Ein typisches Bild von Henry Darger | imgbuddy.com |
Henry Darger und das verschwundene Bild eines erdrosselten Mädchens ...
Henry Darger
Henry Darger | smashinglists.com/wp-content |
(* wahrscheinlich am 12. April 1892 in Chicago; † 13. April 1973 ebenda) war ein zurückgezogen lebender amerikanischer Schriftsteller und Künstler, der als Hausmeister in Chicago lebte und arbeitete.
Er wurde bekannt durch das nach seinem Tode entdeckte 15.145 Seiten umfassende und mit mehreren hundert Zeichnungen und Aquarellen illustrierte Manuskript mit dem Titel The Story of the Vivian Girls, in What is known as the Realms of the Unreal, of the Glandeco-Angelinian War Storm, Caused by the Child Slave Rebellion. Dargers Werk wurde zu einem der am höchsten gelobten der Outsider Art.
Henry Darger hat keine Ausbildung genossen, er stammte aus armen Chicagoer Verhältnissen. Er war nicht nur literarisch und künstlerisch außergewöhnlich begabt, er hatte auch ein besonderes Talent, Stimmen zu imitieren. Mal sprach er in seiner Kammer mit den Stimmen der Vivians, mal ahmte er die herrischen Laute der Schwestern in den Krankenhäusern nach, in denen er sich seinen Unterhalt verdiente.
Als Zwölfjähriger war er nach einer dubiosen Diagnose (Selbst-Missbrauch - „self-abuse“, was wohl für eine Phase exzessiver Selbstbefriedigung stand) in ein Heim "für geistig Minderbemittelte" gesteckt worden, und hatte selbst seelische und körperliche Misshandlungen erlebt. Die Eltern hatte er früh verloren - mit 8 Jahren die Mutter, die bei der Geburt einer Schwester starb - und mit 13 Jahren den Vater, der aber zuvor schon kurz nach dem Tod der Mutter in einem Altersheim leben musste... Begegnungen mit Menschen suchte Henry Darger möglichst zu vermeiden. Lieber verstrickte er sich in Selbstgespräche, streifte in einem langen, abgetragenen Militärmantel durch die Straßen und durchflöhte die Mülleimer nach Dingen, die seine Fantasiewelt anregten.
Manchmal zog er Fäden aus dem Müll, verknotete sie und wickelte sie zu Wollknäueln auf. Vor allem aber sammelte er Gedrucktes, das sein Zimmer bald zustapelte. Aus diesem Stoff nährte er seine literarischen und bildlichen Welten. Die meisten Figuren zeichnete er nicht, sondern pauste ihre Konturen aus Anzeigen, aus Mal- und Kinderbüchern ab und fügte sie mit Kohlepapier in seine fantastischen Kampf- und Massakrierszenarien ein. Anschließend kolorierte er.
Darger hatte ein besonderes Gespür für eine fein nuancierte Farbgebung. Seine geflügelten Schlangen-Mensch-Wesen, "Blengins" genannt, können gut etwa neben den fantastischen Imaginationen von Max Ernst bestehen. Und seine collagierten Kompositionen lassen manchmal an die Figurenkonstellationen bei Neo Rauch denken.
Man kann den Kampf der Vivians als Auseinandersetzung mit den Grausamkeiten der Geschichte des 20. Jahrhunderts sehen. Sicher aber ist er zugleich Ausdruck einer produktiven Bewältigungsstrategie, mit deren Hilfe Darger seine Traumata verarbeitete.
So scheinen kleine Mädchen für ihn, seit seine Mutter bei der Geburt seiner Schwester gestorben war, besonders zwiespältig besetzt gewesen zu sein: Sie lösten in ihm auf der einen Seite Sehnsucht, idealisierende Schwärmerei und einen Beschützerinstinkt aus, aber auf der anderen Seite auch Wut und Aggression.
Dargers Hauptwerk lässt insgesamt keinen Zweifel daran, dass in seiner Phantasie aufgrund dieser Ambivalenz ein Inferno gewütet haben muss, das ihn ein Leben lang begleit: Es ist eben diese Erzählung mit dem Bandwurm-Titel "The Story Of The Vivian Girls in What is Known as the Realms of the Unreal, of the Glandico-Angelinian War Storm, Caused by the Slave Child Rebellion" - und mit 15.145 Seiten wahrhaft ein gewaltiges Epos. Zumal es noch eine Fortsetzung namens "Crazy House: Further Adventures in Chicago" gibt - mit weiteren 8500 handgeschriebenen Seiten.
Das Mammut-Manuskript erzählt von den Vivian Girls, sieben Prinzessinnen, die auf einem fremden Planeten mit vielen Monden, von denen einer die Erde ist, in einen blutrünstigen Aufstand von Kindersklaven gegen ihre erwachsenen Unterdrücker kämpfen. Es ist eben jene Geschichte, die Dargers Bilder illustrieren. Über weite Strecken ist die Erzählung dann auch eine Aneinanderreihung immer neuer, immer grausamerer Schlachtenszenarien. Denn was er in seinem Phantasieuniversum passieren ließ, war nicht weniger als eine Rache an Gott.
