Da habe ich aber mal mit der Lektüre des "Freitag"-Porträts von Jan Drees - diesmal mit dem Akzelerationisten Armen Avanessian aus Berlin - eigentlich ganz zufällig [aber: gibt es "Zufälle"überhaupt ...???] mitten ins Schwarze treffen dürfen:
Als "Old-Man-Nerd" wurde ich zunächst vertraut gemacht mit der Indiemusikgruppe "Ja, Panik" und dem Album DMD KIU LIDT, das sie 2011 herausgebracht haben ... - über das ich gestern berichtet habe - und das mir via einem "Berliner-Zeitung"-Interview mit dem Sänger Andreas Spechtl zunächst den dort beschriebenen Begriff eines "Alte-Männer-Nerdtums" näherbrachte ... [... das "Alte-Männer-Nerdtum" manifestiert sich dadurch, das der alte Mensch - ich schätze mal so Mitte 60 - eben so wie ich - "sich auf Fährtensuche begibt und sich daran aufgeilt, wenn er ein Zitat gefunden hat, in das man was hineininterpretieren kann" ...] - also mit diesem für mich neuen Begriff "Old-Man-Nerd" habe ich erstmals einen meinem Alter angemessenen zeitgemäßen wegweisenden Identitäts- und Zugehörigkeits-Begriff zugewiesen bekommen - in dem ich mich wahrhaft "Zuhause" fühle... Wenn ich also endlich "Zuhause" angekommen bin - nach langem ziellosen Fahnden und Irren - kann ich ja eigentlich nur dankbar sein ...
Aber - das Avanessian-Interview entfaltet sich ja genau genommen erst nach dieser Hipster-Einleitung: Da erscheinen dann sperrige Sätze wie von Globalisierungsskeptizisten Franco „Bifo“ Berardi: „Die Hypothese des #Akzelerationismus beruht im Wesentlichen auf zwei Argumenten: Erstens auf der Annahme, dass der Kapitalismus durch die immer schnellere Abfolge von Produktionszyklen instabil wird; zweitens auf der Annahme, die im Kapitalismus enthaltenen Potenziale müssten sich notwendigerweise entfalten.“
Oder: „Wie kann 2014 auf das Tempo des Kapitalismus reagiert werden, außer mit Drehschwindel? Fragen wie diesen nähern sich Autoren aus dem Umfeld des Spekulativen Realismus wie Nick Land, Alex Williams, Nick Srnicek und eben Armen Avanessian, 1973 geboren, studiert bei Jacques Rancière in Paris, promoviert in Bielefeld bei dem liberal-konservativen Theoretiker Karl Heinz Bohrer“...
S!NEDi: die ontologie des denkens ... |
Und jener Avanessian spricht über die Poetik des Präsens, über Phantome des Realen, über das „dringende Bedürfnis nach einem neuen Realismus“ und natürlich über „Spekulative Poetik - diese neue Tabula-Rasa-Richtung will das sprachfundierte poststrukturale Denken der vergangenen Jahrzehnte mit dem zeitgenössischen Denken an Ontologie verknüpfen“... - Ach so ...
Und ich hoffe - Sie verstehen noch, über was da verhandelt und porträtiert wird - denn für mich nun als Old-Man-Nerd apostrophierten Zeitgenossen (s.o.) „gilt nicht mehr, dass die Grenzen unserer Sprache einfach die Grenze unseres Denkens sind. Vielmehr ist es so: Je komplexer unsere rekursiv strukturierte Sprache ist, desto mehr Realität kann sie fassen – und umgekehrt. Das ist die Grundidee einer Sprachontologie“ ... Nee - is klar ...
Und - so wird betont - begegnet einem in diesen akzelerationistischen Kreisen auch beständig das #Hashtag-Zeichen als #Zeichen von Beschleunigung, dem Neuen, und als Zeichen der digitalen Vernetzung. Es gibt Kollegen, die den Akzelerationismus gerade deshalb doch tatsächlich einfach in die Hipsterecke abschieben wollen - doch da sei Armen Avanessian vor: „...schließlich schreibe ich auch literaturtheoretische Monografien oder sprachphilosophische Studien, die eben nicht hip sind...“. Hört - hört ...
