Die Töne sind da. Wir sind noch da
Auf nach Halberstadt – zum langsamsten Konzert der Welt
von Ulrich Stock
Unter allen Künsten ist die Musik am flüchtigsten. Erklingen und Verklingen sind eins, der Ton holt uns ins Jetzt, ist, wenn wir ihn hören, quasi schon fort, seine Spur in uns hinterlassend. Musik ist höchste Gegenwärtigkeit und schöne Erinnerung. Musik kennt Zukunft nur als Vorfreude auf den Konzertbesuch.
S!NED! war da ... -
Vor der Aufführung – während der Aufführung – nach der Aufführung. Diese drei Phasen wissen wir zu unterscheiden. Wir kamen zu spät – an einer leisen Stelle klingelte plötzlich ein Handy – wir waren hinterher ganz erfüllt. Das Konzerterlebnis ist etwas Kleines, um das wir kragen, das wir einschließen wie eine Perle.
Mir ist nur eine Aufführung bekannt, für die das nicht gilt. Die uns einschließt. Die Zukunft hat, jenseits persönlicher Erwartung. Deshalb schreibe ich seit fünfzehneinhalb Jahren über sie – und werde es immer wieder tun, bis mir die Worte ausgehen.
Die im Ursprung halbstündige Orgelkomposition Organ2/ASLSP des Amerikaners John Cage wird in St. Burchardi in Halberstadt in Sachsen-Anhalt ganz langsam gespielt, so langsam, dass wir darüber hinwegsterben. Die Aufführung in dem früheren Kloster begann am 5. September 2001. Sie endet am 4. September 2640. Dazwischen liegen 639 ereignisreiche Jahre.
Manch einer, der am Eröffnungsabend dabei war, hat inzwischen das Zeitliche gesegnet. Andere, die das Konzert im Burchardi-Kloster späterhin besuchen werden, sind noch gar nicht geboren. Niemand kann das gesamte Werk hören.
Deshalb müssen Sie sich jetzt auch nicht beeilen. Den Anfang haben Sie verpasst, das Ende werden Sie auch verpassen. Nie war Hören so sehr Ausschnitt und Stückwerk wie hier. So ist unser Leben: der unvollendete Teil einer größeren Melodie, deren Auf und Ab wir kaum erahnen.
Wir fahren also hin, stehen in einer leeren Kirche und hören den Klang, der sich nicht verändert. Fünf Töne – C, Des, Dis, Ais und E –, die auf Jahre im Raum stehen, bis es 2020 zum nächsten Akkordwechsel kommt. Säckchen halten die Tasten gedrückt, damit das kein Organist tun muss.
Wir gehen durch die leere Kirche und hören, wie sich das Knirschen unserer Schritte in den Akkord mischt. Jede unserer Bewegungen überformt den Klang, wie auch jeder Winkel des Raumes den Klang anders interpretiert. Polyfonie noch in der Monotonie – wer hätte das gedacht.
Je weniger geschieht, desto schärfer wird die Wahrnehmung. Die Zeit steht still und verfließt; das Gemäuer aus dem 12. Jahrhundert ist ein Treffpunkt verflossener, gegenwärtiger und entstehender Seelen. Wie unterschiedlich waren, sind, werden ihre Leben sein und, verstörender noch: wie ähnlich. Hineingeworfen ins irdische Selbst, irgendwie klarkommen müssen und dann wieder weg, wohin auch immer. Und dieser prismatisch gebrochene Klang ist der Soundtrack unseres Daseins.
Gefällt er uns? Klingt er gut und rund? Schräg, schrill, fies? Und wenn er sich irgendwann ändert: Werden wir darauf gefasst sein?
Wer die Orgel hört, muss nichts tun und nichts lassen. Die Töne sind da, wir sind da. Das ist alles. Man kann schweigend lauschen, die eigene Stimme erheben, applaudieren, mit Bonbonpapier rascheln. Den Tonfluss wird es nicht stoppen.
Den Tonfluss nicht zu stoppen: Darum geht es auch. Etwas so Zartes, Zerbrechliches in die Zukunft zu geleiten. Eine Idee, die eben nicht in Stein gemeißelt ist, sondern als Schwingung den Raum erfüllt. Solange in Halberstadt etwas zu hören ist, gibt es Hoffnung.
Sechs Tage nach Konzertbeginn flogen zwei Flugzeuge in zwei Türme in Amerika. Seitdem hat sich die Tonlage sehr geändert. Wir sehr sind wir unserer Zeit ausgeliefert? Können wir unser Schicksal beeinflussen, oder sind wir so hilflos wie die Menschen in den Geschichtsbüchern? In Sachsen-Anhalt wählt im fünfzehnten Jahr der Aufführung jeder vierte Bürger eine Partei, die ihre Zukunft in der Vergangenheit sieht. Hat man dafür noch Töne?
Was aber schön ist in Halberstadt: Die Aufführung lebt durch den Idealismus ihrer Initiatoren. So ist dieses Konzerterlebnis nicht nur unbezahlbar, sondern auch kostenlos.
Fahren Sie mal hin, solang Sie noch leben.
