Ingeborg Bachmann
Anrufung des Großen Bären
Großer Bär, komm herab, zottige Nacht,
Wolkenpelztier mit den alten Augen,
Sternenaugen,
durch das Dickicht brechen schimmernd
deine Pfoten mit den Krallen,
Sternenkrallen,
wachsam halten wir die Herden,
doch gebannt von dir, und mißtrauen
deinen müden Flanken und den scharfen
halbentblößten Zähnen,
alter Bär.
Ein Zapfen: eure Welt.
Ihr: die Schuppen dran.
Ich treib sie, roll sie
von den Tannen im Anfang
zu den Tannen am Ende,
schnaub sie an, prüf sie im Maul
und pack zu mit den Tatzen.
Fürchtet euch oder fürchtet euch nicht!
Zahlt in den Klingelbeutel und gebt
dem blinden Mann ein gutes Wort,
daß er den Bären an der Leine hält.
Und würzt die Lämmer gut.
's könnt sein, dass dieser Bär
sich losreißt, nicht mehr droht
und alle Zapfen jagt, die von den Tannen
gefallen sind, den großen, geflügelten,
die aus dem Paradiese stürzten.
Gedichtinterpretation "Anrufung des großen Bären" - Ingeborg Bachmann
Die österreichische Schriftstellerin und Lyrikerin Ingeborg Bachmann wurde 1926 in Klagenfurt geboren und verstarb 1973 in Rom an den Folgen eines nicht geklärten Wohnungsbrandes. In Innsbruck, Graz und Wien studierte sie Philosophie. Sie übernahm eine einjährige Gastdozentur für Poetik in Frankfurt am Main. Ihr unabhängiges lyrisches Schaffen hatte oft einen harten Klang bei eindringlicher natürlicher Sprachmelodie.
Das Gedicht „Anrufung des Großen Bären“
wurde 1956 von Ingeborg Bachmann geschrieben. In ihm geht es um die Anerkennung und zugleich "Furcht" vor dem, was das Sternbild des "Großen Bären" hier "verkörpern" soll, was als Metapher, als "magisches" Märchenbild, für "Gott" steht. Diese kindlich-naive "Gottesfurcht" muss sich auflösen in eine erwachsengewordene ernstzunehmende "Frömmigkeit" in der tatsächlichen Wahrnehmung und im ernsthaften Dialog mit Gott - in ein Leben und in eine Ewigkeit mit ihm ...
Diese "Anrufung" oder dieses Gebet richtet sich an einen Gott, den die Menschen infantil verbrämt immer noch fürchten, ihn gleichzeitig aber auch verehren und ihm Opfer bringen und ihm zu Füßen liegen ("man kann ja nie wissen ...") - oder der ihnen mittlerweile einfach "egal" geworden ist.
Schon in der ersten Strophe werden die Attribute eines hier unten tatsächlich lebenden Bären auf dieses "Großer Bär" genannte Sternenbild im Nachthimmel übertragen. Die pelzigen zottigen Aspekte des Bärentieres werden zum "Wolkenpelztier" - und sind dann gleichzeitig die Beschreibungen Gottes - und verwandeln sich mit ihm in „Sternenaugen“ und „Sternenkrallen“ ...
Der "alte Bär" in diesem Gedicht von Ingeborg Bachmann hat zunächst anscheinend zwei unterschiedliche Seiten: einerseits wird er als gebrechlich und schwach beschrieben mit seinen "müden Flanken" und seinen "alten Augen". Doch trotzdem unterschätzen ihn die Menschen nicht wegen seiner scheinbaren Altersschwäche. Er strahlt nämlich andererseits auch eine gewisse Gefahr aus und nötigt distanzierenden Respekt ab - Wachsamkeit - die in den "Hirten", die hier unten ihre Herden vor ihm zu schützen haben, ein tiefes Misstrauen auslöst: Denn dieser "alte Bär" - so wird ihm unterstellt - fährt immer noch - bei Weltkatastrophen - und allem persönlichen Ungemach jedweder Art - jeweils seine "scharfen Krallen" aus und bleckt gleichzeitig seine "halbentblößten Zähne". Denn so wird es ja auch seit altersher - zumindest in den biblischen Geschichten im Alten Testament - kolportiert - und in vielen Dogmen und Lehrsätzen dieser Kirchen hier unten weiter vertreten: Da ist der alte dräuende brummende Zottelgott - der mal mit einem Tatzenhieb ein ganzes Volk von der Palette wischt - auch mal locker einen Holocaust zulässt - und hier und da Flugzeuge vom Himmel kratzt - und gleichzeitig dabei Tränen in seinen alten Bärenaugen hat - und vielleicht auch den "Grauen Star" ...
