringen ihn auf die Pferdefarm.«
  Der Junge beugt sich herab und presst seinen Mund auf eine der riesigen Nüstern des Pferdes. Hastig packt er den jungen beim Arm und zieht ihn weg. »Mach das nicht! Das ist unhygienisch! Du wirst krank werden!«
  Der Junge reißt  sich los. Er weint ganz offen. »Ich werde ihn retten!«, schluchzt er. »Er soll leben! Er ist mein Freund!«
  Er hält den sich sträubenden Jungen fest an sich gedrückt. »Mein liebes, liebes Kind, manchmal sterben die, die wir lieben, und wir können nichts weiter tun, als auf den Tag zu warten, an dem wir alle wieder beisammen sein werden.«
  »Ich  will ihn wieder atmen lassen!«,  schluchzt der Junge.
  »Es ist ein Pferd, es ist zu groß für dich, um es zu beatmen.«
  »Dann kannst du ihn beatmen!«
  »Das wird nicht funktionieren. Ich habe nicht den richtigen Atem. Ich habe nicht den Atem des Lebens. Ich kann nur traurig sein. Ich kann nur trauern und dir trauern helfen. Schnell, ehe es  dunkel wird, warum gehen wir nicht an  den  Fluss hinunter und suchen Blumen, die  wir El Rey bringen können? Das wird ihm gefallen. Er war ein freundliches Pferd, nicht wahr, obwohl er so riesengroß war. Es wird ihn erfreuen, auf der Pferdefarm mit einem Blumenkranz um den Hals anzukommen.«
  So lockt er den Jungen von dem toten Körper fort, führt ihn zum Flussufer, hilft ihm Blumen pflücken und sie zu einer Girlande zu winden. Sie kehren zurück; der Junge drapiert die Girlande über die toten, starren Augen.
  »So«, sagt er. »Nun müssen wir El Rey verlassen. Er hat eine lange Reise vor sich, den ganzen Weg bis zur großen Pferdefarm. Wenn er dort ankommt, werden die anderen Pferde ihn mit seiner Blumenkrone anschauen und zueinander sagen: >Er muss ein König gewesen sein, dort, wo er
herkommt! Er muss der große El Rey sein, von dem wir gehört haben, der Freund von David !<«
  Der Junge ergreift seine Hand. Unter einem aufgehenden vollen Mond marschieren sie auf dem Pfad zum Hafen zurück.
  »Steht El Rey jetzt  auf,  was glaubst du?«, fragt der Junge.
  »Er steht auf, er schüttelt sich, er lässt dieses Wiehern hören, das du kennst, er macht sich auf den Weg, klopp-klopp-klopp, zu seinem neuen Leben. Schluss mit Weinen. Kein Weinen mehr.«
  »Kein Weinen mehr«, sagt der Junge und lebt auf, und zeigt sogar ein kleines fröhliches Lächeln.






J. M. Coetzee:
Die Kindheit Jesu 
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
Verlag S. Fischer;
352 Seiten; 21,99 Euro.

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