Die französische Muslimin Stéphanie Lécuyer mit Rachid Nekkaz, dem "Zorro des Nikab" - Foto: Rebecca Marshall für DIE ZEIT |
Sie bricht das Gesetz. Er zahlt
Der algerische Millionär Rachid Nekkaz ist Kopftuchgegner. Trotzdem übernimmt er das Bußgeld für Hunderte Frauen, die das Verschleierungsverbot missachten
Er hat es wieder getan. Diesmal in Nizza, in einem stinkenden Schalterraum nahe dem Bahnhof, in der Bußgeldstelle der staatlichen Finanzbehörde. Die Frau an seiner Seite hebt ihren Schleier, zeigt ihr Gesicht und ihren Ausweis. Er zahlt das Geld, in bar, 150 Euro, plus 22 Euro Bearbeitungsgebühr, wie immer.
Der Verstoß: öffentliches Tragen des Nikabs, des muslimischen Gesichtsschleiers. Die Schuldige: Stéphanie Lécuyer, eine zierliche Französin, voll verschleiert. Der Mann mit dem Portemonnaie: Rachid Nekkaz, Unternehmer algerischer Herkunft, ein hochgewachsener Mann von 44 Jahren, Internetpionier und Immobilienkönig.
Nekkaz zahlt, wenn Frauen Geldstrafen bekommen, weil sie religiöse Kleidung tragen. Vor allem in Frankreich, wo seit 2011 das Anti-Verschleierungs-Gesetz gilt. Manchmal auch in Belgien und Holland. Er selbst ist Muslim. »Ich führe diesen Kampf nicht für den Islam«, sagt er, »sondern für die Menschenrechte und gegen jene Demokratien, die ihre eigenen Ideale verraten.« 583 muslimischen Frauen hat er schon geholfen, meist aus den Vorstädten, viele jung, viele alleinstehend. Insgesamt 245 181 Euro hat er dafür ausgegeben, aus einem von ihm selbst aufgelegten Fonds von einer Million Euro, dem »Fonds für die Verteidigung der Freiheit und der Laizität«. Wer ein Bußgeld zahlen soll, muss nur auf Nekkaz’ Internetseite gehen – und ihm eine E-Mail schreiben.
Viele sehen in ihm schon den nächsten algerischen Präsidenten
Nekkaz überweist das Geld nicht, er bringt es selbst vorbei, kommt oft sogar mit zum Bußgeldschalter. 375 der Frauen habe er persönlich getroffen, sagt Nekkaz. Um sich zu überzeugen, dass sie ihre Kleidung aus eigenem Antrieb tragen – und nicht auf Befehl ihres Ehemannes. Und um sich mit den Frauen öffentlich zu zeigen. Auch an diesem heißen Septembertag in Nizza hat er Journalisten Bescheid gegeben, ein Kamerateam des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders France 3 wird ihn begleiten.
Nekkaz und die Frau an seiner Seite verlassen die Bußgeldstelle und schlendern zum Meer, über den berühmten Strandboulevard, entlang der Luxushotels, dort, wo am 14. Juli ein islamistischer Attentäter mit einem Lastwagen 85 Menschen tötete. Nekkaz legt seine Hand auf Lécuyers Schulter. Er trägt Krawatte, Businesshose und ein tadelloses schwarzes Jackett. Sie trägt einen braunen Schleier, der nur ihre Augen frei lässt. Sie sind ein auffälliges Paar.
»Ihr tretet das Gesetz mit Füßen!«, schimpft eine ältere Dame auf dem Boulevard. »Provokateur!«, ruft ein Mann in kurzen Hosen. Aber Nekkaz bekommt in Nizza auch Applaus. Auf Höhe des Kasinos Le Ruhl bleiben zwei leicht bekleidete Studentinnen stehen, Französinnen mit algerischen Wurzeln. Sie rufen: »Rachid, warte, ein Foto bitte!« Als das ungleiche Paar den Boulevard an einer Ampel überquert, beginnen zwei Autos ein spontanes Hupkonzert. Die bärtigen Fahrer haben Nekkaz erkannt, öffnen ihre Fenster und winken. »Weiter so!«, rufen sie.
In der arabischen Welt und unter algerischstämmigen Franzosen gilt Nekkaz längst als Held. Erst recht, seit in französischen Städten wie Nizza in diesem Sommer der Burkini verboten wurde, bis ein Pariser Staatsratsbeschluss das Verbot wieder aufhob. Eine Million Menschen folgen ihm auf Facebook, viele sehen in ihm Algeriens nächsten Präsidenten.