In der zweiten Strophe Bachmanns beschreibt nun dieser "Bär" - dieser "Gott" - aus seiner Sicht in Metaphern die Menschheit, indem die "Tannenzapfen" zum Symbol für die Wohnstätten auf dieser Welt werden, und die darin lebenden Menschen die Schuppen sind auf diesen Zapfen - nicht mehr und nicht weniger. Und der BärenGott benutzt die Erde und die darauf lebenden Menschen als lustiges Spielzeug: denn diese "Zapfen" rollt er lustvoll hin und her und treibt sie - er benutzt sie zu einer Art immerwährendem Kegelspiel: „Schon wieder fallen alle Neune“ bzw. „Acht ums Vorderholz“: Er schnaubt sie an, beleckt sie, und packt sie mit seinen Tatzen... - also eher zufällig - grad so wie es ihm gefällt - völlg willkürlich ...
Mit der Passage „von den Tannen im Anfang zu den Tannen am Ende“ ist nun diese "imaginäre Kegelbahn" beschrieben - vom „A&O“, von Alpha zu Omega - von Anfang hin zum Ende - : also ein immerwährendes ewigliches Spiel und Hin- und Hergerolle und -geschiebe - und auch vom Anfang bis zum Ende aller Tage ...
Die erste Zeile der dritten Strophe nimmt nun direkt etwas zurück von dieser beschriebenen kollektiven ebenfalls naiv anmutenden furchteinflößenden Bärenwillkür, denn der autonome, mündige Mensch soll nun selbst entscheiden: „Fürchtet euch - oder fürchtet euch nicht ...“.
Dieser da heraus zu kristallisierende Begriff "Gottesfurcht" ist heutzutage abgelöst durch den Begriff "Frömmigkeit": "Gottesfürchtige" werden im Neuen Testament als "die Frommen" umschrieben - und diese "Frömmigkeit" hat weniger bis nichts mit "Fundamentalismus" zu tun - eher mit dem Gegenteil, nämlich mit der Freiheit, die im Glauben liegt. Und diese Art "furchtüberwindende" Frömmigkeit bedeutet, den Gott anzunehmen wie er sich und uns gibt - als Partner auf einer Ebene - sozusagen "in Augenhöhe": "Ich bin - der ich bin" - [und folglich bist Du, der Du bist...]. Ihn - Gott, der mitten in unsere Welt gekommen ist, und nicht mehr als funkelndes Sternenbild vom "Großen Bären" auf uns hinunterzwinkert... Nein - er weilt unter uns - als Gott oder "Christus in uns" (Kol 1,27). Und das bedeutet innere Erneuerung, Abschied von den magischen Symbol- und Märchenbildern - hin zu einem gegenseitigen und gegenwärtigen emanzipierten Erwachsensein im Gottesglauben ...
