Ein Leben lang im Gespräch: Rupert Neudeck mit einer aus Afghanistan geflüchteten Frau und ihrem Kind im Juli 2015 in Berlin |
Rupert Neudeck:
»Eingefahrene Gleise verlassen«
Was sich im Umgang mit Flüchtlingen und in der deutschen Asyl-Bürokratie ändern muss. Das Vermächtnis des kürzlich verstorbenen Menschenfreunds Rupert Neudeck. Auszug aus seinem letzten Buch »In uns allen steckt ein Flüchtling«
In meinen Augen ist die wichtigste Forderung: Flüchtlinge müssen gleich nach ihrer Ankunft in Deutschland etwas tun! In der Regel ist in den deutschen Kommunen die Versorgung gut. Gar nicht gut ist aber, dass die Mehrzahl dieser Menschen einfach nichts tun muss und deshalb vieles brachliegt. Und das über Monate. Wir müssen uns bemühen, eine freundliche, aber bestimmte Disziplin in die Asylbewegung zu bekommen. Nur wenn wir das schaffen, können gewaltsame Auseinandersetzungen verhindert werden. Die Flüchtlinge brauchen einen geordneten Tagesablauf. Das kann aber nicht allein durch Deutschunterricht erreicht werden. Es müssen Projekte angestoßen werden, bei denen sich gerade junge Asylbewerber und Flüchtlinge einbringen können, etwa im Baugewerbe oder in anderen handwerklichen Berufen, in denen sie schon in ihrer Heimat Fertigkeiten an den Tag legten. Das ermöglicht ihnen eine Perspektive, und sie fühlen sich in ihrer Wartezeit nicht alleingelassen. Unsere eigene Mitleidshaltung, untermauert von unserem für selbstverständlich gehaltenen Wohlstand, führt dazu, dass wir Flüchtlinge noch immer als arme, abhängige Wesen sehen, denen im nächsten Krankenhaus eine Infusion gelegt werden muss. Passivität ist das größte Hindernis für Integration.
Vom ersten Tag ihrer Ankunft an sollte man den Flüchtlingen aber keine Angebote machen, sondern sie sollten einen Zettel in ihrer Sprache überreicht bekommen, auf dem ihre Verpflichtungen festgehalten sind. Zu diesen gehört aber nicht nur der tägliche Deutschunterricht, sondern auch das Reinemachen der Einrichtungen einschließlich der Toiletten und des gesamten Geländes.
Wollen sich gegenwärtig Flüchtlinge selbst an Reinigungs- und Küchendiensten beteiligen, müssen sie regelrecht darum kämpfen, denn Organisationen, die für die Erstaufnahme zuständig sind, geben die Anträge zur Reinigung der Unterkünfte an Firmen weiter, die davon profitieren.
Jeder Mensch lebt und erlebt sich durch ein Tätigsein. Das muss am Anfang nicht unbedingt eine tariflich entlohnte Arbeit sein, aber es sollten Möglichkeiten geschaffen werden, tagsüber etwas Sinnvolles zu tun. Deshalb sollten Asylbewerber etwa in Kommunen allgemeine Arbeitsdienste übernehmen oder in den Natur- und Umweltschutz eingeführt werden.
Viele Helfer sind über solche Forderungen schockiert, meinen, so etwas könne man den »armen Flüchtlingen« nicht zumuten, die sollten nach ihren schweren Erlebnissen erst einmal gar keine Verpflichtung habe. So wurde das auch lange Zeit gehandhabt, das war aber oft genug der verkehrte Weg. Menschen brauchen das Gefühl, nützlich zu sein, auch wollen Flüchtlinge für das großzügige Geschenk der Aufnahme etwas zurückgeben. Vor über zehn Jahren wurde ich von der Stadtbehörde meiner Heimatgemeinde gebeten, eine Streitschlichtung zu übernehmen. Bei mir konnten sie sich sicher sein, dass ich nicht gegen Ausländer war. Der Hintergrund: Troisdorf war eine größere Gruppe von Somaliern zugewiesen worden, die alle in einem Haus leben sollten. Die Somalier lehnten aber dieses gemeinsame Haus ab, mit der Begründung, dass sie verfeindeten Stämmen angehörten. Nachdem ich mir das angehört hatte, sagte ich mit äußerster Schärfe: »Wenn Sie Ihre Stammeskonflikte weiter fortsetzen wollen, gibt es nur den Weg zurück nach Somalia. In Deutschland, in Troisdorf, müssen diese Art Auseinandersetzungen beendet werden. Hier kämpfen nicht mehr Stämme gegeneinander, sondern hier wartet jeder darauf, dass er baldmöglichst die deutsche Staatsbürgerschaft bekommt.« Und danach war es auf einmal möglich, dass die verschiedenen Stämme zusammenlebten.
