Familiengeheimnisse - Familienaufstellungen - Biographiearbeit - Systemische Therapie
Meine persönliche Ausgangslage
Oft werde ich gefragt, warum ich mich um die Opferbiographie meiner Tante Erna Kronshage, die ich ja persönlich gar nicht kennenlernen konnte, so intensiv bemühe - und so intensiv beforsche ...
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Ich habe natürlich versucht, mir das auch selbst zu beantworten - es hat sicherlich etwas mit meiner beruflichen Sozialisation zu tun... Ich war in meiner Berufstätigkeit 40 Jahre sozial- und heilpädagogisch tätig - u.a. fast 30 Jahre als Team- und Heimleiter - und habe Aus-, Fort- und Weiterbildungen in Gestaltberatung und systemischer Supervision und Beratung u.a. abgeschlossen.
Hierbei waren latent auch immer Techniken von Biographiearbeit, Selbsterfahrung, Familientherapie und Familienaufstellung zugegen, von deren individuellen und allgemeinen Nutzen ich fest überzeugt bin.
Aus diesem Aspekt heraus, habe ich den tragischen Lebensweg meiner Tante Erna nicht gezielt "gesucht" - sondern allmählich Stück für Stück "gefunden" - und gehe ihm nun seit 1986 in unterschiedlicher Intensität nach ...
FAMILIENGEHEIMNISSE
Wenn die Wahrheit ans Licht kommt
Von Silke Kachtik und Daniela Wiesler (DLF-Moderation)
Was ist die Funktion von Familiengeheimnissen, welche Rollen spielen Scham und Angst?
Meist kommt die Wahrheit eher per Zufall ans Licht. Sie steckte über Jahre zwischen alten Kisten in Briefen auf dem Dachboden; sie erleichtert, einmal ausgesprochen, im hohen Alter doch noch das Gewissen oder schafft in der Psychotherapie ihren Weg in die Auseinandersetzung.
Die Reaktionen über das plötzlich erworbene Wissen reichen von der Erleichterung darüber, nicht mehr im Unklaren zu sein bis zum Schock. Ob die NS-Vergangenheit der Großeltern, verschwiegener Missbrauch oder verheimlichte Homosexualität, die Entdeckung, adoptiert zu sein oder ein vertuschtes Erbe – nicht selten werden Familiengeheimnisse zu generationsübergreifenden Problemen. Häufig haben die Angehörigen der Geheimnisträger gespürt, dass ihr Leben von etwas belastet wird, das Gefühl aber nicht zuordnen können.
Was ist die Funktion von Familiengeheimnissen, welche Rollen spielen Scham und Angst? Wie beeinflusst das Verschweigen beispielsweise die Identitätsentwicklung unserer Kinder? Was machen Geheimnisse mit der Institution Familie und warum findet die Wahrheit dann meist doch noch ihren Weg?
Familiengeheimnisse
"Wir haben Schätze auf dem Dachboden und Skelette im Keller"
Aus einem Interview mit der Familientherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin.
BRIGITTE: Sie beschäftigen sich als Therapeutin seit über zwanzig Jahren mit Geheimnissen in der Familie. Könnte man auch, weniger schön ausgedrückt, sagen, Sie helfen Familien, ihre Lügen aufzudecken?
Rosemarie Welter-Enderlin: Ja. Familiengeheimnisse sind Lügen. Ich habe zwar Klienten, die sagen: Es stimmt nicht, ich habe nicht gelogen, ich habe nur nichts gesagt - aber natürlich ist auch das Verschweigen eine Lüge.
BRIGITTE: Hat denn jede Familie eine Leiche im Keller?
Rosemarie Welter-Enderlin: Zu jeder Familie gehören Geheimnisse, aber sie sind nicht alle böse. Es gibt Skelette im Keller und Schätze auf dem Dachboden. In Familien muss sich jeder seinen eigenen Raum schaffen, in dem er seine liebsten und intimsten Dinge sicher aufbewahren kann, seine Schätze. Tagebücher, Liebesbriefe, alles, was ihm allein gehören soll.
BRIGITTE: Und die Skelette im Keller?
