Interview
„Wieso ist die SPD so hasenfüßig?“
Der Grandseigneur der Linken, Oskar Lafontaine, über die Bedingungen für eine neue Politik jenseits der Großen Koalition
Jakob Augstein | der Freitag
der Freitag: Was wäre anders geworden, wenn Sie Kanzler geworden wären?
Lafontaine: Da könnte ich jetzt viel erzählen. Die deutsche Einheit wäre anders verlaufen, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, das zu gestalten. Ganz entscheidend ist, dass der Abbau des Sozialstaates mit mir nicht zu machen gewesen wäre.
Welche Fehler hätten Sie als Kanzler vermieden?
Ein wichtiger Fehler war die Währungsunion. Im Saarland war die Wirtschaft in den französischen Markt integriert und es wäre unvernünftig gewesen, die saarländische Wirtschaft von einem Tag auf den anderen auf den deutschen Markt zu verweisen. Also hat man eine Übergangsphase von vier Jahren gewählt und hat auch noch den Franc als Zahlungsmittel dort gelassen.
Das war klug ...
Richtig, weil damit die Wirtschaft Zeit hatte, sich umzustellen. Mit Blick auf die DDR-Wirtschaft musste doch klar sein: Wenn man so eine schwache Wirtschaft mit der härtesten Währung der Welt konfrontiert, ist das ein brutaler Fehler mit schlimmen Folgen. Wenn man einer schwachen Wirtschaft eine harte Währung aufdrückt, dann macht man sie platt.
Sie haben damals für den Euro gestimmt und gesagt: Währungssysteme sind keine Ideologie, sie sind Mechanismen, die funktionieren oder sie funktionieren nicht. Das ist sehr nüchtern.
Ich habe, als ich zum SPD-Vorsitzenden gewählt wurde, gesagt: Der Euro kann nur funktionieren, wenn es eine Lohnstückkostenkoordination gibt. Das heißt, wenn sich Löhne und Produktivität im Währungsraum ähnlich entwickeln. Wenn das nicht passiert, wird er zum Rohrkrepierer.
Warum wählen die Leute nicht in größeren Scharen links?
Das müsste man die Leute fragen.
Die Frage müsste auch für Sie von vitalem Interesse sein.
Es gibt eine ganze Reihe von Erklärungen. Eine simple wäre, dass sie uns genauso einordnen wie die übrigen Parteien. Das höre ich auch oft: Ihr seid genauso wie die anderen, wenn ihr dran seid, macht ihr denselben Mist. Nun muss man aber sehen, dass die Linke nicht nur in Deutschland, sondern überall von der herrschenden Öffentlichkeit systematisch diffamiert wird. Orwell hat gesagt, wenn die Lüge immer wieder wiederholt wird, wird sie zur Wahrheit.
Trotzdem erwarten sie sich von den Linken keine Linderung. Da kann doch nicht nur die Presse schuld sein.
Ja, das wäre zu einfach. Uns wird unter anderem das sogenannte SED-Erbe ewig vorgehalten. Das wabert noch heute bei jeder Diskussion mit. Bei der Wahl im Saarland kam ein Dorfbewohner zu mir und sagte: Ich war gerade beim Notar, der meinte, die Linke will dir das Häuschen wegnehmen. Die alten Klischees werden permanent gegen uns verwandt. Insofern hat die deutsche Linke es schwerer als die französische, die spanische oder die griechische. Nirgendwo ist Anti-Kommunismus so tief im Bewusstsein der Bevölkerung verankert wie in Deutschland.
Warum lassen sich die Leute leichter zu Ressentiments gegen Fremde mobilisieren als dazu, das eigene ökonomische Wohlbefinden zu mehren?
Das hängt zusammen. Man kann nicht übersehen, dass es eine Konkurrenz im Niedriglohnsektor gibt, die die davon Betroffenen ängstigt. Der Unternehmerverband ist immer dafür, möglichst viele ausländische Arbeitskräfte hereinzulassen. Um Löhne zu drücken!
Warum schaffen die Rechten etwas, was Linken nicht gelungen ist, nämlich etablierte Parteien vor sich herzutreiben, den öffentlichen Diskurs zu bestimmen?
Man kann das am besten in Frankreich beobachten. Dort ist der Parti Socialiste inzwischen marginalisiert. Weil er, wie alle traditionellen europäischen Arbeiterparteien, die Seiten gewechselt hat. Und der Front National versprach: Wir schützen euch vor den Gefährdungen der Globalisierung. Das ist das große Problem! Jetzt können wir die Parallele zu Deutschland ziehen. Die SPD war jahrzehntelang der Ansprechpartner der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – hat aber seit Schröder die Seite gewechselt.
