PAPST FRANZISKUS - Neues Interview
Über Pädophilie - und das allmähliche Ende des Zölibats: Es gibt Lösungen und ich werde sie finden ...
Was kommt heraus, wenn ein Atheist den Papst interviewt? Ein Gespräch, in dem der oberste Hirte sein eigenes Haus kritisiert – und Tabus infrage stellt.
Ausschnitte aus einem Interview von EUGENIO SCALFARI vom 10.Juli 2014
EUGENIO SCALFARI ist Journalist, Politiker und Romanautor. Er, der Atheist, hat schon mehrmals mit Papst Franziskus gesprochen.
....................
Sprechen wir also über die Pädophilie.
"Der Missbrauch eines Kindes ist das Schrecklichste und Schmutzigste, was man sich denken kann", sagt er, "vor allem wenn, wie aus Berichten hervorgeht, die ich selbst überprüft habe, diese abscheulichen Vergehen sich größtenteils innerhalb der Familien abspielen oder zumindest in eng vertrauten Gemeinschaften. Die Familie müsste die heilige Stätte sein, in der das zunächst kleine, dann etwas größere und schließlich adoleszente Kind in Liebe zum Guten erzogen und zum Heranwachsen ermutigt wird. Die Kinder sollten dort Anregung zur Bildung der eigenen Persönlichkeit und Gelegenheit zur Begegnung mit Gleichaltrigen finden. Zusammen spielen, zusammen lernen, die Welt und das Dasein zusammen erleben. Das gilt für die Gleichaltrigen. Doch für die Eltern, die sie zur Welt gebracht haben, oder für jene, die sie zur Welt kommen sahen, sollte es sein, als pflegten sie eine Blume, ein ganzes Beet voller Blumen, das man vor Unwetter schützen und von Ungeziefer fernhalten muss. Man erzählt ihnen Märchen vom Leben und erklärt ihnen nach und nach dessen Wirklichkeit. Dieserart sollte die Erziehung sein, die sodann von der Schule ergänzt und von der Religion auf die Ebene des Denkens gehoben wird und sie für das göttliche Empfinden empfänglich macht, wenn es sich in den Seelen regt. Oft verwandelt sich dieses in echten Glauben, doch in jedem Fall hinterlässt es einen Samen, der die Seele in gewisser Weise befruchtet und sie zum Guten wendet."
Er sagt das zu mir, doch es ist, als redete er mit sich selbst, während er dieses Bild der Hoffnung zeichnet. Vielleicht, antworte ich, gehe es ja größtenteils tatsächlich so zu. Er sieht mich an mit Blicken, die hart und traurig geworden sind.
"Nein, leider ist das nicht der Fall. Jeder ist mit seinen Angelegenheiten beschäftigt, oftmals um der Familie einen angenehmen Lebensstandard zu ermöglichen, manchmal um des persönlichen Erfolgs willen. Die Erziehung als erste Pflicht gegenüber den Kindern scheint geradezu aus den Häusern geflohen zu sein. Dies ist eine schlimme Unterlassung, aber damit haben wir das größte Übel noch nicht erfasst. Wenn es nämlich nicht bei der unterlassenen Erziehung bleibt, sondern der Missbrauch hinzukommt, das Laster, jene abscheulichen Handlungen, denen schon kleine Kinder ausgesetzt sind und die immer aggressiver und einschlägiger ausfallen, je mehr die Kinder heranwachsen und zu Halbwüchsigen werden. Es kommt in den Familien sehr häufig vor, dass Kinder missbraucht werden, von den Vätern, den Großvätern, Onkeln, Freunden. Oft wissen die anderen Familienmitglieder sehr wohl Bescheid, doch sie schreiten nicht ein, weil anderweitige Interessen und Schändlichkeiten sie davon zurückhalten."
Sie haben also den Eindruck, dass dieses Phänomen [der Pädophilie] weit verbreitet ist?
"Leider ist es das, und es tritt meist gemeinsam mit anderen Lastern auf, wie dem Drogenkonsum."
Und die Kirche? Was tut die Kirche?
"Die Kirche bemüht sich, dieses Laster zu bekämpfen und die Erziehung wiederherzustellen. Doch wir haben diese Seuche auch im eigenen Haus."
Sind die Fälle häufig?