Rosemarie Welter-Enderlin: Bösartige Geheimnisse schließen einen Dritten aus, der davon wissen müsste, weil ihm die Lüge, das Verborgene, schadet.
BRIGITTE: Wie stoßen Sie als Familientherapeutin auf ein Geheimnis in einer Familie?
Rosemarie Welter-Enderlin: Es ist ja nicht so, dass mir meine Klienten sagen: Übrigens, wir haben da ein Geheimnis. Manchmal geben sie mir sofort Signale, manchmal erst, wenn sie Vertrauen gewonnen haben.
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BRIGITTE: Kinder, die von ihren Eltern von einem Geheimnis ausgeschlossen werden, merken dennoch, dass etwas in der Familie nicht stimmt. Lässt sich das erklären?
Rosemarie Welter-Enderlin: Es gibt immer tausend kleine Hinweise auf etwas Verstecktes. Beispielsweise eine Familie mit einem 15-jährigen Sohn. Der Junge spinnt, sagt die Familie, immer im Herbst, nach den großen Ferien, ist er durcheinander, klaut, ist nicht ansprechbar. Bei unseren Gesprächen mit einer Kollegin kommt heraus, dass dann auch die Mutter immer depressiv ist. Und beim Verfolgen dieses Fadens fragt sie: Ja, was ist denn um die Jahreszeit? Da erzählt die Mutter: Vor 14 Jahren, Anfang Oktober, ist mein erster Mann, der Vater des Jungen, tödlich mit einem Sportwagen verunglückt, den er geklaut hatte. Er war betrunken, und dieser Tod war so beschämend, dass ich den Rat meiner Mutter befolgt und es niemandem erzählt habe, auch nicht meinem zweiten Mann.
BRIGITTE: Er hat also eine junge Witwe mit einem Säugling geheiratet und sich nie nach dem Tod des ersten Mannes erkundigt?
Rosemarie Welter-Enderlin: Nie getraut. Es blieb ein Tabu zwischen den beiden. Die wahre Geschichte erzählte sie nicht, sondern nur, dass ihr erster Mann tödlich verunglückt war.
BRIGITTE: Wieso spinnt der Junge im Herbst, wenn er doch von nichts etwas weiß?
Rosemarie Welter-Enderlin: Mit der Zeit organisiert das Geheimnis das ganze alltägliche Verhalten. Und wenn man mal begonnen hat, Geschichten zu erzählen, die nicht ganz stimmen, dann muss man scharf darauf achten, dass man diese Geschichten immer wieder kompatibel mit den Fortsetzungen macht - und das ist unheimlich anstrengend. Der Junge hat gespürt, dass mit seiner Mutter etwas nicht in Ordnung war, und hat auf seine Weise reagiert. Die Wahrheit zu erfahren war dann für alle eine große Erleichterung.
BRIGITTE: Da hütet ein Mitglied der Familie ein Geheimnis, und die anderen reagieren darauf, ohne zu wissen, warum sie sich so merkwürdig verhalten?
Rosemarie Welter-Enderlin: Für mich ist das, was in Familien mit solchen Geheimnissen geschieht, wie eine Hintergrund-Musik, zu der sie ihren schmerzhaften Tanz tanzen. Eine Musik voller Geheimnisse und Lügen, wobei die Tänzer die Melodie oft gar nicht kennen, nach der sie sich bewegen.
BRIGITTE: Wann sollte man Geheimnisse für sich behalten und wann auf gar keinen Fall?
Rosemarie Welter-Enderlin: Wenn es gefährliche Geheimnisse sind wie eine erbliche Krankheit, wenn jemand HIV-positiv ist und davon seinen Partnern nichts verrät, wenn Gewalt und Missbrauch in der Familie vorkamen - das sind ganz böse und gefährliche Geheimnisse, die zu Sprengsätzen werden können, wenn sie nicht gelüftet werden.
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BRIGITTE: Geheimnisse haben doch immer auch damit zu tun, was eine Gesellschaft akzeptiert, verbietet oder verdammt. Wir brauchen doch gar keine Geheimnisse mehr - wir sind doch so liberal, so tolerant, so offen.
