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ich bin viele - soziale fantasien hat jede(r)

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DIE ZEIT Nr. 49 - S. 44: Wissen  ·   Kristin Hüttmann

Ich sehe was, was du nicht siehst

Viele Kinder haben einen unsichtbaren Freund. Psychologen hielten das Phänomen früher für einen Vorboten psychischer Störungen. Heute wird es anders gedeutet 

An der Garderobe im Kindergarten baumelt eine Filzschnur. Das ist die Leine. Hector hat sie da angeknotet, für seinen Fuchs. Während der Dreijährige spielt, bastelt und turnt, sitzt der Fuchs in der Garderobe und wartet. Wenn Hector am Nachmittag von seiner Mutter abgeholt wird, zieht er sich Schuhe und Jacke an und nimmt die Filzleine in die Hand. Während er nach Hause stapft, zieht er sie hinter sich her. Außer ihm kann keiner den Fuchs sehen.

Das Tier war der erste unsichtbare Gefährte, der Hectors Kindheit bevölkerte. »Er hat Hector überallhin begleitet«, erzählt Katrin Graefe, seine Mutter. »In den Kindergarten, zum Spielplatz und zu Freunden.« Auch bei den Mahlzeiten war der Fuchs oft dabei – unter dem Tisch, wo dann auch Hector seine Brote aß. »Später gab es so ein menschenartiges Ding«, erinnert sich Graefe. »Das war der kleine Nick. Der konnte fliegen, bis unter die Zimmerdecke.« Der imposanteste von Hectors imaginären Freunden war ein goldener Feuerdrache von der Größe eines mittelgroßen Flugzeugs, der über der Familie Graefe schwebte und sie bis in den Urlaub nach Mallorca begleitete.

Mittlerweile ist Hector acht Jahre alt und geht zur Schule. Die imaginären Freunde sind schon vor zwei Jahren verschwunden, am Ende der Kindergartenzeit. Er brauchte sie nicht mehr. »Fantasiegefährten helfen den Kindern, sich weniger alleine zu fühlen«, sagt Michael Schulte-Markwort, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf. »Sie tauchen auf, wenn ein Kind zum ersten Mal hinaus in die Welt gehen und sich von seiner Mama trennen muss.« Fachleute sprechen auch von Übergangsobjekten – das sind oft Gegenstände wie eine Schmusedecke oder Kuscheltiere, die dem Kind ein Gefühl von Geborgenheit und Halt geben. »Alle Kinder brauchen solche Übergangsobjekte«, sagt Schulte-Markwort. Während die einen sich mit einer Puppe oder einem Stofftier behelfen, erfinden andere Fantasiebegleiter. Die können eine menschliche Gestalt haben, oder es sind Tiere und Fabelwesen wie Hectors goldener Feuerdrache. Dem 60-jährigen Kinderpsychiater haben etliche Jungen und Mädchen von ihren unsichtbaren Begleitern berichtet.

»Etwa jedes dritte Kind hat zeitweise eine Freundschaft, die nur in seiner Fantasie existiert«, sagt auch Inge Seiffge-Krenke von der Universität Mainz. Die emeritierte Psychologie-Professorin und Psychoanalytikerin hat sich intensiv mit der Fachliteratur befasst, die in den vergangenen Jahrzehnten zum Phänomen der imaginären Begleiter verfasst wurde. Seit etwa 1930 forschen Psychologen daran, wobei der Fokus auf menschenähnlichen Fantasiefreunden liegt. Bis in die 1970er Jahre befürchteten Wissenschaftler, dass die imaginären Gefährten Vorboten psychischer Störungen seien. Heute weiß man, dass das Phänomen nicht pathologisch ist. »Das sind ganz normale, gesunde Kinder«, sagt Seiffge-Krenke. »Die unsichtbaren Freunde sind eine kreative Leistung, die dem Kind in schwierigen Situationen hilft und seine Entwicklung fördert.«

Imaginäre Gefährten können etwa auftauchen, wenn die Eltern sich trennen – aber auch, wenn ein Geschwisterkind geboren wird. So geschah es bei Hector, der drei Jahre alt war, als sein kleiner Bruder Fritz zur Welt kam. Die US-amerikanische Forscherin Marjorie Taylor von der University of Oregon befragte für eine Studie 152 Vorschulkinder und stellte fest, dass Kinder, die Freunde erfinden, meist keine Geschwister haben oder Erstgeborene sind. Beide fühlen sich offenbar oft einsam: Einzelkinder, weil ein Spielgefährte fehlt, und Erstgeborene wie Hector, weil das neu angekommene Geschwisterkind die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zieht.

Kinder im Alter zwischen drei und sieben Jahren haben besonders oft unsichtbare Freunde, aber auch bei Jugendlichen kommen sie noch vor. Dass die imaginären Gefährten erst ab einem Alter von drei Jahren auftauchen, liegt in der Entwicklung der Kinder begründet. »Es ist eine Art kognitives Spiel«, sagt die Psychologin Seiffge-Krenke, »und damit eine Frage der geistigen Reife.« Dazu passt, dass Kinder mit imaginären Freunden besonders gute Kommunikationsfähigkeiten haben: Die britischen Psychologen Anna Roby und Evan Kidd von der University of Manchester untersuchten für eine Studie die sprachliche Kompetenz von Vier- bis Sechsjährigen und entdeckten, dass Kinder mit Fantasiefreunden sich besser ausdrücken und in andere einfühlen konnten als die anderen Probanden. »Kinder lernen auch viel für sich, indem sie mit diesen imaginären Freunden in Austausch treten«, sagt Seiffge-Krenke. Das fördere die soziale Kompetenz.