"Viele meiner Mitarbeiter, die mit mir diesen Kampf führen, versichern mir, gestützt auf glaubhafte Daten, dass die Pädophilen unter den Klerikern zwei Prozent ausmachten. Diese Auskünfte sollen mich beruhigen, aber sie beruhigen mich keineswegs. Ich halte das vielmehr für sehr schlimm. Diese zwei Prozent Pädophile sind Priester oder gar Bischöfe und Kardinäle. Und ein weiterer Teil, viel größer an der Zahl, weiß es und schweigt, man verteilt Strafen, aber ohne den Grund dafür zu nennen. Ich halte diesen Zustand für unhaltbar, und ich habe die Absicht, ihm mit der ganzen Härte zu begegnen, die er fordert."
Ich erinnere den Papst daran, dass er in einem unserer vorhergehenden Gespräche zu mir gesagt hatte, Jesus sei zwar der Inbegriff der Sanftheit, aber er habe nach dem Stock gegriffen, um ihn auf den Rücken der Gauner niedersausen zu lassen, die den Tempel moralisch besudelten.
"Ich zitierte aus den Evangelien von Markus und Matthäus. Jesus liebte alle, selbst die Sünder, die er erlösen wollte, indem er ihnen vergab und sich ihrer erbarmte, doch wenn er den Stock zur Hand nahm, tat er das, um den Dämon zu vertreiben, der sich ihrer Seelen bemächtigt hatte."
Die Seele des Sünders – auch das sagten Sie mir in unserem vorigen Gespräch – wird selbst dann gerettet werden, wenn er erst im allerletzten Augenblick bereut; er wird dennoch Gnade finden.
"Das stimmt, das ist unsere Lehre und der Weg, den Christus uns gewiesen hat."
Aber es könnte doch sein, dass der eine oder andere Sünder das nur aus Berechnung tut. Er könnte ebendeshalb bereuen, um im Jenseits gerettet zu sein. Wäre ihm die Gnade in diesem Fall auf den Leim gegangen?
"Gott der Herr weiß es und urteilt. Seine Gnade ist grenzenlos, aber sie wird niemandem auf den Leim gehen."
Es gibt da einen grundsätzlichen Punkt, den ich klären möchte. Sie haben vielfach betont, dass Gott uns mit einem freien Willen ausgestattet habe. Nun, es kommt ja auch vor, dass wir Böses tun in der festen Überzeugung, dass daraus am Ende etwas Gutes entstehen werde. Wie steht das Christentum zu diesen Fällen?
"Das Gewissen ist frei. Wenn einer das Böse wählt in der Überzeugung, dass daraus ein Gutes entsteht, so werden seine Absicht und deren Folgen droben im Himmel beurteilt werden. Wir können dazu nicht mehr sagen, weil wir nicht mehr wissen. Die Gesetze Gottes werden von Gott geschaffen, nicht von seinen Kreaturen. Das Einzige, was wir wissen, weil Christus es uns gesagt hat, ist, dass Gottvater alle seine Kreaturen kennt und ihm nichts verborgen bleibt. Im Übrigen wird dieses Thema im Buch Hiob bis auf den Grund beleuchtet. Man müsste sich auch andere Bücher der Bibel daraufhin genauer ansehen, das Buch der Weisheit und die Evangelien dort, wo von Judas Ischariot die Rede ist. Das sind fundamentale Themen unserer Theologie."
Und auch der modernen Kultur, die ihr von Grund auf verstehen möchtet und an der ihr euch messen wollt.
"Das ist wahr. Dies war ein Hauptanliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils, wir sollten das so schnell wie möglich angehen."
.............
Ich stelle ihm noch eine letzte Frage: Sie arbeiten darauf hin, die katholische Kirche mit den anderen Kirchen, der orthodoxen, der anglikanischen, zu vereinen ...
Er unterbricht mich und fügt hinzu: "Und mit den Waldensern, die ich für eine Religion ersten Ranges halte, mit den Pfingstgemeinden und natürlich auch mit unseren jüdischen Brüdern."
Viele Priester oder Pastoren dieser Kirchen seien legal verheiratet, wende ich ein. Wird dieses Problem die römische Kirche nicht im Laufe der Zeit mehr und mehr belasten?
"Vielleicht ist Ihnen nicht bekannt, dass der Zölibat erst im 10. Jahrhundert eingeführt wurde, also 900 Jahre nach dem Tode Jesu Christi. In den katholischen Ostkirchen gibt es für die Priester auch heute noch die Möglichkeit zu heiraten. Das Problem existiert natürlich, aber es ist nicht von großer Bedeutung. Es braucht seine Zeit, aber es gibt Lösungen, und ich werde sie finden."
Quelle: ZEIT ONLINE - Aus dem Italienischen von Sabina Kienlechner
© "La Repubblica"
Über Pädophilie - und das allmähliche Ende des Zölibats: Es gibt Lösungen und ich werde sie finden ...