Rosemarie Welter-Enderlin: Nein... (lacht) Wir sind überhaupt nicht offen! Wir predigen einerseits Offenheit, aber wenn es dann wirklich an die eigene Haut geht, ist selten jemand offen. Außenbeziehungen? Kein Problem! Aber wenn es gestanden werden soll, steht dann einfach viel zu viel auf dem Spiel.
BRIGITTE: Plädieren Sie dafür, immer sofort und gleich die Wahrheit zu sagen?
Rosemarie Welter-Enderlin: Nein. Ich erlebe manchmal bei Paaren, dass derjenige, der eine Außenbeziehung hat, wie ein 15-jähriger nach Hause kommt und beichtet, dass er etwas Schlimmes getan hat. Aber nicht, damit das Problem gelöst werden soll, sondern um sich reinzuwaschen. Er erhofft also Absolution. Diese Art der Wahrheit ist ein Schmarren und bewährt sich nicht. Ich habe keine Idee, wie das allgemein richtig gemacht werden kann. Ich meine einfach, in Situationen, wo man dem anderen wirklich schadet, da muss etwas eröffnet werden. Aber es gibt eine richtige und eine falsche Zeit, ein Geheimnis zu lüften. Die schlimmste Zeit ist bei einem Familientreffen, also vor vielen Menschen. Man sollte ein Geheimnis zuallererst mit dem Menschen in Ruhe besprechen, den es betrifft. Und es auch ertragen und auffangen, dass er wütend wird oder weinen muss.
BRIGITTE: Können wir nicht einfach das, was passiert ist, aus dem Gedächtnis streichen und vergessen?
Rosemarie Welter-Enderlin: Nein. Das Ereignis taucht erst einmal ab wie unter eine Eisdecke, aber es verschwindet nicht. Und sobald dieses Eis brüchig wird, kommt alles wieder hoch. Ich habe häufig Frauen erlebt, die eine Depression bekommen, wenn die Kinder aus dem Haus gehen, und denen genau zu diesem Zeitpunkt die Erinnerung an eine alte Abtreibung wieder hochkommt, die sie nicht bewältigt haben. Kritische Ereignisse sind ja nicht an und für sich kritisch - es ist unsere Bewertung, ob etwas tragisch ist oder nicht. Und wenn man in einer Umgebung lebt, in der eine Abtreibung als große Sünde bezeichnet wird, dann kann man darüber nicht so leicht hinweggehen.
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BRIGITTE: Wenn man als Kind jahrelang von einem Geheimnis ausgeschlossen wird - was macht das mit einem Kind?
Rosemarie Welter-Enderlin: Wenn zum Beispiel ein Kind, das adoptiert worden ist, spürt, dass es irgendwie anders ist, und es fragt, und man sagt ihm nicht die Wahrheit, dann kann es passieren, dass das Kind dieses Gefühl generalisiert. Es fühlt sich dann schnell ausgeschlossen und ausgestoßen. Es lässt beim geringsten Anlass Freunde oder Freundinnen fallen. Wird also ein bisschen paranoid, weil es davon ausgeht, das sind auch Lügner und Verräter. Das ist eine ganz schlimme Situation.
BRIGITTE: Spätestens dann, wenn gefragt wird, muss die Wahrheit gesagt werden?
Rosemarie Welter-Enderlin: Unbedingt. ... Wenn solche Geschichten erzählt werden, dann sind sie auch einfühlbar. Man versteht das ganze Gewebe und ist als Kind vielleicht enttäuscht, dass man so eine Geschichte eröffnet bekommt - kann sie aber doch begreifen. Die Geschichten, die verdrängt werden, sind die schlimmen Geschichten. Aber Geschichten, die einen Namen haben, die kann man in sein Leben integrieren.
Tabus in der Familie
Geheimnisse: Was zu tun ist, wenn es in der Familie etwas gibt, an das nicht gerührt werden darf.
Ein Geheimnis zu haben, muss nicht schlecht sein. Dunkle Geheimnisse jedoch, über die hartnäckig geschwiegen wird, können viel Unheil anrichten.
