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Vernunft & Mitgefühl - Alfred Grosser: Plädoyer wider die Leidenschaft in aufwühlenden Zeiten

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Aus: Christ & Welt Ausgabe 47/2015

AFP | Berliner Zeitung



Empört euch (nicht)

Gegen den Terror von Paris helfen nur Vernunft und Mitgefühl. Ein Plädoyer wider die Leidenschaft in aufwühlenden Zeiten. 
Von ALFRED GROSSER

Die Menschen weinen, legen Blumen nieder am Ort des Massakers. Es sind stille Botschaften der Würde und der Solidarität, die nach den Anschlägen von Paris zu beobachten waren. Demonstrationen gab es keine, diese waren aus Sicherheitsgründen verboten. Dennoch ist die Solidarität allgegenwärtig, stehen Menschen überall Schlange, um der Opfer zu gedenken und den Überlebenden Blut und Plasma zu spenden. In den Krankenhäusern wurde seit Freitag das Personal verfünffacht. Aus ganz Frankreich trafen Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger ein. Bis heute bieten auf Twitter unzählige Menschen Obdach an, wollen jedem helfen, der unter Schock steht und sich sorgt, ob die Angehörigen sicher sind und überlebt haben.

Wie waren die Attentate möglich? Einige Zeugen wollen gehört haben, dass die Mörder im Bataclan riefen: »Wir bestrafen François Hollande!« Damit meinten sie dessen Engagement in Syrien und die französischen Bomben auf den Islamischen Staat. Dafür spricht: Der erste identifizierte Attentäter heißt Omar Ismail Mostefai. Bei der Leiche eines anderen Attentäters fand sich ein syrischer Pass. Es stimmt: Frankreich kämpft gegen den IS und fühlt sich von Deutschland und Großbritannien allein gelassen. Schließlich bekämpft die Türkei mit Russland und Assad die Kurden und damit die einzige Volksgruppe, die dem IS bislang die Stirn bot. So befreiten kurdische Einheiten erst kürzlich Sindschar an der irakischen Grenze zu Syrien.

Insoweit haben die Anschläge von Paris bei aller Tragik einen positiven Nebeneffekt: Sie haben die französische Regierung gelehrt, dass Frankreich in seinem Kampf doch nicht allein gelassen wurde von Europa und ihm nicht nur Amerika in dieser Situation zur Seite steht. Die Amerikaner fliegen zwar das Gros der Angriffe (nur vier Prozent der Luftschläge gehen von französischen Flugzeugen aus), haben aber mit dem Irakkrieg, den sich Bush und Blair mit falschen Fakten passend logen, die Grundlage für den IS und die Destabilisierung der Region geschaffen.

Aber nicht nur sein Engagement im Nahen Osten macht Frankreich für den Islamischen Staat zum Ziel. Auch in Mali haben französische Truppen Massenmorde von islamischen Fundamentalisten im Alleingang verhindert. Zudem ist Frankreich das Land Europas, in dem der Laizismus gesellschaftlicher Konsens ist und die Mehrheit ein Burka-Verbot in der Öffentlichkeit nicht nur duldet, sondern befürwortet.

Doch die Attentate zeigen auch, dass das Wort »Krieg«, das nicht nur François Hollande, sondern auch viele Medien seit Freitag in den Mund nehmen, an der Tragweite der Geschehnisse vorbeigeht. Denn gegen wen führt Frankreich nun Krieg? Gegen den IS? Gegen den hat es schon vorher Angriffe geflogen. Gegen Flüchtlinge? Gegen die Muslime schlechthin? Schon heißt es von rechts: Frankreich sei »moscheisiert« (»la mosquéisation«). Marine Le Pen hält sich noch zurück, sagte aber bereits, dass die Franzosen in Frankreich seit Freitag nicht mehr in Sicherheit leben können. Bereits vor den Anschlägen hatte sie vermutet, dass sich unter den aufgenommenen Flüchtlingen Terroristen befinden. 