Was kommt heraus, wenn ein Atheist den Papst interviewt? Ein Gespräch, in dem der oberste Hirte sein eigenes Haus kritisiert – und Tabus infrage stellt.
Ausschnitte aus einem Interview von EUGENIO SCALFARI vom 10.Juli 2014
EUGENIO SCALFARI ist Journalist, Politiker und Romanautor. Er, der Atheist, hat schon mehrmals mit Papst Franziskus gesprochen.
Papst Franziskus (li.) und Eugenio Scalfari (re.) |
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Sprechen wir also über die Pädophilie.
"Der Missbrauch eines Kindes ist das Schrecklichste und Schmutzigste, was man sich denken kann", sagt er, "vor allem wenn, wie aus Berichten hervorgeht, die ich selbst überprüft habe, diese abscheulichen Vergehen sich größtenteils innerhalb der Familien abspielen oder zumindest in eng vertrauten Gemeinschaften. Die Familie müsste die heilige Stätte sein, in der das zunächst kleine, dann etwas größere und schließlich adoleszente Kind in Liebe zum Guten erzogen und zum Heranwachsen ermutigt wird. Die Kinder sollten dort Anregung zur Bildung der eigenen Persönlichkeit und Gelegenheit zur Begegnung mit Gleichaltrigen finden. Zusammen spielen, zusammen lernen, die Welt und das Dasein zusammen erleben. Das gilt für die Gleichaltrigen. Doch für die Eltern, die sie zur Welt gebracht haben, oder für jene, die sie zur Welt kommen sahen, sollte es sein, als pflegten sie eine Blume, ein ganzes Beet voller Blumen, das man vor Unwetter schützen und von Ungeziefer fernhalten muss. Man erzählt ihnen Märchen vom Leben und erklärt ihnen nach und nach dessen Wirklichkeit. Dieserart sollte die Erziehung sein, die sodann von der Schule ergänzt und von der Religion auf die Ebene des Denkens gehoben wird und sie für das göttliche Empfinden empfänglich macht, wenn es sich in den Seelen regt. Oft verwandelt sich dieses in echten Glauben, doch in jedem Fall hinterlässt es einen Samen, der die Seele in gewisser Weise befruchtet und sie zum Guten wendet."
Er sagt das zu mir, doch es ist, als redete er mit sich selbst, während er dieses Bild der Hoffnung zeichnet. Vielleicht, antworte ich, gehe es ja größtenteils tatsächlich so zu. Er sieht mich an mit Blicken, die hart und traurig geworden sind.
"Nein, leider ist das nicht der Fall. Jeder ist mit seinen Angelegenheiten beschäftigt, oftmals um der Familie einen angenehmen Lebensstandard zu ermöglichen, manchmal um des persönlichen Erfolgs willen. Die Erziehung als erste Pflicht gegenüber den Kindern scheint geradezu aus den Häusern geflohen zu sein. Dies ist eine schlimme Unterlassung, aber damit haben wir das größte Übel noch nicht erfasst. Wenn es nämlich nicht bei der unterlassenen Erziehung bleibt, sondern der Missbrauch hinzukommt, das Laster, jene abscheulichen Handlungen, denen schon kleine Kinder ausgesetzt sind und die immer aggressiver und einschlägiger ausfallen, je mehr die Kinder heranwachsen und zu Halbwüchsigen werden. Es kommt in den Familien sehr häufig vor, dass Kinder missbraucht werden, von den Vätern, den Großvätern, Onkeln, Freunden. Oft wissen die anderen Familienmitglieder sehr wohl Bescheid, doch sie schreiten nicht ein, weil anderweitige Interessen und Schändlichkeiten sie davon zurückhalten."
Sie haben also den Eindruck, dass dieses Phänomen [der Pädophilie] weit verbreitet ist?
"Leider ist es das, und es tritt meist gemeinsam mit anderen Lastern auf, wie dem Drogenkonsum."
Und die Kirche? Was tut die Kirche?
"Die Kirche bemüht sich, dieses Laster zu bekämpfen und die Erziehung wiederherzustellen. Doch wir haben diese Seuche auch im eigenen Haus."
Sind die Fälle häufig?