Von Karin Vorländer
Geheimnisse schützen das Private. Sie schaffen so etwas wie einen eigenen Raum, betont die Psychologin Ursula Nuber. Geheimnisse sind Vorfälle, Geschehnisse und Geschichten, die »im Heim« bleiben, die nicht für andere und für die Öffentlichkeit bestimmt sind.
Bei Geheimnissen unterscheidet Familientherapeutin Rosemarie Welter-Enderlin zwischen »Skeletten im Keller und Schätzen auf dem Dachboden«. Zu den »Schätzen« zählt sie alles, was einem Menschen allein gehören soll, was jemandem lieb und teuer ist – Tagebücher oder Liebesbriefe etwa. Aber es gibt auch die »Skelette«: dunkle, destruktive Geheimnisse, Lügen, Täuschungen und Tabus in der Familiengeschichte, an die niemand rühren darf und über die in einer Art Familienschwur hartnäckig geschwiegen wird: Die Nazivergangenheit eines Großvaters, eine Abtreibung, der Suizid einer Tante, die Alkoholsucht der Großmutter, Missbrauch, Straffälligkeit eines Familienmitglieds, eine Adoption, ein uneheliches Kind, Bereicherung mit unlauteren Mitteln, Homosexualität eines Familienmitgliedes. Im Prinzip kann jedes Thema zum Geheimnis werden, wenn es als peinlich gilt, wenn es real oder gefühlt nicht zu den Idealen passt, die die Familie nach außen hin vertritt.
Wer ein destruktives Geheimnis hütet, muss enorm viel psychische Kraft und mentale Arbeit aufbringen. Ständiges Lügen, Täuschen und Verschweigen brauchen so viel Energie, dass die emotionale Beziehung und die Kommunikation mit anderen in der Familie leiden. Die Angst vor Entdeckung führt häufig zu psychosomatischen Erkrankungen oder zur Suchtgefährdung.
Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Familientherapie zeigen, dass dunkle Geheimnisse eine Partnerschaft und eine Familie erschreckend nachhaltig belasten. Sie können sogar über Generationen hinweg Unheil anrichten, wenn sie nicht aufgedeckt werden. Dabei leiden auch diejenigen, die von dem Geheimnis gar nichts wissen, oft schwer. Edelgard Meinolf* (56) und ihr Bruder Helmut* (44) litten genau wie ihre Mutter jahrelang an Depression. Helmut erlebte sich als bindungsunfähig, Edelgards Ehe scheiterte. Ihre Tochter litt an ständig neuen psychosomatischen Symptomen. Erst als Edelgard von einer Tante erfuhr, dass ihre Mutter als Kind vom Vater missbraucht worden war, fanden alle drei mit therapeutischer Begleitung aus dem dunklen Tal.
Oft schweigen auch die Opfer. »Wir haben unseren Kindern 15 Jahre lang nicht erzählt, dass wir Holocaust Überlebende sind – aber die haben gespürt, dass ein Schatten über uns liegt«, berichtet die KZ Überlebende Rahel Grünebaum (88). Sie hofft, dass die Generation ihrer Enkel endlich zu unbeschwerter Lebensfreude findet.
Vertuscht, gelogen, verschwiegen oder verdrängt wird aus Scham, aus Angst vor Strafe oder aus Furcht vor dem Verlust an Prestige, Geltung und Ansehen. Oft wird ein Geheimnis auch deshalb nicht offengelegt, weil Eltern glauben, Kinder könnten die Wahrheit nicht verkraften. Kinder, die von einem Geheimnis ihrer Eltern ausgeschlossen werden, spüren dennoch, dass etwas nicht stimmt. »Ich hatte immer das Gefühl, falsch, fremd und irgendwie verkehrt zu sein«, weiß Frauke Berkunin* (54), deren emotionale Unsicherheit sich als Kind und Jugendliche darin äußerte, dass sie ständig stolperte oder stürzte. Als ihre Eltern ihr kurz vor ihrer eigenen Hochzeit offenbarten, dass sie ein Adoptivkind ist, war sie erleichtert. Den offenen Umgang mit dem Thema Adoption halten Psychologen heute für richtig. Denn schon Kinder begreifen viel, wenn ihnen die Wahrheit einfühlsam gesagt wird.