Wenn Fabelwesen, Füchse und andere Kameraden zur Familie hinzustoßen, können Eltern also gelassen bleiben. Das bedeutet nicht, dass man den unsichtbaren Gast am besten ignoriert. Eltern sollten ihm besondere Beachtung schenken. Ein unsichtbarer Gefährte verrät viel über den Gemütszustand des Kindes. »Ich wünsche mir Mütter und Väter, die das nicht als Spinnerei abtun«, sagt der Kinderpsychiater Schulte-Markwort. »Sie sollten aufmerksam sein und selbst eine Hypothese entwickeln, warum der Gefährte für das Kind gerade jetzt notwendig sein könnte.« Je mehr Platz die Eltern dem Fantasiefreund einräumen, desto schneller verliere der wieder an Bedeutung.

Bleibt allerdings ein imaginärer Gefährte dauerhaft und über Jahre hinweg an der Seite eines Kindes, sollten die Eltern sich mithilfe von Fachleuten auf die Suche nach dem Grund machen. So wie bei jenem achtjährigen Jungen, an den sich Schulte-Markwort noch erinnert. »Der hatte einen Alien«, erzählt der Kinderpsychiater. »Dieser bewaffnete Gefährte war nur für die anderen bedrohlich und beschützte den Jungen vor der feindlichen Welt.« Weil der Alien partout nicht verschwand, kamen die Eltern mit ihrem Sohn zu Schulte-Markwort in die Sprechstunde. »Der Junge tat sich mit der normalen Realität etwas schwer«, sagt der Kinderpsychiater. Er nahm den Jungen in eine Gruppentherapie auf, in der die soziale Kompetenz trainiert wurde. Mit Erfolg: »Je sicherer der Junge im Kontakt mit Gleichaltrigen wurde, desto weniger brauchte er den Alien.«

So hartnäckig wie in diesem Fall sind die imaginären Begleiter selten. Meist verschwinden unsichtbare Füchse und fliegende Freunde nach einigen Wochen oder Monaten von selbst. Hectors jüngerer Bruder Fritz hat übrigens keine unsichtbaren Beschützer. »Fast ein bisschen schade«, sagt Katrin Graefe. »Irgendwie waren diese Wesen auch entzückend.«

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Lesestoff zum Thema

Soziale Fantasie bei Kindern

Auf der Grundlage wissenschaftlicher Studien beschreibt die Entwicklungspsychologin Gudula List, wie sich Kinder mit sich selbst und anderen auseinandersetzen und wie sie zu begreifen beginnen, was in den Köpfen der Mitmenschen vor sich geht.

Leichte Lektüre ist dieses Buch nicht. Die Autorin fordert ihre Leser deshalb schon im Vorwort auf, sich mit Geduld auf die komplexen Zusammenhänge einzulassen. Wer sich durchbeißt, erhält einen fundierten Einblick in die kindliche Entwicklung, besonders in die Entstehung der Sprache.

Gudula List: Wie Kinder soziale Phantasie entwickeln. Narr Francke Attempto Verlag; 271 S., 22,99 €

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ja - warum hab ich diesen artikel hier übernommen aus der neuesten ZEIT:

das ist quasi die rehabilitation vieler fantasiebegabter kinder - und auch erwachsener ... - vieler menschen, die einen "schutzengel" bei sich fühlen und mit dem sie reden - und der sie begleitet - und ihnen auch die brote unterm tisch wegisst ... - und eben auch einen schutzengel im fuchsgewand oder in puppengestalt oder als teddybär ... fantasiegestalten gehören zum menschsein dazu. und das wir früher diese "besten freunde" rasch pathologisieren wollten, um vielleicht ein psychopharmaka zu indizieren, sei der zusammenarbeit der kinderpsychiatrie mit der pharmazeutischen industrie geschuldet ... - eben weil jeder mensch solche gefährten sein eigen nennt, kann man mit der pathologisierung eben viel knete machen ...

die mittlerweile "ur-alte weisheit": "ich bin viele" (link) hat sich nun aber durchgesetzt ... - und das ist gut so ... - und richard precht fragt ja in einem mittlerweile bestseller: "Wer bin ich - und wenn ja wie viele?" - Eine philosophische Reise ...

und selbst die bibel berichtet ja von all solchen phänomenen - aber von dort wurden sie zu besonders "geweihten" wunderdingen hochstilisiert - an die man zu "glauben" hatte - und nur so: und der weiße engel durfte eben kein "fuchs" werden, denn den hätte der kleine hector (siehe oben) ja im kindergottesdienst erkannt - von wegen "wunder" ... - und in der "postfaktischen" zeit sind diese inneren und emotionalen phänomene sowieso die "reine wahrheit - nichts als die wahrheit ..."
S!


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