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Frühlingsgeschichten: DOEL - das "Ziel" - ein langes Sterben in Antwerpen ...

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Einsame Orte in Europa

Doel - übersetzt: das "Ziel"
Das Geisterdorf von Antwerpen


Text und Original-Fotostrecke: Oliver Lück | SPIEGEL-ONLINE



Doel stirbt. Das Nest am Rande von Antwerpens Hafen soll neuen Terminals weichen. Trotzdem zieht das fast verlassene Dorf Touristen an. Auf seinen Mauern haben sich Künstler und Jugendliche mit Graffiti ausgetobt.


Hier fahren nur noch Lkws. Auf den Straßenschildern stehen lediglich Nummern. Terminals und Frachtschiffe, Container und Verladekräne. Kilometerweit. Alles sieht gleich aus.

Und gerade als man denkt, dass im Containermeer des Antwerpener Hafens die Natur wohl etwas zu kurz gekommen ist, kommen auch noch die beiden Kühltürme des Atomkraftwerks in Sicht. Mächtige, weiße Dampfsäulen wachsen in den Himmel. Dort liegt Doel.

Gemächlich schieben sich die Containerriesen auf der Schelde an dem kleinen Dorf vorbei in den drittgrößten Hafen Europas, der vielen noch immer nicht groß genug ist. Er soll erweitert werden. Und Doel steht im Weg. Das Dorf soll weg. Das ist längst beschlossen.

Die Terminals sind schon bis auf wenige Meter herangerückt. Die meisten Häuser sind bereits verlassen und verfallen. Die Eingänge sind mit Brettern vernagelt, die Scheiben eingeschmissen. In den Dächern klaffen Löcher. Und in einigen Fenstern stehen Uhren. Man hat sie auf kurz vor zwölf gestellt. Doch in Doel scheint es zu spät zu sein.

Trotz der umliegenden Industrietristesse ist das 400 Jahre alte Dorf ein interessantes Reiseziel. Schon oft wurde es als Filmkulisse genutzt, etwa für Videoclips. Touristen kommen täglich, um den morbiden Charme zu erleben. Eine autogroße Ratte ist auf eine rote Backsteinmauer gemalt. Ein anderes Haus hat Arme und ein Gesicht mit einem riesigen Maul. Es schreit. Aus den Augen fließen Tränen. Doel ist bunt - Künstler und Jugendliche haben sich hier mit Malereien und Graffitis ausgetobt.


Heute erkennt man die bewohnten Häuser daran, dass entweder ein Auto vor der Tür oder ein Schild im Fenster steht: Bewoond. Es sind noch 30 Menschen da. Oft schon sollten auch sie umgesiedelt oder zwangsenteignet werden. Doch der Bedarf einer Hafenerweiterung ist umstritten.



DOEL BLIJFT - Doel bleibt - krakeelt diese Mauerkarikatur - und macht schüchtern das Peace-Zeichen - aber das war wohl nix ...

Ein langsamer Tod

Jetzt hält die Postbotin in ihrem roten Kastenwagen vor einem Haus und wirft Briefe und Werbung durch den Zeitungsschlitz. Sie hat hier schon die Post gebracht, als das Dorf noch über tausend Einwohner hatte. Doch dann, erzählt sie, wurden es immer weniger. Heute braucht sie nur noch ein paar Minuten für ihre Tour. Doel stirbt. Jedes Jahr ein bisschen mehr. Es ist ein langsamer, kein schöner Tod.

Wer Doel ins Deutsche übersetzt, wird sich wundern: das Ziel. Und auch im Dorf gibt es so etwas wie einen Lichtblick. Auf dem Grasdeich, der das Dorf vor den Launen der Schelde schützt, steht eine Windmühle, darin ein kleines Restaurant. Es soll die älteste Mühle in Belgien sein. Gerade ist eine Schulklasse angekommen. Am Deich verläuft ein Radweg. Kurz kehrt das Leben zurück.; Kinder johlen und lachen. Alle tragen neongelbe Warnwesten. Im Hintergrund dampft das AKW.





Am nächsten Morgen ist der Meiler nicht zu sehen. Ein dichter Nebel ist von der Nordsee die Schelde hinaufgezogen und hat sich über Doel und den Deich gelegt. Die Windmühle steht nun alleine da. Es ist wie ein schöner Traum.


Bilder: S!-Bearbeitungen der Original-Fotos von Oliver Lück in der SPIEGEL-Fotostrecke zum Text ...


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Beim Betrachten und Bearbeiten der Fotostrecke aus dem
SPIEGEL-"Reisebericht" zum Sterben der Gemeinde Doel in Antwerpen kamen mir Rattenvergleiche in Lyrik und Kunst in den Sinn - ganz automatisch: Da stieg die Erzählung von Wolfgang Borchert "Nachts schlafen die Ratten doch" von 1947 in mir hoch, die ich mal in der Schule lesen und interpretieren musste - und Grass "Die Rättin" (1986) - und dann Gottfried Benn, der olle "Medizyniker", mit seiner Obduktion einer "Schöne(n) Jugend" aus dem Jahre 1912 ...

Allen diesen Werken ist eins gemein: das Sterben, der Tod: auf der einen Seite als "Voll-Endung" - auf der anderen Seite zumindest als ein winziges hoffnungsvolles Samenkorn für einen Neubeginn - für die Ingangsetzung der Reinkarnationen und Immer-Wieder-NEU-Geburten - für den Jahreslauf in der Natur und im Leben - wieder ein neuer Frühling nach langem harten Winter ...

Doel - so erfahren wir - heißt übersetzt: Das "Ziel" ... Also das war einmal die Vollendung der Sehnsucht für Viele in vergangenen Generationen - das unbeschwerte Wohnen am Schutzdeich in unmittelbarer Nordseenähe - und inzwischen blättert nur noch die Farbe der Graffitis ab - nach und nach - an den Gemäuern längst verrotteter Träume - bis die Abrissbirne kommt - vor den dampfenden Kühltürmen eines Atomkraftwerkes und gleichzeitig der Silhouette der ältesten Windmühle in Belgien - ist ja auch irgendwie eine bildliche Metapher - aber die stärkere Hoffnung zeigt sich in dem zumindest lyrisch gestalteten Bild vom "Nest von jungen Ratten" ...





Gottfried Benn

Schöne Jugend

Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die anderen lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!



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