Judith Wagner* (27) litt unter Schwindelanfällen. Als ihr Vater ihr nach dem Abitur offenbarte, dass er homosexuell ist, suchte sie psychologische Hilfe – und die Schwindelattacken verschwanden. Der Bitte ihres Vaters, das Geheimnis gegenüber den Geschwistern und der Großmutter zu bewahren, ist sie allerdings nachgekommen. »Ich habe nicht das Recht, ihn gegen seinen Willen zu outen«, sagt sie.
Das Geheimnis preiszugeben ist nicht angeraten, wenn dahinter nur die Hoffnung steckt, selbst sofort und unmittelbar Entlastung, Absolution und Verständnis zu erfahren. Ein Geheimnis, das aus Wut oder Rache eingestanden wird, hat eine schädliche Wirkung. Etwa wenn ein Kind in einer Konfliktsituation zwischen den Eltern vom vermeintlichen Vater erfährt, dass es »das Ergebnis« einer außerehelichen Beziehung der Mutter ist.
Gute Motive, ein Geheimnis zu lüften, liegen dagegen vor, wenn jemand ehrlich davon überzeugt ist, dass die Lebenskraft eines anderen dadurch gestärkt wird. Heidi Schlicht (62) erlebte es als – allerdings viel zu späte – Belebung ihres Lebens, als ihre 90-jährige Mutter ihr endlich offenbarte, dass ihr Vater ein russischer Zwangsarbeiter war. »Sie hat mir ein Bild von ihm gezeigt. Wenn ich jetzt in den Spiegel schaue, freue ich mich, dass ich seine Augen habe.«
Ein Familiengeheimnis zu lüften kann erleichtern, der Anfang eines neuen Lebens für alle Beteiligten sein. Es kann aber auch neue Probleme schaffen. Wut und Enttäuschung, Fassungslosigkeit und Kränkung oder Scham und Unverständnis müssen verkraftet werden. Womöglich gibt es sogar Trennungen oder Abschiede. Vor einem klärenden Gespräch kann man Unterstützung in Form von professioneller Beratung in Anspruch nehmen und überlegen, ob der Zeitpunkt gut gewählt ist und in welchem Rahmen und wie das Geheimnis gelüftet werden soll.
(* Name geändert)
Buchtipps
Perner, Rotraud A.: Darüber spricht man nicht. Tabus in der Familie. Das Schweigen durchbrechen, Kösel-Verlag, 256 S., ISBN 978-3-466-30841-5, 14,95 Euro
Nuber, Ursula: Lass mir mein Geheimnis! Warum es gut tut, nicht alles preiszugeben, Campus Verlag, 239 S., ISBN 978-3-593-38234-0, 19,90 Euro; Audio-CD, ISBN 978-3-593-38462-7, 14,95 Euro
Oh, meine Ahnen!: Wie das Leben unserer Vorfahren in uns wiederkehrt
von Anne A Schützenberger, 253 Seiten
Carl Auer Verlag; 7., unveränd. Aufl. 2012
Ich und die Anderen: Wie Genogramm- und Aufstellungsarbeit Familienmuster sichtbar und lösbar werden lassen Einführung und Praxisbeispiele
von Claudia Molitor, 188 Seiten
Verlag: Books on Demand, 2012
Familientherapie für Dummies
von Paul Gamber, 343 Seiten
Neuere Ansätze der Familienaufstellung
In den letzten Jahren haben sich parallel zum Ansatz Bert Hellingers (s.d.) eine Reihe weiterer Ansätze der Familienaufstellung entwickelt. Dabei distanzieren sich viele systemisch arbeitende Therapeuten und viele Familienaufsteller inzwischen ausdrücklich von Hellingers Methode. Andere bauen zwar auf Hellingers Ansatz auf, setzen aber eigene Schwerpunkte und verbinden den Ansatz mit weiteren Methoden aus der Psychotherapie oder der psychosozialen Beratung.
