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zukunftsmusik | cybermohalla | ZERSTÖRUNG oder AUFBAU ...

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s!NEdi|photo|graphic: plan-picture

S.P.O.N. - Der Kritiker:

eine botschaft aus der zukunft

Eine Kolumne von Georg Diez

Wie sieht unser Leben übermorgen aus? Wie unser politisches Engagement? Wer einen Vorgeschmack auf das Kommende haben will, sollte nach Neu-Delhi reisen. Dort denkt das Kunstkollektiv Cybermohalla die Konzepte der Politik, der Demokratie und der Repräsentation radikal neu.

Die erkältete Kommunistin Anita Cherian, die ich im United Coffee House am Connaught Place traf, bestellte sich etwas zu essen, das aussah wie zwei halbe Hamburger mit einem Berg grüner Linsen. Sie entschuldigte sich, dass sie erkältet war, und erzählte dann von ihrer Arbeit und ihrem Aktivismus - die Kulturpolitik, die ihr fast wichtiger ist als ihre Stelle als Professorin für Literatur und Theater, aber sie ist ja auch eine Kommunistin.



s!NEdi|photo|graphic nach: Nikolaus Hirsch and Michel Müller with Cybermohalla Ensemble, Bureau of Contemporary Jobs in the Cybermohalla Hub at Sarai Reader 09: The Exhibition, Devi Art Foundation, Gurgaon, 2012–2013. Photo: Shamsher Ali




"Es geht dabei", sagte sie, "um Gestaltung, um Beteiligung, um Demokratie. Um den Glauben daran, dass der Staat für die Bürger da ist. Dieser Glaube hat es zurzeit sehr schwer in Indien. Alle reden nur von Notwendigkeiten, von Automatismen, von den Dingen, die man nicht beeinflussen kann. Indien, sagen sie, ist zu groß, um es zu gestalten. In Indien, sagen sie, geschieht, was geschieht. Es ist eine neue Form von Gesellschaft, und ich fürchte, es ist die Zukunft: die funktionelle Demokratie, die im Grunde keine Demokratie mehr ist."


So ist das in Neu-Delhi. Das Goethe Institut hatte Christopher Roth und mich hierhin eingeladen, eine Konferenz zum Thema "What happened 2081?" zu veranstalten, und dauernd überfällt einen dann die Zukunft an unerwarteten Orten, beim Abendessen im touristischen Herzen der Riesenstadt, in der Metro auf Betonstelzen hoch über den Müllkippen und den mit Stacheldraht geschützten Gärten der Reichen hinweg, in der Auto-Rikscha, in der man den Straßenverkehr als vernunftfreie Zone erleben kann, die man nur heil durchquert, wenn man alles ganz buddhistisch geschehen lässt: totale Aufmerksamkeit bei totaler Gelassenheit.

Vergessen wir langsam alles?

Links und rechts sind hier ebenso fließende Kategorien wie richtig oder falsch, wie heil oder kaputt, wie hell oder dunkel, wie drinnen oder draußen. Die schöne Fiktion des dualistischen Weltbildes wird zerrieben, übrig bleibt ein Gefühl von Zerstörung, in der auch wieder Freiheit liegen kann - davon erzählt zum Beispiel das Kunstkollektiv Cybermohalla, dessen Name schon die neue Realität unseres jungen, wirren Jahrhunderts ausdrückt: Zum Cyber kommt immer auch das Mohalla, was auf Hindi und Urdu Gegend, Viertel, Kiez bedeutet.

Ganz fern und ganz nah also, intim und abwesend, fremd und vertraut, alles gleichzeitig - wer ist der neue Mensch dieser Zeit, wie wird er leben, wie wird er arbeiten, wie wird er denken?

Wird er sich von Ort und Zeit befreien, wird er die Stadt anders lesen, wird das Imaginäre real, wird Spekulation Wirklichkeit? Das sind einige der Fragen, die Cybermohalla an die Zukunft hat: Vergessen wir langsam alles? Wann hast du das Gefühl, dass es unzählige Versionen von dir gibt, die durch die Stadt laufen? Wann fühlst du dich in der Stadt allein? Wann würdest du dich gern verlieren? Wenn du eine Gruppe gründen solltest, was für eine Gruppe wäre das?

Es gibt von Cybermohalla ein sehr schönes, kluges Buch, das auf Englisch bei Sternberg Press erschienen ist. Es gibt ihr Architekturdenkgebäude, das Cybermohalla Hub, das gerade in der Devi Art Foundation aufgebaut ist, draußen, am Rande der Stadt, eine offene, dreistöckige Holzkonstruktion, in der Wohnen und Arbeiten, Archiv und Gegenwart, Drinnen und Draußen eins wird. Es gibt auch schon einen Ausdruck für diese intellektuell-spirituell-spekulative Sicht auf die Welt, wie sie sein könnte, nicht wie sie ist: die Neu-Delhi-Transzendentalisten, die ihre Stadt lesen wie eine Botschaft aus der Zukunft, die wir nur entschlüsseln müssen, durch Unschärfe, Fiktion, Verwirrung, Fälschung, Inkohärenz.

Die Schemen der Zukunft sind erkennbar

Anita, die erkältete Kommunistin, die den Staat nicht stürzen will, sondern ihn verändern, hat eine im Grunde sehr europäische Sicht auf die Fragen von Politik, Demokratie und Repräsentation - was sie als indische Realität beschreibt, klingt wie eine Mischung aus der Technokratendemokratie, die in Teilen von Europa installiert wurde, und dem demokratiefreien Kapitalismus, wie er in China praktiziert wird.

Cybermohalla sind da schon einen Schritt weiter. Sie haben sich unabhängig gemacht von Vorstellungen aus dem 20. Jahrhundert und von Realitäten, die ihnen entzogen sind - und so entwerfen und bauen und basteln sie selbst an den Lebensmodellen und Denkweisen, die ihnen eine Organisation von Alltag und Arbeit und Aktivismus ermöglichen, so wie sie sich Freiheit und Glück vorstellen. Die Schemen dieser Zukunft sind erkennbar, aber eher in Neu-Delhi, Johannesburg oder São Paulo als in Berlin, Moskau oder Miami.

Vor der Tür des United Coffee House, auf dem wüsten Connaught Place, sieht es aus, als habe gerade eine Rakete eingeschlagen, und nun müssten die Trümmer weggeräumt werden. Es ist immer noch unklar, ob das alles hier, die Stadt und ihre Menschen, ein Werk der Zerstörung ist oder eine Gesellschaft im Aufbau. 

(S.P.O.N.-Kolumne: Georg Diez - spiegel.de - Bildmaterial: s!NEdi bzw. blogs.guggenheim.org - Video: LOUISIANA-MUSEUM, DK)



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