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SEHEN, FÜHLEN & ERKENNEN | Psalm 139 | impulse für die woche -125

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Psalm 139

Für die musikalische Aufführung. Von David. Ein Psalm.


Lebendiger, du hast mich erforscht und kennst mich. Du weißt, ob ich sitze oder stehe, du verstehst meine Gedanken von fern. Mein Gehen und mein Liegen – du misst es ab. Mit all meinen Wegen bist du vertraut. Kein Wort ist auf meiner Zunge – Lebendiger, du kennst sie alle. Von hinten und vorn hast du mich umschlossen und deine Hand auf mich gelegt. Wunderbar ist die Erkenntnis für mich, unbegreiflich, ich kann sie nicht fassen. Wohin kann ich gehen vor deinem Geist, wohin fliehen vor deinem Angesicht? Stiege ich hinauf zum Himmel – du bist dort, schlüge ich im Totenreich mein Bett auf – sieh: Du bist da! Nähme ich die Flügel des Morgenrotes und ließe mich nieder am äußersten Rand des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich festhalten.Jemand flieht. Weg, nur weg von hier. Am besten ans Ende der Welt. Immer weiter gehen, bis es nicht mehr geht. Ankommen am äußersten Rand des Meeres. Dann geht es nur noch hinein ins Wasser – oder am Rand entlang. Für die, die leben möchten, ist der Rand der bevorzugte Ort. Eines ist gewiss: diese Grenze entspricht der von Leben und Tod. Es geht um Leben und Tod. Es geht um alles. „Nähme ich die Flügel des Morgenrotes“, spanne die Flügel aus und fliege los, dorthin, wo die Sonne aufgeht, dorthin, von woher jeden Morgen neu die Nacht überwunden wird und ein neuer Tag, ein neues Leben anbricht – Überm Wasser ist der Horizont weit, das Ende der Welt ist weit, dieser Erde, die zum größten Teil mit Wasser bedeckt ist. Spanne die Flügel aus, fliege ins Licht, zum Horizont – hier, an der Grenze zwischen Erde und Wasser, Festem und Beweglichem, Tragendem und Auflösendem, zwischen Leben und Tod kann die Seele weit werden, die Flügel ausspannen und fliegen, mit allem, mit Himmel, Erde, Luft und Meer verschmelzen. Jemand geht los – und kommt an. Gelöst. Sagte ich: Nur Finsternis möge mich verbergen, und Nacht sei das Licht um mich her – auch Finsternis würde vor dir nicht finster sein, und die Nacht würde leuchten wie der Tag, die Finsternis wäre wie das Licht. Ja, du, du hast meine Nieren gebildet, hast mich gewebt im Leib meiner Mutter. Ich danke dir, dass ich auf erstaunliche Weise wunderbar geschaffen bin. Wunder sind deine Taten, meine Lebenskraft weiß darum. Meine Knochen waren nicht vor dir verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde in den Tiefen der Erde. Noch unfertig erblickten mich deine Augen. In dein Buch waren sie alle geschrieben, die Tage, die schon vorgebildet waren, als noch nicht einer von ihnen war. Wie kostbar sind mir deine Gedanken, Gott, wie unermesslich ihre Summe! Wollte ich sie zählen, sie wären mehr als der Sand. Ich erwache und bin immer noch bei dir. Wer flieht, hat einen Grund. Etwas Unerträgliches. Sonst könnte er / sie bleiben. Leid, Schmerz. Und das hat meistens mit Trennung zu tun, Abschied, der Erfahrung von Tod. Welchem Tod auch immer. Im Schmerz wohnt unsere Liebe. Liebe zu geliebten Menschen, Liebe zu sich selbst, Liebe zum Leben, Liebe zu Verhältnissen, Landschaften, Umständen – fliehen heißt: Abschied nehmen von allem. Nur das nackte Leben mitnehmen. Erst ist es finster, traurig. Fühlt sich an wie lebendiges Begrabensein. Ein Schmerz, der wie die Naturgewalten von Ebbe und Flut kommt und geht. Und den wir um Gotteswillen nicht festhalten sollten. Um Gotteswillen. Denn, stetes Hinsehen zeigt: Jeder Moment ist neu. Jeden Moment ist der Himmel neu. Anders. Finsternis ist wie das Licht – es kommt der Tag, der Moment, in dem Schmerz und Freude, Leid und Glück neben einander stehen. Gleichwertig. Da leuchtet auch die Nacht wie der Tag, ist Finsternis wie das Licht. Denn offenbar wird: Ich lebe, du lebst, wir alle leben und gehören zusammen. Wir alle und alles sind Leben. Albert Schweitzer sagt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Aus dieser Tiefe werden Erkenntnisse geboren „du hast mich gewebt im Leib meiner Mutter“… Plötzlich steht die Fülle des Lebens auf: Wie unermesslich sind deine Gedanken, Gott, wollte ich sie zählen, sie wären mehr als der Sand. Wenn du, Gott, die Gewalttätigen töten würdest, wenn die Menschen des Blutes von mir wichen, sie, die mit Hinterlist von dir reden, die sich vergeblich gegen dich erheben. Sollte ich nicht hassen, die dich hassen, Lebendiger, Ekel empfinden vor denen, die gegen dich aufstehen? Mit äußerstem Hass hasse ich sie, zu Feinden sind sie mir geworden. Erforsche mich, Gott, erkenne mein Herz. Prüfe mich und erkenne mein Grübeln. Sieh, ob ich auf einem Weg bin, der kränkt, leite mich auf einem Weg, der bleibt... Eine Hasspredigt am Ende dieses wunderschönen Psalmes? Ich staune. Hass? Was soll das hier? Hass ist nicht in der Liebe. Aber Hass ist verletzte Liebe. Jemand, die oder der hasst, trägt in sich großes Leid, das sich immer wieder Raum schaffen möchte, angesehen und angenommen werden möchte. Jesus, der Rabbi, der Lehrer, der Meister spuckt in die Augen. Ob das dem Blinden wehtat? Doch der Blinde bekommt eine Ahnung, „sieht Menschen wie Bäume umher gehen“. Manches ist schwierig zu erkennen, selbst wenn es einem vor Augen geführt wird. Manchmal sieht man auch den Wald vor lauter Bäume nicht. Das ist ganz normal. Und es muss nicht so bleiben, denn, was uns gegeben ist, ist der Schatz, die Fähigkeit zum Hinsehen. Hinsehen, hinfühlen, mitfühlen, erkennen, die Not sehen und sie liebevoll annehmen. Wir scheitern daran immer wieder, doch das ist kein Grund, sich nicht aufzurappeln und es wieder zu versuchen. Immer wieder. Genau das hat Jesus, der Meister, der Lehrer, der Rabbi, der Auferstandene, der „Christus“ – der Gesalbte gezeigt. Ich sehe, so blind wie ich auch immer sein mag, ich sehe hin. Und bitte Gott um Mitsehen, einsehen: "Sieh, ob ich auf einem Weg bin, der kränkt, leite mich auf einem Weg, der bleibt.“ Auf einem Weg des Lebens, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.