Martin Schulz’ Steuerkonzept sieht so aus: Entlastung für die Mitte, moderate Erhöhung für die Wohlhabenden, eine Reichensteuer. Klingt gut, oder?
Das klingt gut, ist aber nur ein Schrittchen in die richtige Richtung. Das reicht noch nicht, wenn man wirklich etwas verändern will. Vor der letzten Wahl haben die Sozis erzählt, sie wollten die Vermögenssteuer einführen. Gabriel hat später gesagt, dass das nicht so gemeint gewesen wäre. Sie haben ein Erbschaftssteuergesetz mit verabschiedet, bei dem man Milliarden-Vermögen praktisch ohne Besteuerung weitergeben kann.
Also Umverteilung von Milliarden?
Kein Mensch kann so viel arbeiten, dass er ein Milliarden-Vermögen anhäuft. Das ist immer „geraubtes“ Vermögen! Umverteilung ist ein völliges falsches Wort! Es muss heißen: Rückverteilung.
Martin Schulz halten Sie also nicht für einen linken Sozialdemokraten?
Den Anspruch hat er selbst nicht. Die ganze Partei ist Schritt für Schritt nach rechts gerückt.
Er ist mit dem Begriff „Respekt“ angetreten. Die Leute waren begeistert, denn das wollten sie von einem Sozialdemokraten hören.
Das war gut! Nur hat Schulz nicht geliefert. Was heißt denn Respekt? Was muss denn ein Rentner fühlen, der sagt, ich habe ein Leben lang gearbeitet und bekomme 800 Euro Rente? Der hat nicht das Gefühl, dass ihm Respekt entgegengebracht wird. Schulz hätte sagen müssen: „Rentenformel ändern, Kürzungen zurücknehmen.“ Dasselbe gilt für den Niedriglohnsektor. Wie fühlt sich jemand, der morgens aufstehen muss, richtig malocht und am Ende 1.000 Euro rausbekommt? Der hat einen Mindestlohn und kommt später kaum über die Mindestsicherung. Das ist Verweigerung von Respekt!
Sie haben gesagt, Rot-Rot-Grün hätte schon tolle Sachen machen können. Es gab die Mehrheit im Bundestag. Woran scheiterte es?
Also, die Grünen wären wendig genug, bei solchen Entscheidungen vor der Bundestagswahl mitzustimmen. Das große Problem ist die SPD. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass ich mit Schulz und Gabriel gesprochen habe und beiden vorgeschlagen habe, diese Reformen im Bundestag vor der Bundestagswahl durchzuziehen. Deren größtes Problem aber war fehlende Glaubwürdigkeit. Die müssten irgendetwas machen, damit die Leute ihnen wieder abnehmen, dass sie es ernst meinen. Sie wollten aber nicht.
Vielleicht wollten sie aus Glaubwürdigkeit die Koalition mit der CDU nicht aufgeben?
Na gut, aber die CDU hatte offensichtlich kein Problem, bei der Teilzeitarbeit den Koalitionsvertrag einfach beiseite zu fegen. Wieso ist die SPD so hasenfüßig? Und es war doch sowieso vorbei, man hätte innerhalb von zwei Wochen Gesetze verabschieden können, die einen richtigen Aufbruch in Deutschland bedeutet hätten.
Funktioniert Politik so? Sagen Sie das jetzt als Spieler, als Zyniker?
Ich sage das als jemand, der jahrzehntelang Wahlkämpfe geführt hat und sich immer Gedanken gemacht hat, wie man zum Wahlerfolg kommt. Die SPD hat seit zwei Jahrzehnten den Stempel, dass sie vor den Wahlen sozial ist und nach den Wahlen nicht mehr. Den muss sie wegbekommen. Das geht nur mit glaubwürdigem Handeln. Und selbst wenn sie die Treue zu Merkel aufgegeben hätte – ja, mein Gott! Die SPD müsste doch mal treu sein zu ihren Wählerinnen und Wählern, den Arbeitnehmern und Rentnern. Für mich ist diese Koalitionstreue bis zum letzten Tag apolitisch!
Sagen Sie das jetzt nur, um Ihren alten Genossen eins über die Rübe zu hauen?
