„Sie war Sozialistin, Feministin, Filmkritikerin und eine Art Sagen-wir-es-wie-es-ist-Mensch. Sie lernte Englisch, indem sie Theater besuchte, und sie liebte das Theater. Sie trug ein Herrenjackett, Herrenschuhe und meistens einen großen Hut. Sie machte ständig Fotos und zeigte sie niemandem.“
– John Maloof
Vivian Maier
(* 1. Februar 1926 in New York City; † 21. April 2009 in Chicago) war eine amerikanische Amateur-Straßenfotografin.Sie zog 1956 in die nördlichen Vororte von Chicago in der Metropolregion Chicago und arbeitete in den folgenden 40 Jahren als Kindermädchen, davon 14 Jahre bei einer einzelnen Familie.
Ihre Fotografien blieben unbekannt und die meisten ihrer Filme unentwickelt, bis sie von John Maloof, einem Chicagoer Heimatforscher im Jahr 2007 bei einer Zwangsversteigerung entdeckt wurden. Die Würdigung von Maiers Werk begann erst nach ihrem Tod. Seither sind ihre Bilder in Zeitschriften in Italien, Argentinien und England erschienen und wurden in Gruppenausstellungen in Dänemark und Norwegen gezeigt. Maiers erste Einzelausstellung wurde am Chicago Cultural Center von Januar bis April 2011 gezeigt. Erstmals in Deutschland zu sehen waren ihre Fotografien in der Hamburger Galerie Hilaneh von Kories von Januar bis April 2011, von Oktober bis Dezember 2011 wurden sie im Amerika-Haus in München gezeigt.
(WIKIPEDIA)
Höhepunkt des Details
Jerry Saltz über den Film
"Finding Vivian Maier"
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Filmstill aus "Finding Vivian Maier", USA 2014, Regie: John Maloof, Charlie Siskel, © Vivian Maier/Maloof: "Self-Portrait", 5. Mai 1955 |
Die Geschichte wirkt fast zu gut, um wahr zu sein: Eine der großartigsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts, deren allesverschlingender, hyperempfänglicher Blick sich mit jedem Kameravisionär messen kann, war bis 2007 völlig unbekannt. Damals ersteigerte ein junger Mann aus Chicago namens John Maloof, der nach Bildmaterial für ein Buch über einen Stadtteil in Chicago suchte, auf einer Autkion eine Kiste mit Fotonegativen einer gewissen Vivian Maier – 380 Dollar zahlte er für ihre 30.000 bis 40.000 Bilder aus den 50er- bis 70er-Jahren. Für sein Projekt erwiesen sie sich zwar als unbrauchbar, doch dafür erschlossen sie eine ganz neue Welt. Ein Star war geboren. Dass zufällig gerade dieser Käufer auf dieser Auktion über diese Bilder stolperte, einer, der die Mittel und die Hingabe besaß, der Lebensgeschichte dieser außergewöhnlichen Frau nachzugehen, kann man fast schicksalhaft finden.
In ihrer fesselnden, 83-minütigen Dokumentaton „Finding Vivian Maier“ folgt man nun Maloof und Co-Regisseur Charlie Siskel auf ihrer Spurensuche und bekommt einen Einblick in Maiers kreatives Universum, wie sie tickte, wie sie arbeitete. Ein Großteil des Films beruht auf nüchternen Interviews mit ihren ehemaligen Arbeitgebern, die wiederum mit schönen Bildern belegt werden. Man sieht Maloof, wie er die zahllosen Bilder auf dem Fußboden ausbreitet, er beschreibt die Versuche, Maier zu finden. Und er zeigt dazu jede Menge ihrer wundervollen Fotografien. Als Kindermädchen in Chicago hatte Maier stets Anstellungen, in denen sie versorgt war und sich dabei um ihre Kunst kümmern konnte. Sie wurde so zu einer Dienerin ihrer Gabe, sie widmete ihren ganzen Diensteifer ihrer eigentlichen Leidenschaft.
Maiers Geschichte ist spannend und voll Pathos. 1926 in New York geboren, begann sie 1949 mit einer einfachen Eastman Kodak-Brownie zu fotografieren. Schon drei Jahre später brachte sie sich mit einer Rolleiflex auf den Stand der damaligen Technik und stürzte sich damit in ihre Berufung. Sie knipste überall, oft auf der Straße, aber auch in Läden, am Strand und auf Fähren, sie fotografierte ihr Zimmer, Kinder, sich selbst, ununterbrochen bis zu ihrem Tod 2009.
Fast niemand wusste davon. Sie hamsterte Berge von Dingen und füllte ihre Zimmer damit. Die Interviewpartner beschreiben eine seltsame, schroffe, fast aspergerartige Persönlichkeit, eine Frau mit entschlossenem Schritt, die beim Gehen die Arme schwang wie beim Marschieren. Sie war nicht leicht einzuschüchtern, und sie nahm die Kinder, die man ihr anvertraute, überall hin mit - mindestens einmal sogar in ein Schlachthaus, wo sie sie fotografierte. Sie ist hochgewachsen, auf unglamouröse Weise hübsch, und sie kleidete sich unauffällig, oft altmodisch. Die Kamera hing ihr ständig um den Hals, auch bei der Arbeit mit den Kindern. Sie reiste allein durch die Welt, fotografierte dabei ständig und machte dazu noch Film- und Tonaufnahmen. 1976 wechselte sie mehr oder weniger dauerhaft von Schwarz/Weiß zu Farbe. Abzüge ihrer Aufnahmen machte sie nur selten, aber sie verwahrte sie sorgfältig. Sie hat niemals ausgestellt.