Damit die Toten nicht politisch instrumentalisiert werden, kündigten alle Parteien nun an, den Wahlkampf für die Regionalwahlen im Dezember unterbrechen zu wollen. Doch schon jetzt ist klar: Der Front National darf hoffen, von einer neuen Welle der Fremdenfeindlichkeit und des Antiislamismus profitieren zu können. Seine Sprache und Parolen ähneln dabei denen von Pegida und der AfD, wobei sich alle Verteidiger des Abendlands mal die Frage stellen sollten, welches Abendland sie da eigentlich verteidigen. Das Abendland der Millionen Toten des Ersten Weltkriegs, das Abendland des Holocaust oder das des Kolonialismus? Wer kann in Europa in Anbetracht der eigenen Geschichte ernsthaft glauben, der Islam könne rein gar nichts Gutes beitragen zum Abendland, ja er könne dem Abendland sogar schaden, wie es sich und der Welt in der Geschichte nicht längst bereits geschadet hat?

Die Zeit der Trauer ist nun angebrochen, nur muss man Trauer heute in einem neuen und globalen Sinn verstehen, der über die Anschläge von Paris hinausgeht. Der Schriftsteller Navid Kermani hat diese Trauer über Grenzen und Religionen hinweg in seiner Friedenspreisrede eindringlich wie ergreifend beschrieben. Vor einiger Zeit vernichtete der IS beispielsweise mit den Waffen des 20. Jahrhunderts in der syrische Wüste zwei jahrhundertealte Klöster. Diese Klöster waren Orte der Verständigung zwischen Christen und Muslimen. Die Mönche, die dort lebten, schätzten, ja liebten den Islam sogar, ähnlich wie die Mönche im algerischen Tibhirine, die 1996 von islamischen Fundamentalisten entführt und kurz darauf enthauptet wurden. 

Diese Wertschätzung, diese Liebe kann ein Vorbild sein trotz allem. In Frankreich wie in Deutschland gibt es zahlreiche Orte der Verständigung zwischen Christen, Muslimen und Humanisten. Sind Wertschätzung und Verständigung nun naiv oder eine Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben? Viel hängt davon ab, wer jetzt in Politik und Medien das Wort ergreift. Ich hoffe, dass es in Frankreich die geistigen Erben des großen Orientalisten Louis Massignon sein werden. In Deutschland könnte Rupert Neudeck eine solche Stimme sein. Allein für sein Engagement in Syrien hätte Neudeck den Friedenspreis schon längst verdient. Unter den Journalisten sei der Rundfunkreporter Martin Durm genannt, der auch noch als Augenzeuge berichten kann, dass die Menschen in Damaskus oder Beirut dem Zerrbild widersprechen, das Pegida und Marine Le Pen gerne von ihnen zeichnen.

Letzten Endes geht es in Deutschland wie in Frankreich um den seit der Aufklärung schwelenden Kampf zwischen aggressiver Leidenschaft und mitfühlender Vernunft. Wenn Reinhard Kardinal Marx etwa in einem »Spiegel«-Interview  sagt: »Man kann nicht zugleich katholisch und fremdenfeindlich sein«, ist das keine Kritik an Horst Seehofer und seiner CSU. Es ist viel mehr. Es ist die Aufforderung, die ethischen Prinzipien, zu denen wir uns alle verpflichtet haben, auch ernst zu nehmen und mit Vernunft zu leben. Denn die größte Schwäche der Leidenschaft ist es schon immer gewesen, dass sie taub ist für das Leid der anderen. Das hat der wechselseitige Hass zwischen Deutschen und Franzosen gezeigt, der letztendlich zum Ersten Weltkrieg führte. Deshalb sind wir alle heute aufgefordert, uns mit mitfühlender Vernunft für die Vernunft und die Verständigung zu engagieren. Vielleicht können wir dann verhindern, dass der Hass unsere Gesellschaften überschwemmt.