aus einer Predigt von Pastorin Friederike Heinecke im Norddorfer Gemeindehaus (Amrum) vom Sonntag, den 18.08.2013





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In den letzten Tagen erfuhr ich vom frühen und plötzlichen und doch so leidvollen Tod der Ehefrauen zweier alter Freunde bzw. Kollegen: Beide verloren ihre Frauen an Krebs - und diese Frauen waren beide erst knapp 60 Jahre alt ... - und da ist es so schwer zu trösten - und die richtigen Worte zu finden ... Ja - da möchte man zunächst erst einmal mit ihnen einfach "wütend" sein und mit solch einem Gott hadern und brechen, der so etwas "zulässt" - und doch greift dann in gleicher Weise die Erkenntnis Platz, dass Gott mit diesen beiden Männern jetzt im Moment mitweint - und ebenfalls wütend ist - und außer sich ist, vor Trauer und Betrübnis: Er hatte alles gegeben, aber in diesem Leid war dieser Tod auch so etwas wie Erlösung - und gleichzeitig ein Neuanfang: Denn in einer Er-Lösung steckt immer gleichzeitig ein Neu-Anfang ... - in einem Ende der Beginn ...
Das ewige Entrinnen aus dem Leid und aus dem Tod, das ist unsere Gewissheit und Zusage ... Und da bleibt mir nichts anderes, als in Demut mit der Predigt zu sagen: ... 

...was uns gegeben ist, ist der Schatz, die Fähigkeit zum Hinsehen. Hinsehen, hinfühlen, mitfühlen, erkennen, die Not sehen und sie liebevoll annehmen. Wir scheitern daran immer wieder, doch das ist kein Grund, sich nicht aufzurappeln und es wieder zu versuchen. Immer wieder. Genau das hat Jesus, der Meister, der Lehrer, der Rabbi, der Auferstandene, der „Christus“ – der Gesalbte gezeigt. Ich sehe, so blind wie ich auch immer sein mag, ich sehe hin. Und bitte Gott um Mitsehen, einsehen: "Sieh, ob ich auf einem Weg bin, der kränkt, leite mich auf einem Weg, der bleibt.“ Auf einem Weg des Lebens, das leben will, inmitten von Leben, das leben will...


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