Christlicher Missionar mit Bibel, 1993 | Foto: Philip Wolmuth |
JOHN HARRIS
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Stören Sie die Ruhe!
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Redefreiheit
Lange vor Twitter bot sie ein öffentliches Forum für Idealisten, Hitz- und Wirrköpfe.
Nun feiert ein neuer Bildband die Speakers’ Corner
„Ich habe dort indischen Nationalisten gelauscht, Abstinenzpredigern, Kommunisten, Freidenkern, Vegetariern, Mormonen, der Heilsarmee sowie Übergeschnappten jeder Couleur, die sich alle gesittet auf der Tribüne abwechselten und auf ein recht gutmütiges Publikum zählen konnten.“ Das schrieb George Orwell vor 70 Jahren über die rhetorische Kultstätte im Londoner Hyde Park. Es gebe, erzählte der Schriftsteller seinen Lesern weiter, „sehr wenige Länder auf der Welt, die ein vergleichbares Schauspiel bieten“.
Über die Jahrzehnte ist die Gestalt dieses Schauspiels erstaunlich konstant geblieben. Die Redner stellen sich auf ein mitgebrachtes kleines Podest und verausgaben sich. Egal welche Ansichten sie verfechten, ihre Gesichtsausdrücke gleichen sich: Wut, Enttäuschung, Ungeduld gegenüber einer Welt, die einfach nicht begreifen will. Um sie herum spiegeln die Mienen der Zuhörer unterschiedliche Grade an Verblüffung, Gleichgültigkeit und Belustigung wider. Dass jemand sich bekehren lässt, ist unwahrscheinlich. Erhellenderes als hin und wieder ein verbaler Schlagabtausch zwischen einem Redner und einer Gegenstimme aus dem Publikum ist kaum zu erwarten. Und doch hat das Ritual etwas Unwiderstehliches, beinahe Magisches: Denn es ist ausgelebte Redefreiheit. Politik und Religion im Rohzustand.
All dies fängt der Fotojournalist Philip Wolmuth in seinem neuen Buch mit dem schlichten Titel Speakers’ Corner ein. Es versammelt Bilder und Redefragmente aus 35 Jahren und setzt einigen Stammgästen auf den Podesten im Park ein Denkmal. Sei es der wiedergeborene Christ und Ex-Sträfling Stuart Wheeler, der mit vorspringendem Kinn und tiefliegenden Augen wie der fleischgewordene Bibelmoralismus daherkommt. Oder Joshua, ein zauselbärtige Verschwörungstheoretiker aus den 70er Jahren, der aussieht, als würde bei ihm jeden Moment eine Sicherung durchbrennen. Oder die diversen Muslime, Atheisten, Palästinenseranwälte und Atomwaffengegner. Oder Donald Soper, der hochangesehene Methodistenpfarrer, Abstinenzler und Abgeordnete des britischen Oberhauses, der über 70 Jahre lang regelmäßig im Hyde Park sprach. Wolmuths Bild von Soper zeigt ihn, wie er den Finger himmelwärts reckt und denkbar höflich an seinem Publikum verzweifelt – vier Jahre vor seinem Tod im Alter von 95 Jahren. Das Zitat zum Bild endet mit den wunderschönen Worten: „Ich danke Ihnen dafür, dass Sie in der Kälte herumstehen. Nächste Woche bin ich wieder hier.“
In diesen zwei Sätzen liegt etwas unverkennbar Britisches – so wie in der ganzen Geschichte der Speakers’ Corner. Auch wenn das Gesetz zur Parknutzung von 1872 Versammlungen und öffentliche Ansprachen im Hyde Park ausdrücklich vorsah, beruhen die Zusammenkünfte am Nordostrand der Grünanlage nicht auf festgeschriebenen Regeln oder Gesetzen, sondern auf Tradition. Die Redner finden selbst ihren Platz und wechseln sich ab, es gibt keine Organisatoren. Zwar zeigen Philip Wolmuths Bilder, dass die Polizei das Spektakel kritisch im Auge behält, doch nur selten sieht sie sich zum Eingreifen veranlasst.
Offiziell seit 1872 das Original: Die Speakers' Corner im Hyde Park London, 1995 | Foto: Philip Wolmuth |
Als ich noch in London lebte, ging ich sonntagnachmittags gelegentlich hin. Besonders deutlich sind mir die tadellosen Anzüge und die geschliffene Rhetorik des britischen Ablegers der Nation of Islam in Erinnerung. Und dass niemals fünf Minuten zu vergehen schienen, ohne dass die Palästinenser erwähnt wurden. Und was für eine unerhörte Bandbreite an Verschwörungstheorien im Angebot war, vor allem nach dem 11. September 2001.
