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(m)ein wort zum sonntag -88: Jacques Derrida und "Die Wolke des Nichtwissens"

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Vor Jahren hörte jemand in Toronto den französischen Philosophen Jacques Derrida vor einer Versammlung von Akademikern sprechen. Es war auf der Jahresversammlung der American Academy of Religion and Society of Biblical Literature; genauer, er saß in einer Runde, die von seinen Schülern und Bekannten befragt wurde. Es ist bekannt, dass er Atheist ist (nicht an Gott glaubt) oder zumindest Agnostiker (also meint, dass Gott nicht existent ist). 

Jacques derrida - apieceofmonologue.com


Überraschenderweise war eine der ersten Fragen an ihn: "Beten Sie?" Seine Antwort war noch erstaunlicher: "Ich bete andauernd; auch jetzt, wie ich hier sitze und mit Euch spreche." 

Die nächste Frage war in etwa: "Professor Derrida, Sie haben doch in der Vergangenheit ihren Lesern immer zu verstehen gegeben, dass Sie nicht an Gott glauben. Was meinen Sie mit 'Ich bete andauernd'? Zu wem oder was beten Sie denn?" 

Seine Antwort: "Wenn ich bete, rufe ich in den Abgrund. Beten ist ein Ruf. Und man ruft ja nicht, wenn jemand da ist. Man ruft nur, wenn jemand fort ist, oder weit weg. Beten bedeutet jemanden rufen, der nicht direkt in der Nähe ist, ein Ruf ins Unbekannte."



....................

In einer mittelalterlichen Handschrift mit dem Titel „The Cloud of Unknowing“, übersetzt „Die Wolke des Nichtwissens“, beschreibt ein unbekannter englischer Mystiker im ausgehenden 14. Jahrhundert einen christlichen Versenkungsweg, der in die unio mystica, die Vereinigung mit Gott führen möchte. Die Ostkirche spricht von der Theosis, der Vergöttlichung des Menschen.



Nach Aussagen des unbekannten englischen Verfassers ist sie ein göttliches Gnadengeschenk. Er schreibt, dass sich Gott in Bildern, Gedanken und Worten nicht fassen lässt. Das mystische Gebet erfordere vom Übenden daher, alle Gedanken, Überlegungen, Vorstellungen und Fantasien zu lassen, an nichts anzuhaften, offen zu sein und „an sich geschehen lassen“.

Weiter schreibt er: „Löse dich innerlich von allen Geschöpfen und schenke ihnen keine Aufmerksamkeit mehr. […] Von deinem Bemühen werden alle Menschen Gewinn haben. Du wirst allerdings nie ganz verstehen, wie das vor sich geht. […] Diese Übung scheint dir das Einfachste der Welt zu sein, wenn Gott deine Seele mit fühlbarer Freude erfüllt. Du übst gerne. Entzieht er aber seine Hilfe, fällt die Übung dir sehr schwer, ja, sie erscheint dir fast unmöglich. Doch lass nicht nach und übe solange, bis sie dir wieder Freude macht. 

Für einen Anfänger ist es normal, nichts wahrzunehmen als ein gewisses Dunkel, das dein Bewusstsein umgibt, wie eine Wolke, in der man nichts erkennt. Du scheinst weder etwas zu erkennen noch zu spüren, außer einem reinen Verlangen nach Gott, das im tiefsten Inneren deines Seins lebendig ist. Gleich was du tust, dieses Dunkel und diese Wolke bleiben zwischen dir und deinem Gott. Du bist zunächst enttäuscht, denn du kannst ihn weder mit deinem Denken erfassen, noch fühlst du dich von seiner Liebe überströmt. 

Versuche, dich in diesem Dunkel zu Hause zu fühlen. Sooft du kannst, kehre in dieses Dunkel zurück und rufe nach dem, den du liebst. Wenn du hoffst, Gott in diesem Leben schauen und erfahren zu können, wie er in sich selbst ist, dann wisse, dass das nur im Dunkel dieser Wolke möglich ist. Wenn du, wie ich dir geraten habe, bestrebt bist, einzig Gott zu lieben, alles andere zu vergessen und damit zum Kern der kontemplativen Übung vordringst, dann bin ich sicher, dass Gott in seiner Güte dich zu einer tiefen Erfahrung seiner selbst führen wird.“

Da es nicht ausbleibt, dass ablenkende Gedanken dem Übenden zu schaffen machen, empfiehlt der Autor der „Wolke“ ein kurzes Wort („Nimm nur ein kurzes Wort mit einer einzigen Silbe; das ist besser als eines mit zwei Silben, denn je kürzer es ist, desto besser passt es zum Werk des Geistes.“), wie „Gott“ (God/Good) oder „Liebe“ (Love) oder ein anderes einsilbiges Wort zu wählen, das einem entspricht und der eigenen Sehnsucht Ausdruck verleiht. 

Das Wort soll man innerlich sprechen (mit dem Atem verbinden) und auf sich wirken lassen, ohne dass man über seine verschiedenen Bedeutungen nachdenkt. Der Autor weiter: „Das Einüben der inneren Sammlung und Ruhe ist mühsame Arbeit, es sei denn, Gott hilft auf besondere Weise, sonst braucht es schon lange, bis man sich daran gewöhnt. […] Warum aber ist diese Übung trotzdem so mühsam? Mühsam ist der unerbittliche Kampf gegen die zahllosen Gedanken, die dich zerstreuen und plagen, und dein Bemühen, sie unter die Wolke des Vergessens zu bringen, von der ich schon sprach. Das ist mühsame Arbeit, die wir leisten müssen, damit Gott in uns wirken kann. Er weckt dann die Liebe, was nur er allein vermag. Wenn du das Deine tust, wird Gott auch das Seine tun, das verspreche ich dir.“


Mit Material aus: 
http://www.mennoniten.de/fileadmin/downloads/reimer-beten.pdf
http://www.kontemplative-meditation.de/index.php/herzensgebet/grundlegung


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