Maloof widmet sich ganz dem Sammeln ihrer Arbeiten. Seit er den ersten Schwung ersteigerte, ist sein Archiv auf fast 150.000 Negative angewachsen. Das beweist Maiers erstaunliche künstlerische Produktivität und Leidenschaft. Es belegt aber auch die außerordentliche Qualität ihrer Bilder. Sie halten ohne weiteres dem Vergleich mit den Großen stand, mit Künstlern wie Cartier-Bresson, Lisette Model, Robert Frank, André Kertesz, Diane Arbus, Richard Avedon, Walker Evans, Gary Winogrand, Richard Avedon und Weegee, an die sie gelegentlich auch erinnert.
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Vivian Maier - Fotos | Quelle: http://hosergraphics.com/blog/the-story-of-vivian-maier-20th-century-photographer/ |
Die Rolleiflex — eine zweiäugige Spiegelreflexkamera – war offenbar instrumental und hilfreich, Maiers künstlerische Kraft zu entfesseln. Im Film erklärt der Fotograf Joel Meyerowitz, dass man die Kamera nicht wie die einäugigen Modelle dramatisch, ostentativ und bedrohlich vors Gesicht halten muss. In den Sucher der Rolleiflex schaut man vielmehr von oben, und man hält sie bei der Justierung von Schärfe und Ausschnitt auf Hüfthöhe. Auf diese Weise konnte sich Maier ihren Objekten nähern, ohne dass diese es bemerkten, unaufdringlich, ohne allzu forsche Geste. Das erklärt die gelegentlich bildfüllende Nähe zu ihren Gegenständen. Durch das quadratische Bildformat der Rolleiflex fällt die übliche Hierarchie in der Komposition, von oben nach unten, von links nach rechts weg. Daher fehlt hier auch der Sinn für die gängigen Formate von Landschafts- oder Porträtfotografie; die Welt erscheint stattdessen stets als seltsam künstliches Quadrat. Das verstärkt die Direktheit, Intensität und Beharrlichkeit von Maiers Blick. (Wie übrigens auch bei Diane Arbus, die unter anderem auch eine Rolleiflex benutzte.)
Maiers Welt erscheint zugleich monumental und eintönig. Manchmal lauert sie ihren Objekten offenbar auf, sie erwischt Menschen beim Aussteigen aus Bussen, auf U-Bahntreppen, beim Verlassen von Läden. Sie erfasst die Menschen mitten in der Bewegung. Zugleich aber verleiht sie ihnen eine irgendwie fast klassische Statur, sie wirken nicht flüchtig, sondern konkret, selbstverständlich, sterblich. Beim Betrachten ihrer Bilder läuten die Kirchenglocken; man wird Zeuge von etwas Großem. Proust spricht vom „Höhepunkt des Details“. Genau den sieht man hier. Maiers Werk bekommt dadurch psychologisches und philosophisches Gewicht, man erlebt einen Moment eindringlichster Beobachtung. Zugleich blickt sie als Außenseiterin auf die Welt. Sie schaut zu, verfolgt still und registriert aufmerksam die kleinsten Störungen im visuellen oder psychischen Feld. Sie zeigt einen Zeitungshändler, der inmitten von Magazinen und Zeitungen in seinem Kiosk eingeschlafen ist – und gibt so dem Schläfer gleichsam einen Traum. In den Vordergrund rückt die Ahnung vom Wert des Lebens.
Mahnola Dargis, die ansonsten ausgezeichnete Kritikerin der "New York Times", nannte die Dokumentation mit ungewohnter Grobheit eine „spielfilmlange Werbung für Maloofs kommerzielles Interesse als Alleinbesitzer ihres Werks.“ Eine solche zynische Schroffheit fällt mir in letzter Zeit öfter unter Kritikern auf – sobald irgendeine Art von Profit ins Spiel kommt, wird ein Werk automatisch verdächtig, weniger gut und rein. Wie dem auch sei: Ich liebe diese Werbung. Nebenbei: Maloof hat versucht, das MoMA für Maiers Arbeiten zu interessieren. Im Film zeigt und zitiert er die routinierte Absage, die ihm das Museums schrieb. Er war also auf sich allein gestellt. Niemand außer ihm wollte sich der Verantwortung stellen, diese wahrhaft große Küstlerin zu entdecken und ins Rampenlicht zu führen. Die Geschichte wird es ihm danken, und niemand sollte diese Hingabe an Vivian Maier zynisch kleinreden.
"Finding Vivian Maier" kommt am 26. Juni auch in die deutschen Kinos. Mehr über Vivian Maier und den Film lesen Sie hier und hier und hier...
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