Dass vieles davon heute in Internetforen blüht und wuchert und sich die Speakers’ Corner als prädigitaler Vorläufer von sozialen Medien und Onlinekommentarspalten betrachten lässt, mag banal klingen. Bemerkenswerter ist vielleicht, dass die Speakers’ Corner selbst im Zeitalter von Twitter und Facebook fortbesteht und eine Welt für sich bleibt – auch wenn die Zahl der Redner und die Publikumsmenge zurückgegangen sind.
Im Vorwort zu seinem Buch schreibt Wolmuth:„Die verhandelten Themen haben heute wie damals so gut wie nichts mit den Schlagzeilen des Tages zu tun. Mindestens die Hälfte der Redner sind Prediger, wie besessen wird über Fragen von Religion, Rasse und Nationalität debattiert. Viele regelmäßige Besucher sagen, der Ort habe sich mit den Jahren gewandelt, es gebe heute weniger Podeste als früher, der Kreis der Redner sei kleiner geworden, der Anteil an religiösen Versammlungen hingegen größer. Auch hat sich die Demografie verschoben, im Publikum wie auf dem Podium. Heute predigen hier mindestens ebenso viele Muslime wie Christen. Doch allen Veränderungen zum Trotz bewahrt sich die Speakers’ Corner ihre eigentümliche Faszination, die aus der Intensität und Verschrobenheit des unmittelbaren Austauschs von Argumenten entsteht.“
Inmitten eines lückenlos durchgetakteten und entsprechend einschläfernden Wahlkampfs, wie wir ihn in Großbritannien vor den Unterhauswahlen gerade erleben (selbst bei Versammlungen der vermeintlich unangepassten Ukip wird die Publikumsbeteiligung auf ein Minimum beschränkt), haben diese Worte echtes Gewicht. Bei allen extremen und abwegigen Tiraden, die es im Hyde Park zu hören gibt, kann das, was Wolmuths Buch feiert, in der Tat nicht genug gepriesen werden: ein Umfeld, in dem niemals die leblose politische Standardrhetorik ertönt – „hart arbeitende Familien“, „schwere Entscheidungen“, der ganze Quatsch.
Hier sagen die Redner unverblümt, was sie denken. Manchmal kann das abstoßend sein. Engstirnigkeit und Fanatismus brodeln regelmäßig hoch und oft bleibt dabei der Anstand auf der Strecke. Aber vermutlich ist gerade das der Punkt: Dass wir echte Redefreiheit erleben, spüren wir nur dann, wenn sie uns auch kränken und tief empören kann.
Mein liebstes Rednerzitat aus Wolmuths Buch stammt von einem gewissen Jim Huggon aus dem Jahr 1981:
„Wie wird man Anarchist? Nun, das ist nicht leicht. Man kann nicht einfach so das ganze Gefüge der westlichen Zivilisation umkrempeln. Vor allem ist es rechtswidrig. Das muss man üben. Fangen Sie mit ein paar kleineren Verstößen an: Fahren Sie nachts ohne Licht mit dem Rad nach Hause. Betreten Sie den Rasen. Wenn Sie dann selbstsicherer werden, gehen Sie Größeres an: Erregen Sie öffentliches Ärgernis. Stören Sie die Ruhe der Königin. Trainieren Sie weiter – und bald schon werden Sie Banken ausrauben und Regierungen stürzen.“
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INFO:Speakers’ Corner - Philip Wolmuth - The History Press 2015, 120 Seiten, 27,66 €
Artikel von John Harris, Autor des Guardian - abgedruckt in der Freitag
Übersetzung: Michael Ebmeyer
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Speakers' Corner auf Google Map |
Hier - solch ein Blog - das ist für mich wenigstens - auch so ein Redeplatz wie auf der Insel dort drüben im Hydepark: Das Internet als Speakers' Corner ... - so sollten Sie lieber Leser es jedenfalls betrachten und wahrnehmen: Vielleicht zeigen Sie auch hier bei der Betrachtung und Lektüre "unterschiedliche Grade an Verblüffung, Gleichgültigkeit und Belustigung"... Und dass sich hier jemand bekehren lässt, ist wahrscheinlich unwahrscheinlich. Und doch hat das Ritual der Kommentierung des Weltgeschehens und die Reaktion darauf mit meinen kleinen kreativen S!NEDi-Ergüssen für mich jedenfalls etwas Unwiderstehliches, beinahe Magisches:
Denn es ist ausgelebte Rede- und Kreativfreiheit - ja - auch Politik und Religion im Rohzustand...