Gleichzeitig sind in den letzten zehn Jahren Fachgesellschaften entstanden, die sich zum Ziel gesetzt haben, Qualitätsstandards und ethische Richtlinien für Systemaufstellungen zu entwickeln. Zu Ihnen gehören die Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS) und die International Systemic Constellations Association (ISCA). Die DGfS hat zum Beispiel Qualitätsstandards für die Aufstellungsarbeit und für die Weiterbildung in Systemaufstellungen erarbeitet, bietet eine Datenbank mit geprüften Systemaufstellern an und unterstützt die Forschungsarbeit über Systemaufstellungen.
Positive Wirkungen von Familienaufstellungen
Eine Familienaufstellung kann durchaus positive Auswirkungen haben – sofern dabei bestimmte Grundregeln beachtet werden, wie sie auch für eine Psychotherapie gelten.
Wo eine Familienaufstellung hilfreich sein oder zu neuen Erkenntnissen führen kann
Generell kann eine Familienaufstellung eine neue Sichtweise der eigenen Familiengeschichte ermöglichen und zu einer Neubewertung problematischer Verhaltens- und Beziehungsmuster führen. Anschließend können daraus zusammen mit dem Aufstellungsleiter neue, weniger problematische Bewertungsmuster und Verhaltensweisen abgeleitet und ausprobiert werden.
Gegenüber anderen Therapiemethoden hat eine Familienaufstellung den Vorteil, dass hier die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern bildlich dargestellt werden und dabei das Familiensystem im Ganzen sichtbar gemacht wird. Da der Klient die Figuren intuitiv im Raum aufstellt, werden oft Beziehungsmuster oder Konflikte aufgedeckt, die ihm vorher so nicht bewusst waren. Dabei werden häufig beim Klienten selbst intensive Gefühle ausgelöst, zum anderen werden ihm durch die Stellvertreter auch mögliche Gefühle und Reaktionen der Familienmitglieder verdeutlicht.
Häufig wird den Klienten durch eine Familienaufstellung auch bewusst, wie stark ihr Leben durch ihre Familie und durch unbewusste Verpflichtungen oder Schuldgefühle gegenüber anderen Familienmitgliedern beeinflusst ist. Durch die Aufstellung erkennen viele Ratsuchende, dass sie keine Schuld an ihrem Leid trifft, da sich dieses gar nicht hätte verhindern lassen.
Auch die Bearbeitung der aufgestellten Szene ist häufig mit intensiven Gefühlen verbunden – zum Beispiel, wenn die Positionen der Familienmitglieder verändert werden oder wenn der Klient den Stellvertretern gegenüber Dinge sagt, die er zum Beispiel dem Vater oder der Mutter schon lange mitteilen wollte. Es wird vermutet, dass durch diese starken Eindrücke und Gefühle intensivere und dauerhaftere Veränderungen ausgelöst werden können als bei anderen Therapieformen.
DGSF-Kriterien zur Unterstützung günstiger Wirkungen einer Familienaufstellung:
Soll eine Familienaufstellung günstige therapeutische Auswirkungen haben, sollten – zum Beispiel nach Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie (DGSF) – unbedingt folgende Aspekte berücksichtigt werden:
- Die Klienten sollten auf die Aufstellungsarbeit im Vorfeld sorgfältig vorbereitet werden und auch hinterher therapeutisch begleitet werden.
- Eine Familienaufstellung sollte nicht in Großgruppen durchgeführt werden, bei denen es vor allem um den publikumswirksamen Effekt geht.
- Eine Aufstellung sollte wegen der möglichen starken Auswirkungen nie leichtfertig oder als „Spiel“ durchgeführt werden.
- Der Behandler sollte sich dem Klienten gegenüber einfühlsam verhalten und ihm Respekt entgegenbringen.
- Er sollte die Sichtweise und die Interpretationen des Klienten immer respektieren und ihm nicht seine eigene Sichtweise aufdrängen. Auch Lösungsansätze sollten immer gemeinsam mit dem Klienten entwickelt werden.
- Die Aussagen von „Stellvertretern“ sollten als Hypothesen gewertet werden, die der Klient als nützlich einschätzen, aber auch als nicht passend oder nicht nützlich verwerfen kann.