Nein. Das wäre der einzige Weg, um aus dieser Stimmungslage herauszukommen. Eine simple Rechnung lehrt, dass Rot-Rot-Grün nur eine Chance hätte, wenn die SPD über 30 Prozent kommt. Das geht aber nicht mit Schröder-Politik. Es ist absurd! Die SPD hat die Hälfte ihrer Wählerinnen und Wähler und auch ihrer Mitglieder verloren und will nicht dazulernen!
Wieso ist das so?
Ich weiß es nicht.
Das kann nicht sein! Wenn Sie das nicht wissen, wer soll das sonst erklären können?
Ich verstehe wirklich nicht, wieso man immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand rennt. Ich kann nur Erklärungsansätze liefern: Die sind so tief im neoliberalen Denken gefangen, dass sie den Ausweg nicht mehr finden.
Habe ich Sie jetzt provoziert?
Ach Quatsch. Ich bin überzeugt, die können gar nicht mehr sozialdemokratisch denken! Die sind immer weiter nach rechts gerückt.
Meinen Sie das ernst?
Rechts im klassischen Sinne. Helmut Schmidt, früher mal der Sprecher des rechten Flügels, war ja nachher in der SPD links außen mit seinen Positionen zu Afghanistan oder zum Jugoslawien-Krieg. Die jetzige Führung der SPD hat die ganze verfehlte Europapolitik Merkels mitgetragen. Am schlimmsten ist, dass sie das Erbe meines politischen Ziehvaters Willy Brandt verraten haben. Jetzt stehen deutsche Soldaten an den Grenzen Russlands. Ich kann mir gar nicht ausmalen, was Willy Brandt sagen würde, sähe er, wie seine Ost-Entspannungspolitik entsorgt wurde. Mit Hilfe der SPD!
Denken Sie, Willy Brandt wäre heute in der Linkspartei?
Seine Maxime, dass von deutschen Boden kein Krieg mehr ausgehen soll, wird heute von keiner anderen Partei vertreten. Sein massives Eintreten für Frieden und Ausgleich mit Russland, damals Sowjetunion, wird heute ebenfalls von keiner anderen Partei vertreten. In welcher anderen Partei sollte sich der Friedensnobelpreisträger und Entspannungspolitiker Willy Brandt engagieren?
„Wieso ist die SPD so hasenfüßig?“
Der Grandseigneur der Linken, Oskar Lafontaine, über die Bedingungen für eine neue Politik jenseits der Großen Koalition
Jakob Augstein | der Freitag
der Freitag: Was wäre anders geworden, wenn Sie Kanzler geworden wären?
Lafontaine: Da könnte ich jetzt viel erzählen. Die deutsche Einheit wäre anders verlaufen, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, das zu gestalten. Ganz entscheidend ist, dass der Abbau des Sozialstaates mit mir nicht zu machen gewesen wäre.
nach einem der freitag-foto |
Welche Fehler hätten Sie als Kanzler vermieden?
Ein wichtiger Fehler war die Währungsunion. Im Saarland war die Wirtschaft in den französischen Markt integriert und es wäre unvernünftig gewesen, die saarländische Wirtschaft von einem Tag auf den anderen auf den deutschen Markt zu verweisen. Also hat man eine Übergangsphase von vier Jahren gewählt und hat auch noch den Franc als Zahlungsmittel dort gelassen.
Das war klug ...
Richtig, weil damit die Wirtschaft Zeit hatte, sich umzustellen. Mit Blick auf die DDR-Wirtschaft musste doch klar sein: Wenn man so eine schwache Wirtschaft mit der härtesten Währung der Welt konfrontiert, ist das ein brutaler Fehler mit schlimmen Folgen. Wenn man einer schwachen Wirtschaft eine harte Währung aufdrückt, dann macht man sie platt.
Sie haben damals für den Euro gestimmt und gesagt: Währungssysteme sind keine Ideologie, sie sind Mechanismen, die funktionieren oder sie funktionieren nicht. Das ist sehr nüchtern.
Ich habe, als ich zum SPD-Vorsitzenden gewählt wurde, gesagt: Der Euro kann nur funktionieren, wenn es eine Lohnstückkostenkoordination gibt. Das heißt, wenn sich Löhne und Produktivität im Währungsraum ähnlich entwickeln. Wenn das nicht passiert, wird er zum Rohrkrepierer.
Warum wählen die Leute nicht in größeren Scharen links?
Das müsste man die Leute fragen.
Die Frage müsste auch für Sie von vitalem Interesse sein.
