Reich Gottes – wo findet es sich?
„Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte;
man wird auch nicht sagen: siehe, hier! oder: dort!
Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“
Lukas 17,20b-21
Was ich vortragen möchte, ist von bestimmten Strömungen in der Kunst und Philosophie des 20. Jahrhunderts inspiriert, trifft sich aber in erstaunlicher Weise mit der Reich Gottes Botschaft Jesu.
Gerade wenn man glaubt, dass das Reich Gottes etwas ist, das zu dieser Welt gehört, wirkt es irritierend zu hören, dass man es nicht beobachten kann und nicht sagen kann, hier sei es oder dort sei es. Das heißt im Klartext, man kann das Reich Gottes auch nicht an all dem vielen Guten festmachen, das in der Welt geschieht. Man kann also nicht sagen, so wunderbare Aktionen wie „Ferien vom Krieg“ oder „Rettet den Regenwald“ seien ein Ort, wo das Reich Gottes sei oder beginne. Umgekehrt braucht das Böse, die Gewalt, die Ungerechtigkeit, der Hunger, der Krieg nicht als Beweis für eine Nicht-Existenz des Reiches Gottes gewertet zu werden.
Wie aber soll das Reich Gottes dann noch „mitten unter uns“ sein? Vom Alltagsverstand her ist das ein Rätsel. Einerseits ist es nichts Objektives, das man beobachten und auf das man hinzeigen könnte. Andererseits aber ist es nichts Überweltliches, existiert nicht in einer anderen Welt, sondern eben mitten unter uns. Wie soll man mit diesem Widerspruch umgehen?
Als erstes fällt vielleicht auf, dass Frage und Antwort nicht auf derselben Ebene liegen. Gefragt wird nach einem objektiven Geschehen, das unabhängig vom Fragenden stattfinden würde. Das ist die Haltung des Zuschauers, der dem Ganzen skeptisch distanziert gegenübersteht, wie etwa dem Geschehen auf der politischen Bühne. Man überlegt höchstens, ob man selber davon profitieren könnte, wenn da andere Verhältnisse, genannt Reich Gottes, kämen. In seiner Antwort geht Jesus auf die Frage nach den zu erwartenden objektiven Verhältnissen gar nicht ein, sondern antwortet grundsätzlicher, indem er die Zuschauerposition zurückweist. Das Reich Gottes ist nicht etwas, über das man von außen ein distanziertes Wissen erwerben könnte. Es ist nur da, wenn man selber mitten drin ist.
Um die Zuschauerposition wirklich aufzugeben, gibt es eigentlich nur einen Weg: nämlich das Reich Gottes mit unserer leiblichen Existenz zu verbinden. Wenn das Reich Gottes nicht gegenständlich festzumachen ist, aber gleichzeitig auch nicht in eine abgehobene geistige Sphäre verlagert werden soll, so ist der zuverlässigste Garant dafür unser leibliches Dasein, aus dem niemand heraus kann. Dies ist zu unterscheiden vom Körper, den man zum Objekt machen kann, dessen Organe man auf ihre Funktionsfähigkeit untersuchen kann, den der Geist oder die Ratio in dieser oder jener Weise manipulieren kann.
Der Leib dagegen ist das Lebende, das Leben selbst, was er aber nicht als in sich und für sich abgrenzbarer Gegenstand ist, sondern als einer, der von vornherein und nur in einem großen Umfassenden existieren kann, wie es die Luft ist, ein Medium, das zu uns dazugehört wie die Lunge und das Herz. Der Leib hört nicht an der Haut als Grenze auf. Zu ihm dazu gehört der Boden des Planeten Erde, auf den er seinen Fuß setzen kann. Deswegen leben wir nicht als gegenständliche Einzelexistenz, sondern als Medium-Wesen, als Mediumlebewesen, oder als mediales Wesen.
