Von Monika Rössiger | Der Tagesspiegel
Der Respekt vor den Großmäulern ist berechtigt. Die Kiefer eines erwachsenen Krokodils sind stark genug, um ein Gnu im Fluss niederzuringen und zu zermalmen. Aber diese Kiefer sind, wie man nun entdeckt hat, alles andere als nur brutal. Wie sich herausstellt, sind sie auch mit einer hohen Sensibilität ausgestattet. Wenn die bis zu neun Meter langen Räuber nachts im Wasser lauern, nehmen sie ihre potenzielle Beute selbst aus weiter Entfernung noch wahr. Und dass, ohne sie sehen, hören oder riechen zu können. Wie schaffen die Krokodile das?
Offenbar mit Hilfe von feinen Sensoren in ihrem Kiefer, den ISO's, den Integumentary Sense Organs. Taucht eine durstige Antilope ihre Lippen in einen Fluss, verursacht sie unweigerlich Wasserbewegungen. Und die lassen bei einem hungrigen Krokodil sofort die Alarmglocken schrillen, weil sie die Sinneszellen im Unterkiefer erregen. Die Kiefer sind somit nicht nur ein „Jagdwerkzeug“, um die Beute zu erlegen, sie dienen auch als wichtiges Sinnesorgan zum Aufspüren der Beute, wie Daphne Soares, Biologin an der University of Maryland, anhand von Missisippi-Alligatoren herausgefunden hat.
In Experimenten reagierten die Tiere mit einer Feinsinnigkeit, die man ihnen auf Grund ihres ruppigen Äußeren kaum zutrauen würde: Sogar ein einzelner Wassertropfen, der auf die Wasseroberfläche im Krokodilsbecken fiel, reichte aus, um eine eindeutige Reaktion auszulösen. Die Echsen wendeten den Kopf oder gleich den ganzen Körper in die Richtung des Tropfens, der so weit weg war, dass sie ihn weder sehen noch hören konnten. Dieses Orientierungsverhalten zeigten die Alligatoren aber nur, wenn ihre Köpfe auf der Wasseroberfläche lagen. Sobald sie komplett über oder unter Wasser waren, blieb die Reaktion aus.
Das „Gesicht“ der Alligatoren ist mit „Knubbeln“ übersäht, die so verteilt sind, als hätten die Tiere einen Bart. Diese Auswölbungen, die sich auch innerhalb der Schnauze befinden, sind für die Orientierung der Krokodile offenbar unverzichtbar, hat die Biologin Soares entdeckt: Als sie sie mit Plastik abdeckte, reagierten die Tiere überhaupt nicht auf fallende Wassertropfen.
Bislang wurden die Höcker von Wissenschaftlern vor allem als Unterscheidungskriterium zwischen den Familien von Alligatoren und Krokodilen angesehen. „Ihre Funktion, Innervierung und stammesgeschichtliche Herkunft waren jedenfalls unbekannt“, berichtet Daphne Soares im Wissenschaftsmagazin „Nature“.
Die Oberhaut der Höcker wie auch die Keratinschicht erwiesen sich in der Untersuchung als weitaus dünner, als es bei der übrigen Haut der Fall ist. Außerdem sitzt unter jedem Höcker ein weitverzweigtes Nervenbüschel, das mit dem Gesichtsnerv (dem „Trigeminus“) verknüpft ist. Nach Auffassung von Soares ist das nicht überraschend, weil der Gesichtsnerv auch in hochspezialisierten Organen anderer Wirbeltiere eine wichtige Rolle spielt, etwa bei den Infrarot-Detektoren von Schlangen.
Die Höcker – in Fachsprache: „Druckrezeptoren“ – reagieren auf feinste Bewegungen an der Wasseroberfläche und lösen dann im Trigeminus-Nerv ein typisches Erregungsmuster von elektromagnetischen Impulsen aus. Das stellte die Forscherin fest, als sie einzelne Höcker und die Haut zwischen ihnen reizte und dabei die Aktivität am Gesichtsnerv maß. Hinweise auf solche Druckrezeptoren im Kiefer sind bereits an fossilen Krokodilen aus der Jura-Zeit zu finden. Das bedeutet, dass die amphibisch lebenden Tiere schon vor rund 200 Millionen Jahren in der Lage waren, ihre Waffen mit einem gut funktionierenden Tastsinn zu kombinieren. Die altertümlichen Echsen, die den Planeten schon besiedelten, lange bevor die Dinosaurier auftauchten, bewohnen heute die tropischen und subtropischen Regionen der gesamten Erde.
Die meisten Vertreter der Krokodilsfamilie leben in der Alten Welt, die Alligatoren in der Neuen Welt. Im südlichen Asien ist der Ganges-Gavial zu Hause, einziges Mitglied einer eigenen Familie, der Gavialidae. Von dort stammt auch die Meldung einer recht eigentümlichen Beziehung zwischen Mensch und Tier:
Ein thailändischer Fischer, in dessen Netz sich einst ein junges Krokodil verfangen hatte, lebt mit dem Reptil bereits seit drei Jahren friedlich unter einem Dach. Das Tier verstehe sich bestens mit dem 10-jährigen Sohn des Fischers und den Hunden der Familie. Nachts schläft das zwei Meter lange Krokodil mit im Bett des Fischers. Offenbar schnappt nicht jedes Großmaul sofort zu.
Bildmaterial: Adam Britton & Sue Stelly (teilweise bearbeitet)
Bildmaterial: Adam Britton & Sue Stelly (teilweise bearbeitet)