Es gibt eine ganze Reihe von Erklärungen. Eine simple wäre, dass sie uns genauso einordnen wie die übrigen Parteien. Das höre ich auch oft: Ihr seid genauso wie die anderen, wenn ihr dran seid, macht ihr denselben Mist. Nun muss man aber sehen, dass die Linke nicht nur in Deutschland, sondern überall von der herrschenden Öffentlichkeit systematisch diffamiert wird. Orwell hat gesagt, wenn die Lüge immer wieder wiederholt wird, wird sie zur Wahrheit.
Trotzdem erwarten sie sich von den Linken keine Linderung. Da kann doch nicht nur die Presse schuld sein.
Ja, das wäre zu einfach. Uns wird unter anderem das sogenannte SED-Erbe ewig vorgehalten. Das wabert noch heute bei jeder Diskussion mit. Bei der Wahl im Saarland kam ein Dorfbewohner zu mir und sagte: Ich war gerade beim Notar, der meinte, die Linke will dir das Häuschen wegnehmen. Die alten Klischees werden permanent gegen uns verwandt. Insofern hat die deutsche Linke es schwerer als die französische, die spanische oder die griechische. Nirgendwo ist Anti-Kommunismus so tief im Bewusstsein der Bevölkerung verankert wie in Deutschland.
Warum lassen sich die Leute leichter zu Ressentiments gegen Fremde mobilisieren als dazu, das eigene ökonomische Wohlbefinden zu mehren?
Das hängt zusammen. Man kann nicht übersehen, dass es eine Konkurrenz im Niedriglohnsektor gibt, die die davon Betroffenen ängstigt. Der Unternehmerverband ist immer dafür, möglichst viele ausländische Arbeitskräfte hereinzulassen. Um Löhne zu drücken!
Warum schaffen die Rechten etwas, was Linken nicht gelungen ist, nämlich etablierte Parteien vor sich herzutreiben, den öffentlichen Diskurs zu bestimmen?
Man kann das am besten in Frankreich beobachten. Dort ist der Parti Socialiste inzwischen marginalisiert. Weil er, wie alle traditionellen europäischen Arbeiterparteien, die Seiten gewechselt hat. Und der Front National versprach: Wir schützen euch vor den Gefährdungen der Globalisierung. Das ist das große Problem! Jetzt können wir die Parallele zu Deutschland ziehen. Die SPD war jahrzehntelang der Ansprechpartner der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – hat aber seit Schröder die Seite gewechselt.
Martin Schulz’ Steuerkonzept sieht so aus: Entlastung für die Mitte, moderate Erhöhung für die Wohlhabenden, eine Reichensteuer. Klingt gut, oder?
Das klingt gut, ist aber nur ein Schrittchen in die richtige Richtung. Das reicht noch nicht, wenn man wirklich etwas verändern will. Vor der letzten Wahl haben die Sozis erzählt, sie wollten die Vermögenssteuer einführen. Gabriel hat später gesagt, dass das nicht so gemeint gewesen wäre. Sie haben ein Erbschaftssteuergesetz mit verabschiedet, bei dem man Milliarden-Vermögen praktisch ohne Besteuerung weitergeben kann.
Also Umverteilung von Milliarden?
Kein Mensch kann so viel arbeiten, dass er ein Milliarden-Vermögen anhäuft. Das ist immer „geraubtes“ Vermögen! Umverteilung ist ein völliges falsches Wort! Es muss heißen: Rückverteilung.
Martin Schulz halten Sie also nicht für einen linken Sozialdemokraten?
Den Anspruch hat er selbst nicht. Die ganze Partei ist Schritt für Schritt nach rechts gerückt.
Er ist mit dem Begriff „Respekt“ angetreten. Die Leute waren begeistert, denn das wollten sie von einem Sozialdemokraten hören.
Das war gut! Nur hat Schulz nicht geliefert. Was heißt denn Respekt? Was muss denn ein Rentner fühlen, der sagt, ich habe ein Leben lang gearbeitet und bekomme 800 Euro Rente? Der hat nicht das Gefühl, dass ihm Respekt entgegengebracht wird. Schulz hätte sagen müssen: „Rentenformel ändern, Kürzungen zurücknehmen.“ Dasselbe gilt für den Niedriglohnsektor. Wie fühlt sich jemand, der morgens aufstehen muss, richtig malocht und am Ende 1.000 Euro rausbekommt? Der hat einen Mindestlohn und kommt später kaum über die Mindestsicherung. Das ist Verweigerung von Respekt!