Ingeborg Bachmann zeigt uns weiter, inzwischen ziemlich zynisch, wie in unserem Alltag diese Gottesfürchtigkeit - respektive "Frömmigkeit" - hier unten normalerweise gelebt wird: Mit einem "in den Klingelbeutel" zahlen - oder mit einem "...gebt dem blinden Mann ein gutes Wort..." ... - das sind ja diese doch auch sicherlich benötigten und aller Ehren werten - aber auch auf Dauer ausgelutschten - "guten Taten" und "Ehrenämter", mit denen nichts als das eigene Gewissen beruhigt werden soll - und was denn - ebenfalls noch immer naiverweise - zu ein paar "Fleiß- und Gutsternchen" hinter dem eigenen Namen in der Buchhaltung des Himmels hinzuführen soll - eben um damit diesen unsäglichen "Bären an der Leine" zu halten - und um so die Opferlämmer, die für ihn geschlachtet werden, gut zu würzen...
Gott selbst wird von Ingeborg Bachmann ebenfalls als "der blinde Mann" dargestellt, der nicht sehen soll, dass die Menschen hier unten mit ihm gar nicht so viel oder auch gar nichts mehr am Hut haben. Gott wird mit diesen Almosen und Gebeten und Gutmenschen und Guttaten einiger Weniger abgespeist - und ihm damit Sand in die Augen gestreut, damit er erblindet und geblendet wird, um ihn so - ausrechenbar und mit ein paar Schmankerln - in Schach zu halten - denn für die meisten ist dieser Bär leider immer noch "der Andere" - der Jenseitige - so unbekannt, dass man ihn am liebsten wie den "Pawlowschen Hund" abrichten möchte: allez-hopp - damit er durch den Reifen hopst...
Aber wenn von hier unten so viel Sand in die alten „Sternenaugen“ geschmissen wird, da wird es höchste Zeit, dass es uns endlich wie Tannenzapfenschuppen von den Augen fällt ...: Wir können diesen Gott nicht so am Nasenring führen wie einen alten zerzottelten Tanzbären - wir können auch nicht mit ihm am laufenden Band immer wieder Kegeln gehen - wir müssen ihn endlich ernst nehmen - - ganz ernst nehmen - denn nur dann nimmt er auch uns ernst ... Dann hört diese Hin- und Hergerolle mit uns als Tannzapfen endlich auf - und mit so ein bisschen Futter aus dem Blechnapf oder hier und da mit einem "Leckerli" aus der Hosentasche ist es nicht mehr getan: Gott formt unser Gewissen - unser Ich - er wohnt in uns - er lässt unsere Herzen schlagen - er spricht mit uns: Aber auf dem Spielplatz oder auf der Kegelbahn oder im fernen Sternenhimmel kann man Gott nicht heutzutage nicht weiterhin verorten ...
Und dann - zum Schluss - dräut Ingeborg Bachmann halb im Scherz mit dem Finger und mit der letzten Konsequenz aus der Anfangsmetapher: "'s könnt sein," flunkert sie - "dass dieser Bär sich losreißt," - und dann nicht - wie wir dachten - weiter mit den Tannzapfen herumkegeln und spielen will, sondern einen alten Jagdinstinkt aktivieren muss - dass die Stimmung kippt ... - Und Bachmann kündigt mit dem drohenden Zeigefinger und verkniffenem Lächeln hinter vorgehaltener Hand an - um nicht unvermittelt loszuprusten : 's könnt nämlich sein, sagt sie, dass die Zapfen von den großen geflügelten Tannen plötzlich gejagt werden, weil sie damals aus dem Paradiese gestürzt sind ... - Und "schwupps" - dann ist der olle Kasper tot ... - aber die Kinder in der Vorstellung im Hier & Jetzt werden schreien, pfeifen und trampeln: So einfach - in Rache und Tränen - endet kein Stück mehr - so wie früher: Denn beim heutigen Kasper siegt am Ende immer das Gute - und das Gretl ...
Ach ja - so einfach könnten wir hiermit unser Verhältnis zu Gott stricken: Aber wir haben uns zu fragen: Wann werden wir vielleicht endlich erwachsen, endlich gleichwertig - endlich emanzipiert - in einem gegenseitigen Ineinander: Es wird Zeit - alter Bär: "Wir müssen miteinander reden. - Gott" ...
Anregungen | Bildmaterialien: S!NEDi | www.gott.net