"Viele meiner Mitarbeiter, die mit mir diesen Kampf führen, versichern mir, gestützt auf glaubhafte Daten, dass die Pädophilen unter den Klerikern zwei Prozent ausmachten. Diese Auskünfte sollen mich beruhigen, aber sie beruhigen mich keineswegs. Ich halte das vielmehr für sehr schlimm. Diese zwei Prozent Pädophile sind Priester oder gar Bischöfe und Kardinäle. Und ein weiterer Teil, viel größer an der Zahl, weiß es und schweigt, man verteilt Strafen, aber ohne den Grund dafür zu nennen. Ich halte diesen Zustand für unhaltbar, und ich habe die Absicht, ihm mit der ganzen Härte zu begegnen, die er fordert."
Ich erinnere den Papst daran, dass er in einem unserer vorhergehenden Gespräche zu mir gesagt hatte, Jesus sei zwar der Inbegriff der Sanftheit, aber er habe nach dem Stock gegriffen, um ihn auf den Rücken der Gauner niedersausen zu lassen, die den Tempel moralisch besudelten.
"Ich zitierte aus den Evangelien von Markus und Matthäus. Jesus liebte alle, selbst die Sünder, die er erlösen wollte, indem er ihnen vergab und sich ihrer erbarmte, doch wenn er den Stock zur Hand nahm, tat er das, um den Dämon zu vertreiben, der sich ihrer Seelen bemächtigt hatte."
Die Seele des Sünders – auch das sagten Sie mir in unserem vorigen Gespräch – wird selbst dann gerettet werden, wenn er erst im allerletzten Augenblick bereut; er wird dennoch Gnade finden.
"Das stimmt, das ist unsere Lehre und der Weg, den Christus uns gewiesen hat."
Aber es könnte doch sein, dass der eine oder andere Sünder das nur aus Berechnung tut. Er könnte ebendeshalb bereuen, um im Jenseits gerettet zu sein. Wäre ihm die Gnade in diesem Fall auf den Leim gegangen?
"Gott der Herr weiß es und urteilt. Seine Gnade ist grenzenlos, aber sie wird niemandem auf den Leim gehen."
Es gibt da einen grundsätzlichen Punkt, den ich klären möchte. Sie haben vielfach betont, dass Gott uns mit einem freien Willen ausgestattet habe. Nun, es kommt ja auch vor, dass wir Böses tun in der festen Überzeugung, dass daraus am Ende etwas Gutes entstehen werde. Wie steht das Christentum zu diesen Fällen?
"Das Gewissen ist frei. Wenn einer das Böse wählt in der Überzeugung, dass daraus ein Gutes entsteht, so werden seine Absicht und deren Folgen droben im Himmel beurteilt werden. Wir können dazu nicht mehr sagen, weil wir nicht mehr wissen. Die Gesetze Gottes werden von Gott geschaffen, nicht von seinen Kreaturen. Das Einzige, was wir wissen, weil Christus es uns gesagt hat, ist, dass Gottvater alle seine Kreaturen kennt und ihm nichts verborgen bleibt. Im Übrigen wird dieses Thema im Buch Hiob bis auf den Grund beleuchtet. Man müsste sich auch andere Bücher der Bibel daraufhin genauer ansehen, das Buch der Weisheit und die Evangelien dort, wo von Judas Ischariot die Rede ist. Das sind fundamentale Themen unserer Theologie."
Und auch der modernen Kultur, die ihr von Grund auf verstehen möchtet und an der ihr euch messen wollt.
"Das ist wahr. Dies war ein Hauptanliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils, wir sollten das so schnell wie möglich angehen."
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Ich stelle ihm noch eine letzte Frage: Sie arbeiten darauf hin, die katholische Kirche mit den anderen Kirchen, der orthodoxen, der anglikanischen, zu vereinen ...
Er unterbricht mich und fügt hinzu: "Und mit den Waldensern, die ich für eine Religion ersten Ranges halte, mit den Pfingstgemeinden und natürlich auch mit unseren jüdischen Brüdern."
Viele Priester oder Pastoren dieser Kirchen seien legal verheiratet, wende ich ein. Wird dieses Problem die römische Kirche nicht im Laufe der Zeit mehr und mehr belasten?
"Vielleicht ist Ihnen nicht bekannt, dass der Zölibat erst im 10. Jahrhundert eingeführt wurde, also 900 Jahre nach dem Tode Jesu Christi. In den katholischen Ostkirchen gibt es für die Priester auch heute noch die Möglichkeit zu heiraten. Das Problem existiert natürlich, aber es ist nicht von großer Bedeutung. Es braucht seine Zeit, aber es gibt Lösungen, und ich werde sie finden."
Quelle: ZEIT ONLINE - Aus dem Italienischen von Sabina Kienlechner
© "La Repubblica"