Wenn man sagt, dass der Mensch nur im Medium der Luft, der Wärme, des Lichtes, der Natur insgesamt existieren kann, dann ist das im Sinn des wissenschaftlichen objektiven Wissens nicht gerade neu und umwerfend. Es ist aber durchaus umstürzend, diese mediale Existenzweise zur Grundstruktur der Wahrnehmung und des Denkens werden zu lassen. Denn die Wahrnehmung und das Denken, das in den letzten Jahrhunderten entstanden ist und das wir alle in unserem Gehirn haben, funktioniert nach dem Prinzip der Herauslösung einzelner Objekte aus den Medien der Natur. Dieses objektivistische Denken sah in der Möglichkeit der Kernspaltung die Verheißung einer paradiesischen Zukunft der Energieversorgung, völlig herausgelöst aus dem großen Lebenszusammenhang. So wie man unsere leibliche Existenz nicht aus dem Medium der Luft herauslösen kann, weil man dann schon nach wenigen Minuten tot wäre, so kann man das Denken, die Tätigkeit des Verstandes und des Geistes nicht aus unserer leiblich-medialen Existenz herausschneiden. Wenn man es doch macht, wird es lebensfeindlich und sogar tödlich.
Wenn das Reich Gottes mitten unter uns ist und damit radikal weltverbunden, dann kann das nur sein, wenn wir unsere Existenz als leiblich-medial erfahren. Wer sich wahrnehmen kann als getragen von der Erde, ganz wörtlich, getragen von dem Boden, auf dem wir jetzt stehen; wer sich erfahren kann als umhüllt und durchdrungen von der Luft, die wir gerade atmen, der erlebt dieses Medium als das Umfassende, als einzige Welt, über die er sich nicht hinausbegeben kann. Wir können die Lebensmedien wahrnehmen als ungeteilt und universell. Dann sind wir nicht einfach da wie ein abgeschlossener Block und es ist nicht unsere Leistung, dass wir die Welt sehen und uns freuen können, sondern wir haben teil an dem Medium des Lebens, das vor uns da ist, haben teil am Sehen-können der Welt, am sich Freuen-können, am Arbeiten- und Handeln-können.
Das ist die ganz andere Art der Wahrnehmung, die einer Reich Gottes-förmigen Existenz eigen ist. Wenn man sich als Teilhaber und Teilnehmer am allgemeinen großen Lebenszusammenhang erfährt, kann man nicht andere Beteiligte schädigen oder zerstören. Denn man schädigt oder zerstört sich damit selber. Es braucht dann keine objektiven Festsetzungen wie Gebote oder Verbote: „Du sollst nicht töten!“ Denn Menschen zu töten, Krieg zu führen, hieße den großen Lebenszusammenhang anzugreifen, zu dem man selber gehört. Dazu gehören auch andere Lebewesen, die zu zerstören oder zu töten, um sie aufzuessen, mit der Wahrnehmung und Erfahrung des großen Lebensmediums nicht vereinbar ist.
Wenn der Mensch seine leiblich-mediale Existenzweise nicht verlässt, wird der Befund seiner Weltwahrnehmung mit vielem objektiv Vorfindbarem nicht übereinstimmen. Dass man fürs Autofahren oder zur Fleischproduktion die Regenwälder abholzt, dass der Vorstandsvorsitzende 300 Mal so viel wie einer seiner Angestellten verdient, das geht einem nicht in den Kopf. Aber halt, in den Kopf geht es schon. Denn der Kopf, also das abgehobene Denken, der Verstand, der Geist kann solche Zwecke durchaus eigenmächtig in die Welt setzen und dem einen angeblichen Sinn verleihen. Wo es aber wirklich nicht hineingeht, ist die leiblich-mediale Existenzweise, wie sie die Existenzweise des Reiches Gottes ist. Denn es gibt ein gemeinsames, allgemeines Medium nicht nur des Lebens, sondern auch der menschlichen Existenz. Die tragenden Lebensgrundlagen sind nicht Einzelzwecke wie Auto fahren oder fliegen oder Fleisch essen oder Besitz anhäufen zu können, sondern vorpersönliche und vormenschliche Elemente, aus denen wir gemacht sind und die uns leben lassen. Die Nahrung, die wir zu uns nehmen, verbindet uns mit dem Medium der Erde, die wachsen lässt, was zu unserem Organismus passt und ihn am Leben erhält. Um diese leiblich-mediale Erfahrung zu zelebrieren, zu feiern, kommen Menschen wie wir zu einem gemeinsamen Mahl zusammen, denen, anders als in der Kantine, das Essen zum Ausdruck der Existenz im Reich Gottes wird.