Die nicht muslimischen Franzosen erkennen Nekkaz in der Regel nicht, aber viele regen sich über ihn auf, sobald sie eine verschleierte Frau an seiner Seite sehen. Einmal versuchten Pariser Abgeordnete, ein Gesetz gegen ihn durchzubringen, es sollte Dritten das Zahlen von Bußgeld verbieten. Ihr Plan scheiterte. In der vergangenen Woche haben sie es wieder versucht, Anfang Oktober soll der Senat darüber abstimmen, auf Antrag des Innenministeriums. Diesmal hat der Antrag gute Chancen durchzukommen. Nekkaz sagt, er wolle dann dagegen klagen.
Nekkaz und die Frau, mit der er in Nizza am Strand entlangspaziert, kennen sich gut. Stéphanie Lécuyer, 41, Tochter eines Pariser Polizisten, lebt in Nizza und konvertierte vor 20 Jahren zum Islam. Dann kam das Verschleierungsverbot. Lécuyer beschloss, sich nicht daran zu halten. Und wurde erwischt, wieder und wieder. Schon 46-mal handelte sie sich ein Bußgeld ein. 46-mal bezahlte Nekkaz für sie. »Rachid kam für mich gerade richtig«, sagt Lécuyer. Sie sieht sich als typische Verliererin: arbeitslos, geschieden, alleinerziehend. Er ist ein Gewinnertyp, ein Profiteur der Globalisierung. Als junger Mann gründete er ein Start-up, baute Internetseiten für große Verlage. Er wurde reich und besitzt heute Immobilien in Paris, Mailand, Miami, New York.
Dabei beginnt das Leben von Rachid Nekkaz dort, wo die meisten Träume an grauem Beton zerschellen: im Pariser Vorstadtghetto Choisy-le-Roi, Block 120. Rachid ist das neunte von zwölf Kindern, seine Eltern sind Algerier und beide Analphabeten. Der sieben Jahre älterer Bruder begreift, dass Rachid begabter ist als die meisten anderen Kinder. Und er begreift, was man in Frankreich braucht, um aus einem begabten Kind ein erfolgreiches Kind zu machen: einen Platz an einer Eliteschule. Wer dort hinwill, muss in der Regel in einem guten Viertel wohnen, die Plätze werden nach Wohnort verteilt. Der Bruder meldet Rachid im Pariser Voltaire-Gymnasium an, mit einer fingierten Adresse. Mit demselben Trick wechselt Rachid Nekkaz später an die Duruy-Schule, eine Vorzeige-Bildungseinrichtung direkt neben dem Eiffelturm. Nekkaz ist ein guter Schüler. Aber er muss seine Herkunft verschweigen, kann keinen Klassenkameraden nach Hause einladen. »Sie hielten mich für ein Botschafterkind«, sagt er.
Später studiert er Philosophie und Geschichte an der Sorbonne. 1997 schreibt er ein Buch über das Leben im Pariser Vorstadtghetto. Darüber, dass die Banlieue voller Hindernisse ist – und dass man sie überwinden kann. Für ein zweites Buch startet er zusammen mit seinem Co-Autor ein weltumspannendes Projekt: Er sammelt Fragen von mehr als 200 000 Jugendlichen aus 190 Ländern, die diese gern den großen Staatschefs stellen würden. Und genau denen legt Nekkaz die Fragen vor. Prompt laden ihn die G8-Staatschefs zu ihrem Gipfel im Jahr 1999 ein. Frankreich ist stolz auf sein Ghettokind. Das Hochglanzmagazin Paris Match berichtet über ihn, bald freundet sich Nekkaz mit Claude Chirac an, der Tochter des damaligen Präsidenten. Nekkaz wird zum ständigen Gast im Élysée-Palast.
Versöhnt hat ihn das nicht mit seinem Land: »Die Frustrationen der Jugend überwindet man nicht so schnell«, sagt er. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum er seine Internet-Millionen in Pariser Immobilien anlegte. Nie wieder sollte man ihn aufgrund seines Wohnsitzes diskriminieren können. Von seinen Reisen in die USA importiert er ein Geschäftsmodell nach Paris: Er kauft große Häuser mit großen Wohnungen, die er dann in viele kleine Apartments umbauen lässt. Das funktioniert bis heute. Nur will er jetzt alle seine Pariser Immobilien verkaufen. »Ich habe mit Frankreich gebrochen«, sagt er. »Seine Politiker, seine Intellektuellen, seine Medien: Alle sind Populisten. Das Land interessiert mich nicht mehr.« 2013 legte er seine Staatsbürgerschaft ab.