Sie haben gesagt, Rot-Rot-Grün hätte schon tolle Sachen machen können. Es gab die Mehrheit im Bundestag. Woran scheiterte es?
Also, die Grünen wären wendig genug, bei solchen Entscheidungen vor der Bundestagswahl mitzustimmen. Das große Problem ist die SPD. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass ich mit Schulz und Gabriel gesprochen habe und beiden vorgeschlagen habe, diese Reformen im Bundestag vor der Bundestagswahl durchzuziehen. Deren größtes Problem aber war fehlende Glaubwürdigkeit. Die müssten irgendetwas machen, damit die Leute ihnen wieder abnehmen, dass sie es ernst meinen. Sie wollten aber nicht.
Vielleicht wollten sie aus Glaubwürdigkeit die Koalition mit der CDU nicht aufgeben?
Na gut, aber die CDU hatte offensichtlich kein Problem, bei der Teilzeitarbeit den Koalitionsvertrag einfach beiseite zu fegen. Wieso ist die SPD so hasenfüßig? Und es war doch sowieso vorbei, man hätte innerhalb von zwei Wochen Gesetze verabschieden können, die einen richtigen Aufbruch in Deutschland bedeutet hätten.
Funktioniert Politik so? Sagen Sie das jetzt als Spieler, als Zyniker?
Ich sage das als jemand, der jahrzehntelang Wahlkämpfe geführt hat und sich immer Gedanken gemacht hat, wie man zum Wahlerfolg kommt. Die SPD hat seit zwei Jahrzehnten den Stempel, dass sie vor den Wahlen sozial ist und nach den Wahlen nicht mehr. Den muss sie wegbekommen. Das geht nur mit glaubwürdigem Handeln. Und selbst wenn sie die Treue zu Merkel aufgegeben hätte – ja, mein Gott! Die SPD müsste doch mal treu sein zu ihren Wählerinnen und Wählern, den Arbeitnehmern und Rentnern. Für mich ist diese Koalitionstreue bis zum letzten Tag apolitisch!
Sagen Sie das jetzt nur, um Ihren alten Genossen eins über die Rübe zu hauen?
Nein. Das wäre der einzige Weg, um aus dieser Stimmungslage herauszukommen. Eine simple Rechnung lehrt, dass Rot-Rot-Grün nur eine Chance hätte, wenn die SPD über 30 Prozent kommt. Das geht aber nicht mit Schröder-Politik. Es ist absurd! Die SPD hat die Hälfte ihrer Wählerinnen und Wähler und auch ihrer Mitglieder verloren und will nicht dazulernen!
Wieso ist das so?
Ich weiß es nicht.
Das kann nicht sein! Wenn Sie das nicht wissen, wer soll das sonst erklären können?
Ich verstehe wirklich nicht, wieso man immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand rennt. Ich kann nur Erklärungsansätze liefern: Die sind so tief im neoliberalen Denken gefangen, dass sie den Ausweg nicht mehr finden.
Habe ich Sie jetzt provoziert?
Ach Quatsch. Ich bin überzeugt, die können gar nicht mehr sozialdemokratisch denken! Die sind immer weiter nach rechts gerückt.
Meinen Sie das ernst?
Rechts im klassischen Sinne. Helmut Schmidt, früher mal der Sprecher des rechten Flügels, war ja nachher in der SPD links außen mit seinen Positionen zu Afghanistan oder zum Jugoslawien-Krieg. Die jetzige Führung der SPD hat die ganze verfehlte Europapolitik Merkels mitgetragen. Am schlimmsten ist, dass sie das Erbe meines politischen Ziehvaters Willy Brandt verraten haben. Jetzt stehen deutsche Soldaten an den Grenzen Russlands. Ich kann mir gar nicht ausmalen, was Willy Brandt sagen würde, sähe er, wie seine Ost-Entspannungspolitik entsorgt wurde. Mit Hilfe der SPD!
Denken Sie, Willy Brandt wäre heute in der Linkspartei?
Seine Maxime, dass von deutschen Boden kein Krieg mehr ausgehen soll, wird heute von keiner anderen Partei vertreten. Sein massives Eintreten für Frieden und Ausgleich mit Russland, damals Sowjetunion, wird heute ebenfalls von keiner anderen Partei vertreten. In welcher anderen Partei sollte sich der Friedensnobelpreisträger und Entspannungspolitiker Willy Brandt engagieren?