Glaubensfragen 2017: Das religiöse Motiv des Abendmahls ist noch erkennbar, doch die Tafelrunde hat andere Sorgen und sieht die Tradition kritisch - istockphoto/kingmatz1980 |
Gott und das schöne, schreckliche Leben
Vor fünf Jahren gründete sich die »Gesellschaft für eine Glaubensreform«. Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden Klaus-Peter Jörns über die wachsende Kluft zwischen kirchlicher Lehre und heutigen Glaubenswelten
Publik-Forum: Herr Professor Jörns, warum braucht es eine eigene Gesellschaft für Glaubensreformen?
Klaus-Peter Jörns: Die Kirchen haben viele Strukturreformen durchgeführt. Aber was den Inhalt des Glaubens angeht, verweigern sie Reformen, weil das Dogma von der Bibel als Gottes Wort sie daran hindert. So kommt es auch, dass in Gottesdienst und Theologie immer noch Bildprogramme aus dem Großkönigsmilieu verwendet werden (Gott als »Herr« und »König« mit »himmlischen Heerscharen« und so weiter). Doch angesichts des Bildungswissens über den Menschen ist es absurd, die Wahrheit über das Leben einzig in der Bibel finden zu wollen. Immer mehr Kirchenmitglieder treten aus, weil das nicht ihre Welt ist. Oder sie verändern frei die Gestalt ihres Glaubens. Dazu können sie die Hilfe der Gesellschaft für eine Glaubensreform (GfGR) nutzen, in der Nichttheologen, Theologinnen und Theologen ohne Denkverbote nach einem heute glaubwürdigen Christentum suchen.
Was ist das Ziel Ihrer Gesellschaft?
Jörns: Die GfGR will Menschen helfen, Gott in eigenen Erfahrungen wahrzunehmen sowie uns selbst, Erde und Kosmos als Teile eines großen Ganzen zu begreifen. Da die kulturelle Evolution weitergeht, müssen Religionen sich mit verändern. Es bedarf »notwendiger Abschiede« und »Updates für den Glauben«. Wir dürfen die Bibel nicht als Belegstellensammlung für eine stillgestellte Dogmatik missbrauchen. Schaut man mittels der historisch-kritischen Forschung ihre spannende(n) Entstehungsgeschichte(n) an, macht sie selbst Mut zu Neuansätzen. Denn sie ist das literarische Endprodukt jahrhundertelanger theologischer Umarbeitungen von älteren Erfahrungen – und zwar auch aus anderen Religionen.
Mit welchen Themen setzen Sie sich inhaltlich auseinander?
Jörns: Evolution und Menschenbild; Gott – Person oder Kraft; Korrektur des Jesus-Bildes; Probleme einer Kinderbibel; Beten heute; Ökumene der Religionen und vieles mehr. Am Anfang stand die Ablehnung der Erlösungstheologie, nach der Jesus von Nazareth am Kreuz stellvertretend als Sühnopfer für »unsere Sünden« gestorben sei. Wir glauben nicht, dass unser unvollkommenes Menschsein todeswürdig wäre. Wir folgen Jesus, der erkannt hat, dass wir Hilfe brauchen, um das schwere Leben bestehen zu können. Und die evolutionäre Anthropologie lehrt uns, dass wir aus unserer tierlich-wilden Herkunft eine leicht entflammbare Neigung haben, unsere Interessen mittels Gewalt durchzusetzen. Diese Neigung in Schach zu halten gelingt nur durch die Stärkung der Kooperation, also durch Nächstenliebe.
Ist die Sühnopfer-Lehre noch von Bedeutung?
Jörns: Traurigerweise hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) mit ihrem Text »Für uns gestorben« (2015) unter Berufung auf frühe Sühneriten und Paulus wieder versucht, Gottes Vergebung von dem als Sühne gedeuteten Tod Jesu abhängig zu machen. Wir aber sehen das Christliche wesentlich geprägt durch Jesu Leben und seine Botschaft der unbedingten und unbegrenzten Liebe Gottes zum Leben. Aus ihr allein und nicht aus einem Blutvergießen nehmen Gottes und unsere Vergebung ihre Kraft. Da setzt die Revolution Jesu an.
Sollten Christen auf den Begriff »Sünde« ganz verzichten?
Jörns: Ich denke, ja. Denn »Sünde« verbindet Schuld immer mit dem, was Paulus die Feindschaft gegen Gott nennt. Nur in einer Theokratie hätte es Sinn, jede Schuld als Ausdruck von Feindschaft gegen den Gesetzgeber Gott zu bezeichnen. Außerdem bemühen sich die meisten Menschen, ein rechtschaffenes Leben zu führen. Das muss man würdigen und bestärken.
Wofür brauchen wir überhaupt Gott?
Jörns: Ich bin fasziniert von dem unglaublichen Zusammenspiel aller Elemente des Lebens und dankbar, daran teilzuhaben. Es ist ein glückliches, aber auch erschrecktes Staunen. Denn alles Leben wird auf Kosten anderen Lebens gelebt. Selbst die Erkenntnis, dass das Leben ein großer Transformationsprozess ist, in dem auch das zum Essen getötete Leben nicht verloren geht, sondern zu neuer Lebensenergie wird, tröstet mich nicht über das Töten hinweg. Aber dass es Leben überhaupt gibt, ist das größte Geheimnis. Albert Schweitzer hat das Dilemma, das sich damit verbindet, treffend formuliert: »Ich bin Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will.«
Das würde bedeuten, dass es Erlösung weder gibt noch braucht.