Unbequem war er schon früher. Im Wahljahr 2007 startete er ein spektakuläres Täuschungsmanöver: Er fingierte seine eigene Präsidentschaftskandidatur. Nicht um Präsident zu werden, sondern um korrupte Politiker zu entlarven. Wer in Frankreich Kandidat werden will, braucht von mehr als 500 Volksvertretern eine sogenannte parrainage, eine Art Bürgschaft. Nekkaz fand Bürgermeister, die ihm eine Bürgschaft ausstellten – gegen Geld. Der Politikbetrieb tobte, aber nicht wegen der korrupten Bürgermeister, sondern wegen Nekkaz. Später bekam er vor Gericht eine Bewährungsstrafe. Die Medien liebten den telegenen Jungunternehmer, der vor der Kamera die gekauften Bürgschaften zerriss. Bis er im Herbst 2010, als das Vollverschleierungsverbot in Kraft trat, einen Verein gründete. Touche pas à ma constitution heißt er, »Rühr meine Verfassung nicht an«. Nekkaz wendet sich gegen das Nikab-Verbot. Plötzlich wenden sich die Journalisten von ihm ab. Nekkaz steht allein da. Ohne Kameras, nur mit seinem Geld.
Er selbst ist gegen den Nikab, seine Frau, eine zum Islam konvertierte Amerikanerin mit Stanford-Abschluss, die mit dem gemeinsamen Sohn in San Francisco lebt, trägt keinen Schleier, Nekkaz selbst hält ihn für wenig hilfreich bei der Integration. Aber er sagt, er erinnere sich an seine Zeit im Voltaire-Gymnasium, als er die Schriften des großen französischen Aufklärers las: »Selbst wenn ich nicht damit einverstanden bin, was Sie sagen, werde ich immer dafür kämpfen, dass Sie es sagen können«, zitiert er.
Am Strand vom Nizza, dem Ort des Attentats vom Sommer, zitiert er Voltaire
Seit Rachid Nekkaz kein Franzose mehr ist, besinnt er sich stärker denn je auf seine Wurzeln. Seine Zukunft sieht er in Algerien. Seit 2013 verbringt er eine Hälfte des Monats in Paris und San Francisco – die andere in Algerien. Seit Ende 2014 wandert er durch das Land, um es besser kennenzulernen. Vier Märsche seien es bislang gewesen, insgesamt mehr als 3000 Kilometer. Nach seinem zweiten Marsch wurde er von rund 20 000 Menschen empfangen. Die algerische Presse verglich ihn mit Mahatma Gandhi.
Heute ist er Umfragen zufolge einer der populärsten Algerier. »Unser einziger Politiker, der die Bedeutung der Digitalisierung verstanden hat«, schrieb Ende August Algeriens größte Zeitung El Khabar. Dass Nekkaz einst seinen französischen Pass abgab, hat auch taktische Gründe: Im nächsten Jahr will er bei den Parlamentswahlen antreten – in Algerien. Politik ist dort ein schwieriges Feld; kein Außenseiter hat es bisher erfolgreich bespielen können. Und so wirkt Nekkaz’ Plan auch etwas verzweifelt; das Land ist eine Parteidiktatur.
Dagegen wirkt sein Auftritt in Nizza perfekt inszeniert. Dort, wo im Juli 85 Menschen starben, wo die Trauernden bis heute Blumen, Kerzen und Stofftiere niederlegen, trauern jetzt auch er und Stéphanie Lécuyer. Sie legen einen Strauß nieder, Lilien und Edelrosen, üppiger als jeder andere. Lécuyer hat Tränen in den Augen und kniet nieder. Die Kamera der Fernsehteams hält drauf. Auch hier zitiert Nekkaz den Satz von Voltaire. »Hören Sie doch endlich mit Voltaire auf!«, ruft eine der Journalistinnen. »Was Sie hier machen, ist reine Provokation.« Nekkaz bleibt ruhig. Bis zum Ende.