Die Reich Gottes-Wahrnehmung stellt sich quer zu denjenigen Zwecksetzungen und Sinnverleihungen, die dadurch zustande kommen, dass aus dem Gewebe des Lebendigen Einzelstücke herausgeschnitten werden. Sagte doch der frühere Landwirtschaftsminister Funke: „Der Sinn des Schweines ist das Kotelett.“ Dieser menschliche Sinn ist für das Tier tödlich. Buchstäblich. Im Prinzip ist aber alles Heraustrennen aus dem Medium des Lebendigen lebensmindernd oder lebenzerstörend. Was ist der Sinn der Schule? So wie es bis jetzt ist, scheint sie den Sinn zu haben, den Nachwuchs auf den Stand wirtschaftlicher Verwertbarkeit zu bringen und Elite von Nicht-Elite zu trennen. Der Grundstruktur unserer Existenz im Medium des großen Lebenszusammenhangs entspricht das nicht. Dort gilt eher das Prinzip, zu schauen, zu hören, zu warten und sich entfalten zu lassen, was in jedem Kind nach und nach zum Vorschein kommt. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht ins Reich Gottes eingehen.“ Dieser selten ernst genommene Satz bekommt hier eine Bedeutung. Es geht um eine Umkehrung der Wahrnehmung, weg von einer fertig vorgegebenen, determinierten Welt der Erwachsenen, hin zu dem , was noch offen ist, noch nicht festgelegt ist, sich noch entwickeln darf. Die Provokation dieses Satzes liegt ja darin, dass er eine Umkehrung dessen ist, was tagtäglich den Kindern gesagt wird: wenn ihr nicht werdet wie die erfolgreichen Erwachsenen, dann werdet ihr kein glückliches Leben im Wohlstand erreichen.
Was also ist das Reich Gottes? Nach dem Gesagten ist es eine Existenzweise und eine Wahrnehmungsweise, nicht eine Idee oder Utopie, auch kein Zustand, sondern eine leiblich-mediale Existenz, in die das eigenmächtige Denken und Handeln zurück integriert und rückgebunden wird. Das setzt voraus, dass die erstarrte, verhärtete Welt des Objektiven zerspringt und Neues entspringt.
- Für einen außenstehenden Zuschauer ist das Reich Gottes nicht sichtbar. Nur dem Beteiligten ist es erfahrbar.
- Wer mitten in ihm lebt, nimmt es wahr.
- Das Reich Gottes ist ein Medium, das uns durchdringt wie die Luft, die unser Blut mit Sauerstoff versorgt. Es lässt alle atmen und es lässt alle leben.
- Das Reich Gottes ist ein Medium, das uns umhüllt wie die Wärme, die uns beweglich macht und die kalten, erstarrten Verhältnisse zu verwandeln vermag in lebendige und zärtliche.
- Das Reich Gottes ist wie der Erdboden, der uns trägt und uns selber zu tragenden Elementen werden lässt, die untragbare Zustände nicht zulassen.
- Das Reich Gottes ist wie ein elektromagnetisches Feld, das unser Potential zur Entfaltung kommen lässt, ein Kraftfeld, oft unsichtbar und unbemerkt, aber wirkmächtig gegen Widerstand und stark.
- Das Reich Gottes ist wie das Licht, das uns den Durchblick gibt, dunkle Ecken und Machenschaften auszuleuchten, so dass Schönheit und Glanz allen Lebens sich zeigen kann.
Quelle: Hans Bischlager, Ansprache im Reich-Gottes-Gottesdienst
am 15. Juli 2011 in der Jakobskirche in Nürnberg