Jörns: Nur in dem Sinn braucht es Erlösung, dass man von sich selbst als gefühltem Zentrum der Welt wegkommt. Es geht darum, die Empathie mit dem Leben zu lernen. Das Leben ist ein Ganzes, und Gott entfaltet sich in der Evolution. Unbegreiflich bleibt, dass das Leben so schön und schrecklich ist, wie es ist.
Nach dem Sinn darf man nicht fragen?
Jörns: Einen für alle und alles zutreffenden Sinn im Leben gibt es nicht. Sinn ist entsprechend unseren Wahrnehmungsmöglichkeiten immer etwas perspektivisch Begrenztes. Als Geist und Liebe schafft, erhält und wandelt Gott das vielfältige Beziehungssystem, in dem wir leben und in dem »Sinn« millionenfach variiert.
Ein Atheist würde das Leben vielleicht ähnlich beschreiben, nur Gott weglassen.
Jörns: Denkbar. Für mich hat der Gottesglaube etwas Einleuchtendes: Das Leben ist aus einer unglaublichen Verdichtung von Quanteninformation entstanden und hat sich entfaltet in einem immer differenzierter werdenden Beziehungssystem. Dass dies alles Zufall gewesen sein soll, mag ich nicht denken. Diese Vorstellung ist mir zu kalt. Denn ich weiß aus Erfahrung: Geist hellt das Gemüt auf, und Liebe wärmt das Herz. Das ist und hat Sinn.
Viele Theologen halten an der Personalität Gottes fest, weil sie den Gedanken der Gerechtigkeit nicht aufgeben wollen. Das »Letzte Gericht« ist ein Hoffnungsbild für Opfer, dass Mörder am Ende nicht triumphieren.
Jörns: Die Personalität Gottes ist ein Produkt unserer Wahrnehmungsmuster, die sich an unserem Selbstbild orientieren. Übertrügen wir unser Selbstbild auf Gott, müssten wir von einer Menschenebenbildlichkeit Gottes reden. Aus meiner Sicht gibt es kein Weiterleben von Personalität, weil die ja mit der irdischen Existenz und ihrer Leiblichkeit zusammengehört. Meine Hoffnung ist eine andere: Alles, was in einem Leben gedacht, geglaubt, gehofft und geliebt wird, ist Energie, und Energie geht im Kosmos nicht verloren. Jeder Mensch wirkt durch diese geistigen Kräfte evolutiv-schöpferisch, über seinen Tod hinaus. Ich glaube, dass sich alle Potenzen von Geist und Liebe, die wir in dieses Leben hineingeben, nach allen Toden miteinander verbinden und neue Lebensgestalten schaffen. Aber es gibt keine Hoffnung auf eine wie auch immer gedachte Gerechtigkeit bei Gott, die etwas Furchtbares »wieder gut« machte. Die einzige Kraft, die mit erlittenem Unrecht leben lässt, ist die Vergebung. Sie kann selbst IS-Terroristen, die zum Morden radikalisiert worden sind, zugestehen, was Jesus seinen Kreuzigern zugestanden hat: »Vater, vergib ihnen. Denn sie wissen nicht, was sie tun« (Lukas 23, 34).
Ein Trost für Hinterbliebene ist das nicht.
Jörns: Kein Trost – und keine Todesstrafe – kann rückgängig machen, was geschehen ist. Gerechtigkeit in diesem Sinn gibt es auch bei Gott nicht. Aber den Schrei der Verlassenheit und den Schrei, der die Gottesbilder verflucht, die uns vorgaukeln, Gott werde das Böse nicht zulassen, kann und muss es geben. Nur wenn das herausgeschrien werden kann, wird es irgendwann in der Seele Frieden geben, der uns vor einem lebenslangen Trauma bewahrt.
Ist für Sie Theologie letzten Endes eine Wissenschaft vom Menschen?
Jörns: Theologie ist eine Wissenschaft, die menschliche Wahrnehmungen vom Leben mithilfe der Arbeitshypothese »Gott« (Bonhoeffer) deutet und einlädt zu glauben, dass unser individuelles Leben im Lebensganzen auf-, aber nicht verloren geht.
Hat Gottes Selbstentfaltung ein Ziel?
Jörns: Darin, dass sich Lebensgestalten bilden, die zum Frieden fähig sind. Einen Namen dafür gibt es noch nicht, so sehr ich in der Gestalt Jesu und anderer »Friedensstifter« Wegweiser zum Ziel sehe.
Wird das, was in der GfGR diskutiert und veröffentlicht wird, in der akademischen Theologie und in den Kirchen zur Kenntnis genommen?
Jörns: Die akademische Theologie ist ein System, das mit der kirchlichen Theologie durch Bekenntnisbindung und Prüfungsordnungen verschränkt ist. Glaubensreformerische Impulse gehen von ihr nur selten aus. Wohl aber reagieren die Kirchen gelegentlich direkt oder indirekt auf Reform-Schriften, wie etwa von Burkhard Müller, Hubertus Halbfas, Matthias Kroeger, mir und anderen. Interview: Hartmut Meesmann und Michael Schrom
Klaus-Peter Jörns, geboren 1939, war evangelischer Gemeindepfarrer und lehrte seit 1981 Praktische Theologie und Religionssoziologie in Berlin. Weitere Informationen zur Gesellschaft: www.klaus-peter-joerns.de, www.glaubensreform.de. Vom 17.-19. November findet die Jahrestagung in Arnoldshain statt.
aus: Publik-Forum 17/2017 - S. 32/33