Kein Süßholz raspeln
Noch ein zweiter Satz ist ähnlich falsch, so rührend-romantisch er auch im ersten Moment wirkt. Zum ersten Mal hörte ich ihn in einer Frauengruppe in Troisdorf, dort meinte man: »Wir versuchen, die Wünsche, die die Flüchtlinge haben, zu erfahren und diese auch real werden zu lassen.« Ich halte ein solches Vorgehen für kontraproduktiv, insbesondere in Bezug auf unser aller Anliegen, das Einleben der Menschen, die von weither zu uns kommen, zu erleichtern. Um das zu gewährleisten, ist es wenig sinnvoll, Süßholz zu raspeln, in diesem Fall ist Klarheit angesagt.
Es war vielleicht der mutigste und wahrscheinlich tollkühnste Satz, den Angela Merkel in ihrer Kanzlerschaft verlauten ließ: »Deutsche Gründlichkeit ist super, aber jetzt ist deutsche Flexibilität gefragt.« Tollkühn ist der Satz, weil er allem widerspricht, was man von deutschen Ämtern gewohnt ist.
Um die deutsche Gründlichkeit zu begreifen, ein paar Beispiele. In der ostfriesischen Stadt Leer bietet die dortige Volkshochschule Integrationskurse an, die in der Regel vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bezahlt werden. Eine Teilnehmerin hatte an einem Kurstag nur mit Bleistift unterschrieben. Der aufmerksamen Sachbearbeiterin fiel das auf, denn »gemäß § 2 Absatz 4 Satz 2 AbrRL« sind Eintragungen in die Liste mit einem Kugelschreiber oder einem ähnlich radierfesten Stift vorzunehmen. Der Tag dieser Teilnehmerin – man ist ja so herrlich unflexibel im Größenwahn deutscher Gründlichkeit – würde als Fehlzeit gewertet werden müssen, dies jedenfalls teilte die Sachbearbeiterin der Volkshochschule mit. Auch eine andere deutsche Staatsvertreterin mit Hoheitsaufgaben befasste sich ausgiebig mit den Möglichkeiten eines Betrugs am Staatsvermögen. Sie vermisste bei der Unterschrift eines Herrn nicht nur »Andeutungen von Buchstaben«, sondern auch »einzelne individuelle Merkmale«. Auch sie stellte »selbst zu vertretende Fehlzeiten« fest. Gitta Connemann, geboren in Leer und CDU-Mitglied, meinte, bei dem Herrn handle es sich womöglich um einen Analphabeten. Das könne die fehlende »Andeutung von Buchstaben« erklären.
Der Kölner Kardinal Rainer Woelki stellte den jammernden Behörden Gebäude für Flüchtlinge zur Verfügung. Es hieß, eines der Häuser würde nicht den Baustandards entsprechen, ein zweites Gebäude stünde unter Denkmalschutz. Denkmalschutz ist in unserem Luxusland ja auch wichtiger als Flüchtlingsschutz.
Handwerk und Gewerbe suchen dringend Leute, doch das kümmert die dogmatisch agierenden Arbeitsagenturen so gut wie gar nicht. Immerhin: Die Industrie- und Handelskammer (IHK) gab im Februar 2016 leise kund, dass man hoffe, die Flüchtlinge würden die Stellen einnehmen, die zukünftig kaum noch zu besetzen seien, insbesondere im Handwerk. Trotzdem sind die bürokratischen Grenzen bislang geblieben, sie weisen die Worte der Kanzlerin über eine dringend gebrauchte deutsche Flexibilität als pure Utopie aus.
Es bedarf also einer immensen Aufräumarbeit, um die eingefahrenen Gleise zu verlassen. Sie ist aber nötig, denn es geht um ziemlich viel, im Grunde um alles.
Und wäre es nicht auch für alle einfacher, den Syrern den Aufenthaltstitel gleich den einst geretteten Vietnamesen zu geben? Die Vietnamesen mussten damals keinen Asylantrag stellen und konnten sich vom ersten Moment an in der Bundesrepublik sicher fühlen. Ihr gutes Einleben hatte auch damit zu tun – warum diesem Beispiel nicht folgen?
Rupert Neudeck: In uns allen steckt ein Flüchtling. C. H. Beck. 169 Seiten. 10 Abb. 14,95 €; Publik-Forum-Best.-Nr. 3818
aus: PUBLIK-FORUM, Nr. 14|2016 - S. 18-19