Text: Georg Blume | DIE ZEIT Nr. 39 v. 15.09.2016 - S. 34
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Streit um ein Stück Stoff
Wer den Schleier verbietet
Das erste europäische Land, in dem das öffentliche Tragen von Burka oder Nikab landesweit verboten wurde, war 2010 Belgien. Bald folgten Frankreich und die Niederlande. In Frankreich wurde der Schleierstreit kürzlich neu entfacht: Erst wollten einige Bürgermeister das Tragen des Burkinis am Strand verbieten. Am vergangenen Wochenende wurde in Paris ein mutmaßlicher IS-Anschlag verhindert. Die Hintermänner der vereitelten Tat waren: drei Frauen.
Wer die Verbote umgeht
Widerstand gab es in allen Ländern, kaum jemand war so effizient wie der algerischstämmige Unternehmer Rachid Nekkaz, der in Frankreich »Zorro des Nikab« genannt wird. Bevor er anstelle der betroffenen Frauen die Bußgelder zahlt, müssen sie ihm schriftlich versichern, dass niemand sie zwingt, den Nikab zu tragen, und sie den radikalen Islam nicht unterstützen. Für Trägerinnen der Burka zahlt Nekkaz jedoch nicht, die sei ein »Symbol der Frauenunterdrückung in Afghanistan und für die Frauen ein Gefängnis«.
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also - es geht auch anders: »Selbst wenn ich nicht damit einverstanden bin, was Sie sagen, werde ich immer dafür kämpfen, dass Sie es sagen können«, zitiert der "zorro des nikab", rachid nekkaz, seinen voltaire ... - und kämpft auf seine kostspielige art dafür, dass die maxime des ollen friedrich II vom 22.05.1740 (!) auch erhalten bleibt: "Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der fiscal nuhr das auge darauf haben, das keine der andern abruch Tuhe, den hier mus ein jeder nach Seiner Fasson Selich werden." - was uns hier seitdem zur leitschnur geworden ist - also eine maxime, die fast schon 300 jahre hier in "deutschland" - im gestrengen preußen - gelebt wird ... - und nach meiner auffassung auch für kleidung mit einem religiösen background gilt, wenn die eben nicht als gegen andere menschen gerichtete "gewalttat" und "extremistisch" als waffe eingesetzt wird ...
die diesbezügliche provokation einer mikab-akteurin in einem bielefelder gasthof ist da sicherlich ein grenzfall im graubereich - wegen der "ängste", die sie im verschlafenen dorf schildesche damit auslöst - aber: "steter tropfen höhlt eben den stein", und manchmal muss man seine grundrechte - eben auch die einer muslimischen frau - auch ein bisschen mit provokation geltend machen - die 68-er-akteure zum beispiel in mutlangen und in brokdorf kennen ja eine solche strategie zu genüge ...
und dank dieser 68-er-provokationen gibt es eine gesetzlich anerkannte schwule verpartnerung, eine chancengleichheit zwischen den geschlechtern, eine liberalisierung der sexualität, ja die entdeckung einer eigenständigen weiblichen sexualität überhaupt, die demokratisierung und liberalisierung der gesellschaft und damit den übergang der bundesrepublik in eine moderne gesellschaft mit bürgerinitiativen, mitbestimmung, bildungsreform und kritischer umgang mit autoritäten - sowie die kritische aufarbeitung mit der meist braun angehauchten elterngeneration - damit allerdings verbunden der bruch mit dem traditionellen "familienbild" - und dem beginn des eigenständigen "single"-lebens oder der patchwork-familie ...
heute behaupten manche historiker, das wäre auch ohne die 68-er alles passiert - die zeit sei einfach auch international dafür reif gewesen - aber ich glaube, die apo und die 68-er waren die geburtshelfer, die hebammen für all diese paradigmenwechsel - die wegbereiter ...
da ist dann die ausbildung einer eigenständigen persönlichen moral mit eigenen werten und zielen gefragt: und vielleicht ist dafür das provokative tragen des nikab in der öffentlichkeit ein notwendiges durchgangsstadium - ansonsten wollen wir uns unserer freiheiten erfreuen: dass jeder nach seiner fasson selich werden kann - und dass man für den erhalt dieser grundwerte auch streitet, auch wenn es nicht den eigenen grundwerten entspricht: »Selbst wenn ich nicht damit einverstanden bin, was Sie sagen, werde ich immer dafür kämpfen, dass Sie es sagen können« ... - S!