Das Original-Zeitungsbild mit Elsie Paroubek (escapeintolife.com) |
Bis zu seinem 19. Lebensjahr war Henry Darger ein strenggläubiger Katholik, der drei bis viermal täglich zur Messe ging. 1911 dann passierte etwas, das seinen Glauben über Jahre erschüttern und seinen restlichen Lebensweg vorzeichnen sollte: Der Verlust eines Fotos. Eigentlich war es lediglich ein grob gerasterter Zeitungsausschnitt. Er zeigte ein zehnjähriges Mädchen namens Elsie Paroubek. Diese wurde 1911 entführt und kurze Zeit später wahrscheinlich erdrosselt in einem Kanal aufgefunden. Warum das Bild Darger so wichtig war, ist ungeklärt. Doch in seinem Tagebuch beschrieb er den Kampf um das Foto. In seiner Autobiographie nimmt Darger an, dass dieses Foto gemeinsam mit zahlreichen anderen Sachen bei einem Einbruch in sein Appartement gestohlen wurde. Er fand dieses Foto nie wieder und als er das Bild im Zeitungsarchiv einer öffentlichen Bibliothek entdeckte, wurde ihm nicht erlaubt, es zu kopieren.
Als er den Kampf um dieses Bild als verloren glaubte, flehte er Gott an, ihm bei einer Wiederbeschaffung zu helfen. Erst bat er, dann drohte er damit, in seinen Manuskripten für "Realms of the Unreal"schreckliche Massaker zu entfesseln, wenn das Bild nicht wieder auftauche.
Dargers Bild von "Annabelle Aronburg - Vivian" - aus dem Gedächtnis gemalt nach dem verlorenen Zeitungsausschnitt rawvision.com |
Der Ausschnitt blieb aber verschwunden und Darger begann, die Geschichte der Rebellion der Kindersklaven zu schreiben. In ihr machte er Paroubek zur Kindermärtyrerin Annie Aronburg, deren grausamer Tod den Aufstand der Halbwüchsigen gegen ihre Unterdrücker auslöst. Der Mordanschlag auf die kindliche Rebellin Annie Aronbourg wird darin als schockierendster Kindermord dargestellt, den die glandelinische Regierung je zu verantworten hatte und der deshalb den Krieg auslöste. Durch die Leiden in diesem Krieg hoffen die Vivian Girls in der Lage zu sein, einen Sieg für die Christenheit zu erringen. Darger sah zwei Enden für die Geschichte vor. In der einen triumphierten die Vivian Girls, in der anderen wurden sie geschlagen und die gottlosen Glandelinians übernahmen die Herrschaft. Erst 1944, zwei Weltkriege und 32 Jahre später, beendete er sein Epos. Der Grund dafür, sein Leben einer Geschichte über eine Revolution von Kindersklaven zu widmen, bleibt trotz des gigantischen Umfangs im Dunkeln. Fest steht, dass er in seiner Jugend dreimal versucht hatte, aus den Kinderheimen, in denen er aufwuchs, zu fliehen, bis es ihm mit 17 endlich gelang. Kurze Zeit später wurde die Anstalt, aus der er entkommen war, in einen Missbrauchskandal verwickelt. Viele Darger-Experten vermuten, dass auch der Künstler selbst ein Opfer geworden sei.
Eine der grausamen Schlachtszenen Dargers | escapeintolife.com |
Mithilfe seiner fiktiven Ersatzhandlungen gelang es Darger offensichtlich, Begehren und Aggression gegenüber dem weiblichen Geschlecht in Form von jungen Mädchen zu sublimieren. Trotz der heilsamen Abenteuer in seinem "Reich des Irrealen" aber blieb er ein einsamer Mann. "Ich hatte ein elendes Weihnachten", schrieb er zwei Jahre vor seinem Tod. "In meinem Leben gab es nie ein glückliches. Ich bin bitter, aber ich sehne mich glücklicherweise nicht nach Rache."
Darger hat die Handlung seines riesigen Romans auch in 300 hinreißende Aquarellzeichnungen übersetzt. In der Kunstwelt werden sie als Sensation gefeiert. Kürzlich gelangten 45 von ihnen durch eine Schenkung in den Besitz des Pariser Musée d'Art Moderne. Zusammen mit Leihgaben aus diversen Sammlungen werden sie ab Freitag dort ausgestellt.
- Henry Darger. 1892-1973. 29. Mai bis 11. Oktober im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris.
Text unter Verwendung von Artikeln aus: WIKIPEDIA , SPIEGEL.de, SPIEGEL.de