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"Denn die größte Schwäche der Leidenschaft ist es schon immer gewesen, dass sie taub ist für das Leid der anderen", schreibt Grosser in seinem Plädoyer oben. Wenn ich auch sonst mit dem Plädoyer unbedingt einig bin - aber dieser etwas einseitigen Zuweisung der "Leidenschaft" muss ich als "leidenschaftlich" empfindlich lebender Mensch doch widersprechen... Vielleicht kann Grosser das aus seiner bleu-blanc-rouge Brille auch nicht wissen, aber im Deutschen heißt ja auch eine Spruchgleichung: Leidenschaft = Leiden schafft ... Und das meint nicht nur das Leid des Anderen, das durch die Leidenschaft womöglich angerichtet wird und wogegen sie geradezu "taub" sein soll - sondern bezieht sich auch auf den in Leidenschaft Stehenden selbst. Auch der leidet oft unter dieser seiner ureigenen Leidenschaft, nimmt Opfer auf sich, spendet sein letztes Hemd, verschuldet sich bis über beide Ohren, um dieser seiner Leidenschaft willen - um der Leidenschaft zu frönen.

Nun könnte man ja sagen, gut - wenn dem so ist - "Leidenschaft" ist ja keine Generaltugend - hüten wir uns also vor ihr: doch da bin ich der Meinung, ohne eine große Portion an dieser "Leidenschaft" wäre Kunst, wäre Geniales nicht möglich. Weiterführende leidenschaftliche Ideen blieben im Keim stecken ... - die die Menschheit immer auch "voran" gebracht haben, die menschliche Kultur bereichern über Jahrtausende hinweg...

WIKIPEDIA meint: Leidenschaft (gesteigert, aber als Begriff abkommend: Inbrunst) ist eine das Gemüt völlig ergreifende Emotion. Sie umfasst Formen der Liebe und des Hasses, wird aber auch für religiösen, moralischen oder politischen Enthusiasmus benutzt und beschreibt die intensive Verfolgung von Zielen von beispielsweise Kunstliebhabern, Sammlern oder von Tierfreunden. Im ursprünglichen Sinn schwingt der Beilaut von etwas Zerstörerischem oder Leiden Schaffendem mit. Im heutigen Alltagssprachgebrauch hat der Begriff diese Konnotation eher selten; 'Leidenschaft' wird oft wertfrei oder positiv konnotiert (siehe auch Liebesbeziehung).
Die antike Philosophie der Stoa sah in der Beherrschung der Leidenschaften (Affektkontrolle) ein wichtiges Lebensziel. Die Mäßigung (insbesondere die der Lust) ist eine der vier platonischen Kardinaltugenden.

Der große Franzose René Descartes (1596 - 1650), ein Philosoph und Naturwissenschaftler, interpretierte die „Leidenschaften“ als natürliche mentale Ausflüsse der kreatürlichen Körperlichkeit des Menschen. Sie verpflichtet den Menschen als ein zugleich mit einer Seele begabtes Wesen aber auch zu ihrer Kontrolle durch den Willen und zu ihrer Überwindung durch vernunftgelenkte Regungen wie z. B. selbstlosen Verzicht oder großmütige Vergebung.

Der Ausdruck wurde in die deutsche Sprache von Philipp von Zesen (1619 - 1689) für das lateinische Wort passio eingeführt - woher wir ja auch von der "Passion" Jesu sprechen ob seines Leidensweges - aber auch sagen: Seine "Passion" war das Kartenspiel - oder etwa: Ihre Passion war die Kunst ... zum Beispiel ...

Die "Leidenschaft" selbst ist also zumeist nicht einseitig nur taub für die andere Seite - sondern vor lauter "Enthusiasmus" leidet der Leidenschaftliche oftmals selbst an ihr: "Hier stehe ich - ich kann nicht anders" ... soll Luther auf dem Reichstag zu Worms ausgerufen haben ... - und dafür, für sein "Nicht-anders-Können", wird er im übernächsten Jahr zum 500. Geburtstag der Evangelischen Kirche besonders geehrt - von Anderen dafür jedoch vielleicht auch besonders gehasst ... - es hält sich wahrscheinlich im Nachhinein immer die Waage ...S! (mit Infos aus WIKIPEDIA).

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