So schreibt er beispielsweise völlig unhip und allgemeinwissend: „Jeder, der seine Augen und Ohren nicht mutwillig verschließt, durchschaut die strategische Motivation hinter dem gegenwärtigen finanzpolitisch opportunen Krisengefasel. Es handelt sich um einen Vorwand für die ständige Ausweitung neoliberaler Maßnahmen (im Finanzbereich, im Gesundheitsbereich, im Sicherheitsbereich).“ Womit er - über alle Grenzen hinweg - einfach nur recht hat ...
Ja - das schreibt eben Armen Avanessian in dem Sammelbändchen "#Akzeleration" auch - und entwirft gemeinsam mit seinen Kollegen alternative, spekulierende Ideen über die Zukunft ...
Fetischisierung von Offenheit, Horizontalität und Inklusion
Im Mittelpunkt des Merve-Bandes "#Akzeleration" steht aber das „Manifest für eine akzelerationistische Politik“ (Link zur übersetzen Fassung), das im Sommer 2013 online von Nick Srnicek und Alex William publiziert wurde.
Darin wird nicht viel gehalten von der totalen Demokratisierung, der "Fetischisierung basisdemokratischer Prozesse", wie sie zunächst die Grünen - und dann jüngst auch die SPD mit ihrer Mitgliederbefragung zum Koalitionsvertrag - [Erstere - zugegeben - oft bis zum basisdemokratischen Erbrechen] durchgeführt haben ... Zur Formulierung einer politisch-ideologischen Vision tragen solche Prozeduren in der Regel nichts bei. Im Gegenteil: Die Fetischisierung von Offenheit, Horizontalität und Inklusion seitens der Mehrheit der Linken habe erst die Voraussetzungen für ihre Wirkungslosigkeit geschaffen: „Zum wirksamen politischen Handeln gehören ebenfalls (wenn auch selbstverständlich nicht nur) Geheimhaltung, Vertikalität und Exklusion“, heißt es an einer entscheidenden Stelle des Manifestes... Ohne eine vernünftige Basisdemokratie und Emanzipation in den politischen Gruppierungen und Gremien jemals tatsächlich gelebt zu haben, redet man nun also wieder dem Vertuschen, der Geheimnistuerei, der Ausgrenzung und dem Geklüngel im Hinterzimmer das Wort ...
Ja - und mein nun einsetzendes wachsendes Unbehagen - und mein nun emporschnellendes Misstrauen in diese verwirrenden Theorieknäuel erhalten dann auch rasch in dem "Freitag"-Porträt ihre Erklärung: Die "Akzelerationisten" und "Spekulativen Poetik"-Protagonisten "denken anders als althergebrachte, von 68 beeinflusste Linke..." - die nun mal wieder hinter dem "Zeitgeist" hinterherhinken ...
Und ich spüre meinen "blinden Fleck" im Hirn: Ich kann ihnen eben ganz einfach aufgrund meiner biologischen Voraussetzungen gar nicht mehr folgen - das ist der Punkt ...: Es sind Ideen, die bei einer neuen Art des Denkens anfangen wollen, das, was wir für wahr erachten, auf den Kopf stellen, mit Aussagen wie von Ray Brassier aus dem ebenfalls von Armen Avanessian herausgegebenen Band "Abyssus intellectualis": „Die Auslöschung der Sonne ist eine Katastrophe, eine zum Niedergang führende oder überwältigende Wendung (kata-strophé), weil sie den terrestrischen Horizont jeder zukünftigen Möglichkeit ausradiert, in Bezug auf die sich die menschliche Existenz und mithin das philosophische Fragen orientiert haben" ... ... Wow ...
Und doch sind all diese Spekulationen und Theorie-Entwicklungen verwandt mit Äußerungen des so gar nicht von Hashtag-Akzelerationisten zu vereinnahmenden kürzlich plötzlich verstorbenen FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, der in seinem "Payback"-Buch schreibt: „Es gibt Äonen von Gedanken, die wir in dieser Sekunde mit einem einzigen Knopfdruck abrufen können. Aber kein Gedanke ist so wertvoll und so neu und schön wie der, dessen erstes Flügelschlagen wir gerade jetzt in unserem Bewusstsein hören.“
Und der mittlerweile olle Rudi Dutschke hatte wenigstens noch erkannt, dass die Theorien die "linken proletarischen Massen" erreichen müssen - alles andere ist dann doch nur eitle Wort- und Begriffsmasturbation in der abgeschirmten Leseecke in der Uni-Bibliothek ... - meint S!NEDi - and this is an old man nerd ...
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