- Der Behandler sollte die Autonomie des Ratsuchenden fördern – zum Beispiel, indem er die Entscheidung für eine Veränderung immer dem Klienten überlässt.
- Falls die Aufstellung nicht im Rahmen einer kontinuierlichen Psychotherapie stattfindet, sollte der Aufsteller den Klienten zumindest ausdrücklich darauf hinweisen, dass er Unterstützung suchen soll, falls es hinterher zu problematischen Auswirkungen kommt.
Aspekte der Qualifikation der Aufsteller:
Wichtig ist auch, dass ein Aufstellungsleiter eine fundierte Ausbildung und Praxiserfahrungen bei der Durchführung von Familienaufstellungen hat. Da es jedoch keine festen Ausbildungsrichtlinien für Systemaufstellungen gibt, ist dieser Aspekt relativ schwer zu überprüfen.
Eine Qualifikation als Psychologischer Psychotherapeut, Arzt für Psychiatrie oder Psychosomatik oder als Heilpraktiker für Psychotherapie ist ein Anhaltspunkt dafür, dass der Anbieter eine umfassende fachliche Ausbildung durchlaufen hat und mit den Grundregeln einer Psychotherapie vertraut ist. Gleichzeitig sollte er jedoch auch praktische Erfahrungen in der Aufstellungsarbeit nachweisen können.
Wird die Aufstellung im Rahmen einer Systemischen Therapie durchgeführt, sollte man darauf achten, dass der Behandler über eine fundierte Ausbildung in systemischer Therapie oder Beratung und Praxiserfahrungen in der Aufstellungsarbeit verfügt.
Eine Ausbildung zum Aufsteller nach den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS) ist zumindest ein Anhaltspunkt dafür, dass der Behandler eine gewisse theoretische und praktische Grundausbildung in der Aufstellungsarbeit hat und sich um die Einhaltung von Qualitätsstandards bemüht.
Als zweifelhaft ist dagegen die Qualifikation von Anbietern zu sehen, die aus dem Esoterikbereich kommen.
Aufstellungen in der Einzelarbeit
Auch in der Einzeltherapie kann die Methode der Aufstellung angewandt werden. Anstelle von Personen werden dann Symbole wie Figürchen oder Kissen als Stellvertreter der Familienmitglieder aufgestellt. Eine weitere Möglichkeit ist, die räumlichen Positionen der Familienmitglieder mithilfe von „Bodenankern“ darzustellen, bei denen der Klient Stühle oder Papierblätter im Raum positioniert. In diesem Fall kann er in die Rolle der einzelnen Familienmitglieder schlüpfen, indem er sich an die verschiedenen Positionen stellt und formuliert, was er jeweils dort empfindet.
Bei der Bearbeitung der Problematik kann der Therapeut Sätze formulieren, die die Familienmitglieder sagen könnten. So beschreibt die Pädagogin Barbara Innecken ein Fallbeispiel, bei der eine Mutter zwischen ihrem geschiedenen Mann und ihrem Sohn nur wenig Kontakt zulässt. Hier könnte der Therapeut die Figur des Vaters sagen lassen: „Aber ich liebe meinen Sohn doch genauso wie Du.“ Daraufhin könnte er für die ratsuchende Mutter einen Satz formulieren – zum Beispiel: „Ich sehe erst jetzt, wie sehr Du ihn liebst. Bei dir ist er gut aufgehoben.“ Der Klientin ist anschließend freigestellt, ob sie diesen Satz nachspricht oder sich einen anderen, für sie besser passenden Satz überlegt.
Organisationsaufstellungen
Eine weitere Form der Aufstellung, die in den letzten Jahren immer häufiger zum Einsatz kommt, ist die Organisationsaufstellung. Dabei geht es um berufliche Fragen wie zum Beispiel Mobbing, Konflikte in der Arbeitsgruppe oder Schwierigkeiten im Unternehmen. Bei dieser Art der Aufstellung lassen sich Dynamiken in beruflichen Systemen sichtbar machen, aus denen sich dann Hilfestellungen bei beruflichen Entscheidungen oder Lösungen für problematische Konstellationen entwickeln lassen.
Quelle: therapie.de