DIE ZEIT | Nr. 53 v. 21.12.2016 | S. 49
und hier die 639 jahre in 21 min|41 sek. ... - bzw. John Cages Organ2/ASLP im "zeitraffer":
Auf nach Halberstadt – zum langsamsten Konzert der Welt
von Ulrich Stock
Unter allen Künsten ist die Musik am flüchtigsten. Erklingen und Verklingen sind eins, der Ton holt uns ins Jetzt, ist, wenn wir ihn hören, quasi schon fort, seine Spur in uns hinterlassend. Musik ist höchste Gegenwärtigkeit und schöne Erinnerung. Musik kennt Zukunft nur als Vorfreude auf den Konzertbesuch.
S!NED! war da ... -
Vor der Aufführung – während der Aufführung – nach der Aufführung. Diese drei Phasen wissen wir zu unterscheiden. Wir kamen zu spät – an einer leisen Stelle klingelte plötzlich ein Handy – wir waren hinterher ganz erfüllt. Das Konzerterlebnis ist etwas Kleines, um das wir kragen, das wir einschließen wie eine Perle.
Mir ist nur eine Aufführung bekannt, für die das nicht gilt. Die uns einschließt. Die Zukunft hat, jenseits persönlicher Erwartung. Deshalb schreibe ich seit fünfzehneinhalb Jahren über sie – und werde es immer wieder tun, bis mir die Worte ausgehen.
Die im Ursprung halbstündige Orgelkomposition Organ2/ASLSP des Amerikaners John Cage wird in St. Burchardi in Halberstadt in Sachsen-Anhalt ganz langsam gespielt, so langsam, dass wir darüber hinwegsterben. Die Aufführung in dem früheren Kloster begann am 5. September 2001. Sie endet am 4. September 2640. Dazwischen liegen 639 ereignisreiche Jahre.
Manch einer, der am Eröffnungsabend dabei war, hat inzwischen das Zeitliche gesegnet. Andere, die das Konzert im Burchardi-Kloster späterhin besuchen werden, sind noch gar nicht geboren. Niemand kann das gesamte Werk hören.
Deshalb müssen Sie sich jetzt auch nicht beeilen. Den Anfang haben Sie verpasst, das Ende werden Sie auch verpassen. Nie war Hören so sehr Ausschnitt und Stückwerk wie hier. So ist unser Leben: der unvollendete Teil einer größeren Melodie, deren Auf und Ab wir kaum erahnen.
Wir fahren also hin, stehen in einer leeren Kirche und hören den Klang, der sich nicht verändert. Fünf Töne – C, Des, Dis, Ais und E –, die auf Jahre im Raum stehen, bis es 2020 zum nächsten Akkordwechsel kommt. Säckchen halten die Tasten gedrückt, damit das kein Organist tun muss.
Wir gehen durch die leere Kirche und hören, wie sich das Knirschen unserer Schritte in den Akkord mischt. Jede unserer Bewegungen überformt den Klang, wie auch jeder Winkel des Raumes den Klang anders interpretiert. Polyfonie noch in der Monotonie – wer hätte das gedacht.
Je weniger geschieht, desto schärfer wird die Wahrnehmung. Die Zeit steht still und verfließt; das Gemäuer aus dem 12. Jahrhundert ist ein Treffpunkt verflossener, gegenwärtiger und entstehender Seelen. Wie unterschiedlich waren, sind, werden ihre Leben sein und, verstörender noch: wie ähnlich. Hineingeworfen ins irdische Selbst, irgendwie klarkommen müssen und dann wieder weg, wohin auch immer. Und dieser prismatisch gebrochene Klang ist der Soundtrack unseres Daseins.
Gefällt er uns? Klingt er gut und rund? Schräg, schrill, fies? Und wenn er sich irgendwann ändert: Werden wir darauf gefasst sein?
Wer die Orgel hört, muss nichts tun und nichts lassen. Die Töne sind da, wir sind da. Das ist alles. Man kann schweigend lauschen, die eigene Stimme erheben, applaudieren, mit Bonbonpapier rascheln. Den Tonfluss wird es nicht stoppen.
Den Tonfluss nicht zu stoppen: Darum geht es auch. Etwas so Zartes, Zerbrechliches in die Zukunft zu geleiten. Eine Idee, die eben nicht in Stein gemeißelt ist, sondern als Schwingung den Raum erfüllt. Solange in Halberstadt etwas zu hören ist, gibt es Hoffnung.
Sechs Tage nach Konzertbeginn flogen zwei Flugzeuge in zwei Türme in Amerika. Seitdem hat sich die Tonlage sehr geändert. Wir sehr sind wir unserer Zeit ausgeliefert? Können wir unser Schicksal beeinflussen, oder sind wir so hilflos wie die Menschen in den Geschichtsbüchern? In Sachsen-Anhalt wählt im fünfzehnten Jahr der Aufführung jeder vierte Bürger eine Partei, die ihre Zukunft in der Vergangenheit sieht. Hat man dafür noch Töne?
Was aber schön ist in Halberstadt: Die Aufführung lebt durch den Idealismus ihrer Initiatoren. So ist dieses Konzerterlebnis nicht nur unbezahlbar, sondern auch kostenlos.
Fahren Sie mal hin, solang Sie noch leben.
DIE ZEIT | Nr. 53 v. 21.12.2016 | S. 49
und hier die 639 jahre in 21 min|41 sek. ... - bzw. John Cages Organ2/ASLP im "zeitraffer":